Soziale Frage/Sozialistengesetze
Der Staat verhielt sich zunächst als Nachtwächterstaat und unterstützte durch ein Streikverbot die Arbeitgeber. Das Streben der Sozialdemokraten nach sozialer Gleichberechtigung und internationaler Interessenorganisation der Arbeiterschaft entsprachen nicht Bismarcks Vorstellungen von Staat und von der Gesellschaft. Gründe für seine negative Einstellung gegenüber den Sozialdemokraten lagen in
- der Opposition der Sozialdemokraten gegen den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71.
- der Solidarität der Sozialdemokraten mit der Pariser Kommune 1871
- zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. von vermutlichen Sozialdemokraten
- Erarbeite aus beiden Quellen die Maßnahmen, mit denen man seitens des Staates gegen die Sozialdemokraten vorging!
- Wie bewertet August Bebel das Vorgehen von staatlicher Seite?
- Welche Auswirkungen hatten die Sozialistengesetze für die Arbeiterbewegung?
M1 Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (Sozialistengesetze, 18.Oktober 1878)
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc.
verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstags, was folgt:
§. 1.
- Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.
- Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten.
§. 9.
- Versammlungen, in denen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zu Tage treten, sind aufzulösen.
- Versammlungen, von denen durch Thatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie zur Förderung der im ersten Absatze bezeichneten Bestrebungen bestimmt sind, sind zu verbieten.
- Den Versammlungen werden öffentliche Festlichkeiten und Aufzüge gleichgestellt.
§. 11.
- Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdende Weise zu Tage treten, sind zu verbieten.
- Bei periodischen Druckschriften kann das Verbot sich auch auf das fernere Erscheinen erstrecken, sobald auf Grund dieses Gesetzes das Verbot einer einzelnen Nummer erfolgt.
Sozialistengesetz
M2 Rückblick August Bebels auf das Sozialistengesetz
„(...) Von den drei Jahren Herbst 1878 bis Herbst 1881 darf ich sagen, es waren die unangenehmsten, weil sorgenvollsten meines Lebens. Und Arbeit gab es auch im Übermaß. Vor allem galt es zunächst, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, die im ersten Sturm des Sozialistengesetzes in Deroute geratenen Massen wieder zu sammeln und ihnen das Rückgrat zu steifen. Es ist ebenfalls eine falsche Darstellung, als seien damals die Führer die Kopflosen gewesen und als hätten die Massen die Partei retten müssen. Massen und Führer sind aufeinander angewiesen, die einen können ohne die anderen nicht wirken. Wohl gab es unter den Führern (...) mehr Marodeure und Hasenfüße, als uns lieb war, doch die materielle Notlage der meisten entschuldigt vieles. Aber auch in den Massen, namentlich in den mittleren und kleinen Orten, herrschte vielfach Niedergeschlagenheit und Tatlosigkeit. Es bedurfte zahlreicher geheimer Zusammenkünfte und Versammlungen und energischer Agitation, um die mutlos gewordenen aufzurichten und zu erneuter Tätigkeit anzuspornen. Und das gelang ... Während wir so in voller Tätigkeit waren, aus den Trümmern, die das Sozialistengesetz und bis dahin geschaffen hatte, zu retten, was zu retten möglich war, wurden wir am 29. November mit der Nachricht überrascht, dass am Abend zuvor der Reichsanzeiger eine Proklamation des Ministeriums veröffentlichte, wonach der kleine Belagerungszustand über Berlin verhängt wurde. Dieser Hiobspost folgte am nächsten Tage die Mitteilung, dass 67 unserer bekanntesten Parteigenossen (...) ausgeiwesen worden seien. Enige mussten binnen 24 Stunden die Stadt (Anmerkung des Autors: Berlin) verlassen, die meisten anderen binnen 48 Stunden, einigen wenigen räumte man eine Frist von drei Tagen ein. Die Nachricht von der Verkündigung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin rief eine gewaltige Aufregung in Berlin und außerhalb hervor. Niemand konnte sich die Gründe einer solchen Gewaltmaßregel erklären, selbst die bürgerlichen Blätter bis weit nach rechts äußerten Bedenken (...)“
August Bebel, Aus meinem Leben, herausgegeben von Karl Kautsky, Stuttgart 1914