Paradiesische Aussichten

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KJL

Faiza Guène: Paradiesische Aussichten

Aus dem Französischen von Anja Nattefort, 144 Seiten ab 14 Jahren ISBN 978-3-551-58154-9 Carlsen Verlag 2006, 12 Euro (gebunden) - broschiert Ullstein TB ISBN 978-3548263496, 8 Euro. Franz. Originaltitel: kiffe kiffe demain

Worum geht's

Aus dem Klappentext:

Mit viel Humor blickt die 15-jährige Doria auf ihr Leben. Und das ist eigentlich alles andere als lustig. Zusammen mit ihrer analphabetischen Mutter lebt sie in einer tristen Pariser Vorstadtsiedlung. Der Vater ist mit einer jüngeren Frau nach Marokko abgehauen. Seitdem beschränken sich Dorias Shopping-Ausflüge auf die Altkleiderkammer. Und einmal die Woche geht sie zu einer Therapeutin, die sie nicht versteht, aber nett ist. Nett ist auch Hamoudi, den Doria heimlich verehrt ...

Aus der Jurybegründung für die Nominierung zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2007:

"Während uns die medialen Bilder der brennenden Autos und der eingeworfenen Schaufensterscheiben aus Frankreich noch deutlich im Gedächtnis sind, liefert Guènes Text den Bodensatz hierzu. In der meisterlichen und zeitgemäßen Übersetzung von Anja Nattefort zeigt das Buch das beeindruckende Porträt einer Generation." (www.djlp.jugendliteratur.org)

Heldin und Ich-Erzählerin dieser Geschichte von gerade mal 140 Seiten ist Doria, ein 15-jähriges Mädchen marokkanischer Abstammung, die mit ihrer Mutter zusammen in einem Sozialbau der Pariser Banlieue lebt, jener Vorstädte, die von nordafrikanischen Migranten bewohnt werden und in denen es in Abständen zu gewaltsamen Unruhen kommt. Davon ist aber weniger die Rede, vielmehr vom Alltag, von der Nachbarschaft, von der Schule und von der Armut im diesem Zwei-Personen-Haushalt. Der Vater ist nach Marokko zurückgekehrt, um noch einmal zu heiraten, da ihm eine Tochter nicht genügt, und zu diesem Vater und zu dessen patriarchachlich-religiös-altertümlichen Weltbild hat Doria eine klar Meinung: Sie verachtet ihn dafür. Umso mehr bewundert sie ihre Mutter, die Analphabetin, die sich als Zimmermädchen durchschlägt und sich ausbeuten und schließlich auch noch kündigen lässt, obwohl sie an dem Streik ihrer Kolleginnen nicht teilgenommen hat. Damit aber ist ein Wendepunkt in der Geschichte erreicht: Die Mutter besucht von nun ein eine Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen und entdeckt dabei sich und ihren Wert neu. Ähnlich geht es auch Doria. Sie muss ihre Schule wegen schlechter Leistungen verlassen, geht dafür aber in eine beruflich orientierte Schule für Friseurinnen über, wo sie beginnt, sich besser zurechtzufinden. Insofern ist der Titel der Geschichte stimmig: Es eröffnen sich paradiesische Aussichten, allerdings auf bescheidenster Ebene, aber es geht voran. Die Aussichten aus dem Fenster der Sozialwohnung sind dagegen weiterhin trist, aber es kommt ja bekanntlich auf die innere Haltung an. Selbst eine zarte Liebesgeschichte deutet sich an und auch in der engeren Nachbarschaft entwickelt sich einiges zum Positiven.

Doria schildert ihre Welt in einem ziemlich schnoddrigen und (t)rotzigen Ton,so dass der Leser leicht in Gefahr geraten kann, die positiven Dinge zu übersehen. Diese sind z.B. auch die sozialen Leistungen, die in diesem Viertel staatlicherseits aufgebracht werden. Doria hält sie zwar alle für hässlich und blöde, ahnungslos und arrogant, dennoch wird sie wöchentlich von einer Therapeutin besucht, eine Sozialarbeiterin kommt regelmäßig vorbei, die alleinerziehende Mutter bezieht Sozialleistungen und bekommt nach ihrer Entlassung als Zimmermädchen die Schule und den Lebensunterhalt bezahlt.

Der Leser und die Leserin sollten also auch hinter diese Ich-Perspektive und deren jugendlich-schnoddrig-abwertenden Ton schauen können, um zu erkennen, dass der Titel "Paradiesischen Aussichten" keine reine Ironie oder gar Zynismus ist.

Die Erzählung vermittelt also auf unterhaltsame Weise gute Einsichten in die islamisch-nordafrikanisch geprägte Migrantenwelt. Ein zweiter Grund für die Wahl dieser Lektüre könnte sein, dass hier von Frankreich erzählt wird und es dadurch leichter ist, auch für deutsche Schüler mit Migrationshintergrund eine relativ unbetroffene Außenperspektive beizubehalten und dennoch genug Anlass zur kritischen Reflexion deutscher Verhältnisse zu finden. Ein dritter Grund für die Wahl könnte sein, die Biografie der jungen Autorin mit einzubeziehen, dafür bietet die Ausgabe des Schroedel-Verlages mit ihrem umfangreichen Anhang gutes Material.

Aber: Die Geschichte ist nicht wirklich spannend. Es handelt sich eher um einen Bilderbogen, der in kleinen Beobachtungen und Episoden die Entwicklung der Ich-Erzählerin und die Veränderungen in ihrer Welt aufzeigt.

