Reise-Lyrik

Aus ZUM-Unterrichten
DPAG 2010 33 Postkutsche

Dies ist ein Versuch, das weite Feld Reise-Lyrik thematisch und/oder motivisch zu ordnen.

Vorschläge für weitere Kategorien können gerne in die "Diskussion" (siehe oben rechts) eingebracht werden. Ebenso Hinweise auf andere Gedichte und nützliches Material im Internet.

Die Zitate geben die ersten Zeilen wieder, sie sollen einen Eindruck von Ton und Thematik vermitteln - und auch zu deren Auffindbarkeit (in Buch, Netz oder Gedächtnis) beitragen.

Gedichte von Aufbruch, Unterwegssein und Ankunft

Aufbruchstimmungen

Ludwig Tieck (1773 - 1853) : Wohlauf! es ruft der Sonnenschein (aus: Franz Sternbalds Wanderungen, 2. Buch 5. Kapitel)

Wohlauf! es ruft der Sonnenschein
Hinaus in Gottes freie Welt!
Geht munter in das Land hinein
und wandelt über Berg und Feld!

J.v.Eichendorff (1788 - 1857): Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne
am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
siehe auch: Die zwei Gesellen / Frische Fahrt / Der frohe Wandersmann (aus dem "Taugenichts")

Wilhelm Müller (1794 - 1824): Das Wandern (Aus "Die schöne Müllerin")

Das Wandern ist des Müllers Lust,
Das Wandern!
Das muß ein schlechter Müller sein,
Dem niemals fiel das Wandern ein,
Das Wandern.

Ludwig Uhland (1787 - 1862): Abreise (aus "Wanderlieder" 1811)

So hab ich nun die Stadt verlassen,
Wo ich gelebet lange Zeit;
Ich ziehe rüstig meiner Straßen,
Es gibt mir niemand das Geleit.

Unterwegs

Wilhelm Müller(1794 - 1824): Aus der "Winterreise": Gute Nacht

Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus ...
siehe auch: Der Lindenbaum / Der Leiermann

Eduard Mörike (1804 - 1875): Auf der Reise

Zwischen süßem Schmerz,
Zwischen dumpfem Wohlbehagen
Sitz ich nächtlich in dem Reisewagen,
Lasse mich so weit von dir, mein Herz,
Weit und immer weiter tragen.

Heinrich Heine (1797 - 1856): Lebensgruß („Buch der Lieder" Nr. XIX)

Eine große Landstraß ist unsere Erd,
Wir Menschen sind Passagiere;
Man rennet und man jaget, zu Fuß und zu Pferd,
Wie Läufer oder Kuriere.

B. Brecht (1898 - 1956): Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang,
Der Fahrer wechselt das Rad ....

Ankunft - Heimkehr

J.W.Goethe (1749 - 1832): Glückliche Fahrt

Die Nebel zerreißen,
Der Himmel ist helle,
und Äolus löset
das ängstliche Band.

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843): Die Heimat

Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom,
Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat;
So käm auch ich zur Heimat, hätt ich
Güter so viele, wie Leid, geerntet.

Heinrich Heine (1797 - 1856): Deutschland, ein Wintermärchen (Caput I)

Im traurigen Monat November war's
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
siehe hierzu H. Heines "Wintermärchen" (K. Dautel)

Theodor Fontane (1819-1898): John Maynard

„Wer ist John Maynard?"
​"John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn."

Bertolt Brecht (1898 - 1956): Rückkehr

Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?
Folgend den Bomberschwärmen
Komm ich nach Haus.

Hans Bender (1919 - 2015): Heimkehr

Im Rock des Feindes,
in zu großen Schuhen,
im Herbst,
auf blattgefleckten Wegen
gehst du heim.

Hilde Domin (1909-2006): Rückkehr

Meine Füße wunderten sich
dass neben ihnen Füße gingen
die sich wunderten.

Jenny Aloni (1917-1993): Nach der Ankunft in Israel

Das ist der Wind nicht mehr, der mich umstrichen,
nicht mehr der Sturm, der mich zu trösten wußte,
das ist nur noch sein Zerrbild, grau verblichen,
der Kern nicht mehr, nur noch die hohle Kruste.

