Mit Gedichten arbeiten: Vergleichen

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Warum und wie
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Oft ist die unterrichtliche Begegnung mit einem einzelnen Gedicht wenig inspirierend. Es fehlen dann die Zusammenhänge, die Vergleichsmöglichkeiten. Nehmen wir ein Herbst-Gedicht. Es mag ja durchaus voller Sinn- und Stimmungsangebote sein, aber  darüber sinnvoll zu sprechen, das ist nicht jedem und zu jeder Zeit gegeben. Worauf soll ich dieses Gedicht beziehen, die Herbststimmung, die Bildhaftigkeit, die Struktur? Woher beziehe ich noch andere Herbstbilder, andere Herbststimmungen, andere Gestaltungsmittel, damit ich mich dazu äußern kann? Und zu was und wozu eigentlich.

Da flüchtet mancher sich gerne in Formales: Das Gedicht xy hat so und so viele Strophen und einen xyz-Reim oder auch nicht und handelt von diesem und jenem, vielleicht.

Haben wir aber schon zwei Gedichte vorliegen und gehört, so stellt sich sogleich die Frage, welches einem besser gefällt. Und daraus folgt die Überlegung: Warum eigentlich? Und schließlich der Versuch, für seine Meinung Gründe zu finden.

Sind dann sogar drei Gedichte im Angebot, so steigt die Wahrscheinlichkeit weiter, dass jeder sich in irgendeiner Weise dazu äußern kann und meistens auch will. Das ist dann noch keine Analyse und keine Interpretation, aber es ist eine offene Annäherung und produktive Beschäftigung mit Lyrik. Statt dem Herausklauben von Textmerkmalen könnte sich ein literarisches Gespräch entwickeln.

Die Frage: „Welches Gedicht gefällt euch am besten?“ gibt Schülern das Recht, eine mehr oder weniger spontane Bewertung vorzunehmen, die dann erst im zweiten Schritt durch Überlegungen gestützt werden kann. Der umgekehrte Weg: Erst einmal gründlich untersuchen und dann ein ausgewogenes Urteil abgeben, ist weder kommunikativ noch produktiv.

Gleiche Thematik:

Nehmen wir dazu nicht Frühling-, Sommer- oder Herbstgedichte, sondern:

Tiere

Gedichte über Tiere
  • R.M.Rilke: Der Panther
  • Stefan George: Meine weißen Aras
  • Joachim Ringelnatz: Im Park
  • Linus Kefer: Lautlos

Überlege
  • Welches Gedicht gefällt dir am besten?
  • Welches Tier ist das interessanteste?
  • Erstelle eine Wertigkeits-Reihenfolge und überlege Gründe dafür.
  • Trage diese dann in deinem Gesprächskreis vor und höre dir die Rankings der anderen an.

Downlaod

Ein Text- und Arbeitsblatt als pdf zum Herunterladen: Vier Tiergedichte.

Bäume

O Tannenbaum
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
Wie schön sind deine Blätter.
Du grünst nicht nur zur Sommerszeit,
Nein, auch im Winter, wenn es schneit.

O Tannenbaum, o Tannenbaum,
Dein Kleid will mich was lehren:
Die Hoffnung und Beständigkeit
Gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit.
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
Dein Kleid will mich was lehren.

A. Zarnack & E. Anschütz 1824

Bertolt Brecht (1898 - 1956)

Der Pflaumenbaum
Im Hofe steht ein Pflaumenbaum
Der ist klein, man glaubt es kaum,
Er hat ein Gitter drum,
So tritt ihn keiner um.

Der Kleine kann nicht größer wer'n,
Ja, größer wer'n, das möcht er gern.
S'ist keine Red davon, er hat zu wenig Sonn.

Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum,
Weil er nie eine Pflaume hat.
Doch er ist ein Pflaumenbaum,
Man kennt es an dem Blatt.

aus: „Svendborger Gedichte“ (1939), gehört dort zu den Kinderliedern

Wilhelm Müller (1794 - 1827)

Der Lindenbaum
Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum.
Ich träumt in seinem Schatten
Gar manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde
So manches liebe Wort.
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.

Ich mußt auch heute wandern
vorbei in tiefer Nacht
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.

Und seine Zweige rauschten
als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir Geselle,
Hier find'st du deine Ruh!