-- Klaus Dautel)

Stimmen

Leseprobe
„Letzte Woche hatten wir wieder Besuch von Madame Dingsbums, der Sozialarbeiterin. Diese Frau hat echt null Feingefühl. Kaum hatte Mama ihr die Tür geöffnet, zischte sie schon durch ihre weißen, geraden Zähne:
»Oje, Sie sehen ja gar nicht gut aus!«“
Sie bildet sich sonst was ein, nur weil sie gerade den Gutschein über zwölf Solariumsbesuche verbraten hat, den ihr das Beauty- und Wellnessinstitut »Schöne Fresse« als Treueprämie geschenkt hat. Und dann drehte sie auch noch mindestens zehn Runden durch die ganze Wohnung, als würde sie die Katakomben besichtigen.
»Der Wasserhahn in der Küche braucht dringend eine neue Dichtung.«
Sie sagte das mit der herablassenden Art, die sie manchmal an den Tag legt. Ich frage mich, ob sie sich diesen Beruf ausgesucht hat, weil ihr das Elend anderer Leute ein Gefühl von Sicherheit gibt. ..."
Faiza Guène "... fokussiert ihren Blick auf die Lebenswirklichkeit einer marokkanischen Immigrantenfamilie. Wie „short cuts“ erscheinen die kurzen Kapitel, in denen die Ich-Erzählerin ihren Mikrokosmos kartografiert. Die heranwachsende Heldin besticht nicht allein durch ihre lakonisch-ironischen Kommentare, sondern auch durch den punktgenauen Blick auf die sozialen Lebensumstände.
Während uns die medialen Bilder der brennenden Autos und der eingeworfenen Schaufensterscheiben aus Frankreich noch deutlich im Gedächtnis sind, liefert Guènes Text den Bodensatz hierzu. In der meisterlichen und zeitgemäßen Übersetzung von Anja Nattefort zeigt das Buch das beeindrukkende Porträt einer Generation." (www.djlp.jugendliteratur.org)
"Wer glaubt, mit „Paradiesische Aussichten“ ein typisches ,Jugendbuch‘, gar ein ,Mädchen-‘ oder ,Problembuch‘ in der Hand zu halten, irrt. Faïza Guènes Roman ist eine Milieustudie der Pariser Vorstadt, eine kritische Auseinandersetzung mit den ,Dornen des Koran‘ und eine Geschichte über die erste Liebe – aber er ist vor allem eine wunderbare Erzählung des Alltags. Gerade weil dieser Alltag den meisten Lesern des Buches nicht vertraut sein wird, gibt es darin vieles zu entdecken. Mit den Augen der Protagonistin, die sich einen unverstellten Blick auf ihre Umgebung bewahrt hat, sieht man in die Gesichter der Vorstadt." ("Lesebar" - Internet-Rezensionszeitschrift für Kinder- und Jugendliteratur der ALEKI)
"Besonders gelungen sei die Entwicklung der "kratzbürstig motzenden" Heldin Doria zu einer jungen Frau "mit eigenen Persönlichkeitsansätzen" ..."

Unterrichtsmaterial

Über die Autorin

„wurde 1985 als Tochter algerischer Einwanderer in Bobigny bei Paris geboren und wuchs im Pariser Vorort Courtillières auf. Bereits als Jugendliche begann sie zu schreiben und sammelte in Schreibwerkstätten erste schriftstellerische Erfahrungen. Ein Betreuer erkannte das Talent der damals Dreizehnjährigen und ermunterte sie dazu, weiter zu schreiben. 2004 gab Guène mit »Kiffe kiffe demain« (dt. »Paradiesische Aussichten«, 2006) ihr fulminantes Debüt, und heute gehört sie zu den neuen jungen Stimmen der französischen Literatur. Der Roman, der weltweit für Aufmerksamkeit sorgte, verkaufte sich in Frankreich über 100.000 Mal und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. ...“ (Zu Gast beim Internationalen Literaturfestival Berlin 2007)
"Wie im Zoo" fühlt sich Faïza Guène, wenn Journalisten in ihr Viertel kommen. Sie für das Foto vor eine Betonwand stellen - "natürlich neben ein Graffiti". Sie als "Französin algerischer Herkunft" beschreiben. Die Sozialwohnung ihrer Familie sehen wollen. Und sie fragen: "Hast du sehr viele Geschwister?" Wobei die Betonung auf "sehr" liegt.
"Niemand würde einen weißen Schriftsteller in Paris nach der Herkunft der Eltern oder seiner Religion fragen", sagt die 21-Jährige. Die junge Autorin hat gerade ihren zweiten Roman veröffentlicht. Pocht auf ihre republikanische Gleichheit. Findet den sozialen Unterschied wichtiger als den Einwanderungshintergrund: "Ich bin ein Kind von Arbeitern." Sie spricht im kollektiven Wir der Banlieue. Und nutzt ihre Berühmtheit, um alle möglichen Klischees zurechtzurücken.
Ein Jahr nach dem 27. Oktober 2005, als drei Jungen in Clichy-sous-Bois in der östlichen Banlieue von Paris vor der Polizei in ein elektrisches Umschalthäuschen flohen, wo zwei von ihnen zu Tode kamen, sagt Faïza Guène lakonisch: "Ausgangspunkt war ein Fehler der Polizei. So was passiert ständig." Sie kann verstehen, dass schon wenige Stunden danach - und dann drei ganze Wochen lang jede Nacht - Jungen in französischen Banlieues wüteten. ..."
aus Paris Dorothea Hahn für die TAZ vom 23.10.2006

Siehe auch