Gedichte von Sehnsuchtsorten

Italien - Venedig

J.W.Goethe (1749-1832): Mignon (aus „Wilhelms Meisters Lehrjahre“)

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?

Isolde Kurz (1852 - 1944): Italien

Hingestreckt zwischen beiden Meeren
Liegst du und träumst in Mittagsruh’,
Götterliebling!
Und die Wellen singen ihr altes Lied,
Das weltenalte

C.F. Meyer (1825-1898): Auf dem Canal grande

Auf dem Canal grande betten
Tief sich ein die Abendschatten,
Hundert dunkle Gondeln gleiten
Als ein flüsterndes Geheimnis

R.M.Rilke (1875 – 1926): Spätherbst in Venedig

Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt.
Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick. ...

Hermann Hesse (1877 – 1962) Ankunft in Venedig

Du lautlos dunkler Kanal,
Verlassene Bucht,
Uralter Häuser graue Flucht,
Gotische Fenster und maurisch verziertes Portal!

Rose Ausländer (1901-1988): Mein Venedig

Venedig
meine Stadt
Ich fühle sie
von Welle zu Welle
von Brücke zu Brücke

Günter Kunert: Venedig II

Wald

Friedrich Schlegel (1772 - 1832): Im Spessart

Gegrüßt sei du, viellieber Wald!
es rührt mit wilder Lust,
Wenn abends fern das Alphorn schallt,
Erinnrung mir die Brust.

Mörike: Am Waldsaum

Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.

Hermann Hesse: Schwarzwald

Seltsam schöne Hügelfluchten,
Dunkle Berge, helle Matten,
Rote Felsen, braune Schluchten,
überflort von Tannenschatten!

Andere

Ralf Thenior: Gran Canaria

Nein ganz herrlich ganz
wunderbar also jeden Tag
Sonne und baden natürlich
auch jeden Tag schon also
fast jeden Tag ...
siehe zu Reiselyrik im Unterricht K.H. Spinner: Umgang mit Lyrik in S1, Schneider Verlag 2000 S.137ff

Gedichte von Fremde und Heimat

In der Fremde

Clemens Brentano (1778-1842): In der Fremde

Weit bin ich einhergezogen
Ueber Berg und über Thal
Und der treue Himmelsbogen
Er umgiebt mich überall.

Wilhelm Müller(1794 - 1824): Aus der "Winterreise": Gute Nacht

Fremd bin ich eingezogen,


:Fremd zieh ich wieder aus ... 
 Hilde Domin (1909 - 2006): Fremder

Ich falle durch jedes Netz,
wie ein Toter
falle ich durch die Netze hindurch.
Samenkorn ohne Erde
schwerelos
treibt mich der Wind
aus allen Netzen empor.

Mascha Kaleko: Sehnsucht nach einer kleinen Stadt

Jetzt müßte man in einer Kleinstadt sein
Mit einem alten Marktplatz in der Mitte,
Wo selbst das Echo nächtlich leiser Schrite
Weithin streut jeder hohle Pflasterstein

Yüksel Pazarkaya (*1940:) gastarbeiter

wahrlich gastfreundlich
sind diese deutschen
sie tauften uns
gastarbeiter

Im Exil

Heinrich Heine: Nachtgedanken

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

Bertolt Brecht: Finnische Landschaft (1940)

Fischreiche Wässer! Schönbaumige Wälder!
Birken- und Beerenduft!
Vieltoniger Wind, durchschaukelnd eine Luft
So mild, als stünden jene eisernen Milchbehälter
Die dort vom weißen Gute rollen, offen!

Rose Ausländer (1901 - 1988): In jenen Jahren

In jenen Jahren
war die Zeit gefroren:
Eis so weit die Seele reichte
Von den Dächern
hingen Dolche
Die Stadt war aus
gefrorenem Glas
Menschen schleppten
Säcke voll Schnee
zu frostigen Scheiterhaufen

Mascha Kaleko (1907 - 1975): Im Exil

Ich hatte einst ein schönes Vaterland -
So sang schon der Flüchtling Heine.
Das eine stand am Rheine,
Das meine auf märkischem Sand.