Die kalten Winde bliesen
mir grad ins Angesicht.
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich  nicht.

Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von diesem Ort,
Und immer hör' ich's rauschen.
Du fändest Ruhe dort.

Erstes Gedicht aus dem Zyklus Die Winterreise, veröffentlicht 1824

Überlege
  • Tannenbaum, Pflaumenbaum, Lindenbaum: Was wollen sie uns lehren?
  • Was können uns Bäume noch bedeuten?
  • Welches ist das beste, schönste, berührendste Gedicht und warum?

Ein Gedicht: Zwei Fassungen

Hermann Hesse: Knarren eines geknickten Astes (August 1962)

Erste Fassung

Geknickter Ast, an Splittersträngen 
Noch schaukelnd, ohne Laub noch Rinde, 
Ich seh ihn Jahr um Jahr so hängen, 
Sein Knarren klagt bei jedem Winde.

So knarrt und klagt es in den Knochen 
Von Menschen, die zu lang gelebt, 
Man ist geknickt, noch nicht gebrochen, 
Man knarrt, sobald ein Windhauch bebt.

Ich lausche deinem Liede lange, 
Dem fasrig trocknen, alter Ast, 
Verdrossen klingts und etwas bange, 
Was du gleich mir zu knarren hast.

Dritte Fassung


Splittrig geknickter Ast,
Hangend schon Jahr um Jahr,
Trocken knarrt er im Wind sein Lied,
Ohne Laub, ohne Rinde,
Kahl, fahl, zu langen Lebens,
Zu langen Sterbens müd.
Hart klingt und zäh sein Gesang,
Klingt trotzig, klingt heimlich bang
Noch einen Sommer,
Noch einen Winter lang.

aus: Hermann Hesse, Gesamtausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt, Bd. 1 S.154/5

Überlege
  • Dichter arbeiten oft lange an Gedichten, auch an kurzen. Manchmal liegen Jahre zwischen einem frühen Entwurf und der endgültigen Gestalt.
  • An diesem Gedicht arbeitete Hermann Hesse lediglich einen Monat, aber es hat sich viel verändert! Arbeite mit Unterstreichungen heraus, was übrig blieb.
  • Welche Gedanken mögen den Autor beim Überarbeiten bewegt haben? Beurteile das Ergebnis?

Epochenvergleich: Abendstimmungen

Andreas Gryphius (1616-1664)

Abend

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk; wo Tier’ und Vögel waren,
Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!

Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
Ich, du, und was man hat und was man sieht, hinfahren.
Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn.

Laß, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten,
Laß mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten,
Dein ewig heller Glanz sei vor und neben mir!

Laß, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen,
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir.

Erstmals 1650 in Frankfurt am Main in der Sonettsammlung „Das Ander Buch“ publiziert (→ Wikipedia)

Paul Zech (1881 - 1946)

Im Dämmer

Im schwarzen Spiegel der Kanäle zuckt
die bunte Lichterkette der Fabriken.
Die niedren Straßen sind bis zum Ersticken
mit Rauch geschwängert, den ein Windstoß niederduckt.

Ein Menschentrupp, vom Frondienst abgehärmt,
schwankt schweigsam durch die ärmlichen Kabinen,
indessen sich in den verqualmten Kantinen
die tolle Jugend fuselselig wärmt.

Noch einmal wirft der Drahtseilzug mit Kreischen
den Schlackenschutt hinunter in die flachen
Gelände, drin der Schwefelsumpf erlischt.

Fern aber ragen schon vom Dampf umzischt
des Walzwerks zwiegespaltne Rachen
und harren des Winks, den Himmel zu zerfleischen.

Veröffentlicht November 1911 in der Zeitschrift „Der Sturm" (→ norberto42)

Überlege
  • Barock und Expressionismus, 360 Jahre liegen dazwischen: Immer geht ein Tag zu Ende und Menschen gehen müde von der Arbeit nach Hause. Und dennoch ist nichts gleich geblieben, alles scheint sich verändert zu haben. Oder?
  • Was teilen uns diese beiden Sonette über die Lebenswelten der Menschen mit, was erfahren wir über Gott und die Welt?
  • Wie geht es Dir beim Lesen dieser Gedichte?


Siehe auch