Sinn-Fragen

Matthias Claudius "Urians Reise um die Welt" 1787

Wenn jemand eine Reise tut,
So kann er was verzählen;
Drum nahm ich meinen Stock und Hut
Und tät das Reisen wählen.
[...]
Und fand es überall wie hier,
Fand überall ’n Sparren, 

Die Menschen gradeso wie wir, 

Und eben solche Narren.

Gottfried Benn (1886 - 1956): Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer zum Inhalt hat?

Zu Fuß, im Zug, im Auto, im Kopf

zu Fuß

Wilhelm Müller: Das Wandern (siehe oben)

im Zug und im Auto

A.v. Chamisso (1771 - 1831): Das Dampfroß.

Schnell! schnell, mein Schmied! mit des Rosses Beschlag!
Derweil du zauderst, verstreicht der Tag. –
Wie dampfet dein ungeheures Pferd!
Wo eilst du so hin, mein Ritter wert? –

Gottfried Benn (1886 - 1956): D-Zug

Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun.
Malaiengelb.
D-Zug Berlin-Trelleborg und die Ostseebäder.
Fleisch, das nackt ging.
Bis in den Mund gebräunt vom Meer.

Erich Kästner: Im Auto über Land

An besonders schönen Tage
ist der Himmel sozusagen
wie aus blauem Porzellan.

Nicolas Born (*1937): Im Zug Athen Patras

Kahle Felsschädel, helle Augen,
hell der Mund.
Alter Wortboden, wilder Rhodoendron
auf der Höhe
fruchtbar fruchtbar das Meer
- Licht

Wolf Wondratschek (*1934): In den Autos

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

Bodo Morshäuser (*1953): Irritierter Abgang

Die Reise ist zu Ende, die Fotos noch nicht fertig,
ich mache die Augen zu. Mittelstreifen fliegen entgegen.
Die ungewohnten Eindrücke umzingeln uns.
Hinweis: Diese drei und noch mehr zeitgenössische Gedichte vom Reisen sind enthalten in der Anthologie: In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart, hrsg. von Hans Bender, München 1978 S. 179 - 214


Reinhard Mey: Über den Wolken

Über den Wolken
muss die Freiheit wohl grenzenlos sein

Zeitreisen - Kopfreisen

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843): Der Neckar

In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich
Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.

Friedrich Schiller (1759 - 1805): Der Spaziergang

Sey mir gegrüßt mein Berg mit dem röthlich strahlenden Gipfel,
Sey mir Sonne gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint,
Dich auch grüß ich belebte Flur, euch säuselnde Linden,
Und den fröhlichen Chor, der auf den Ästen sich wiegt,

Karoline von Günderode (1780-1806) Der Luftschiffer

Gefahren bin ich in schwankendem Kahne
Auf dem blaulichen Ozeane,
Der die leuchtenden Sterne umfließt,
Habe die himmlischen Mächte begrüßt.

Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1924): Reiselied

Wasser stürzt, uns zu verschlingen,
Rollt der Fels, uns zu erschlagen,
Kommen schon auf starken Schwingen
Vögel her, uns fortzutragen.

Lebensreise

Andreas Gryphius (1616 - 1664): Abend

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk; wo Tier' und Vögel waren,
Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!
[...]
Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn. ...

J.v.Eichendorff: Die zwei Gesellen

Es zogen zwei rüst'ge Gesellen
Zum ersten Mal von Haus.
so jubelnd recht in die hellen,
klingenden, singenden Wellen
des vollen Frühlings hinaus.

Heinrich Heine: Lebensgruß ("Buch der Lieder" Nr. XIX)

Eine große Landstraß ist unsere Erd,
Wir Menschen sind Passagiere;
Man rennet und man jaget, zu Fuß und zu Pferd,
Wie Läufer oder Kuriere.

Linktipps

  • Reiselyrik - "Formen des Unterwegsseins. Ein literaturgeschichtlicher Gang durch die Reiselyrik von der Goethezeit bis zur Gegenwart". U. Vormbaum stellt hier Gedichte nach diesen Oberbegriffen zusammen:
Einstieg: Mit Goethe und all den anderen über die Alpen
Zu Fuß, mit Kutsche und Kahn durch die Landschaft
Reisen im Eisenbahnzeitalter
Zwischen innerweltlichem und technomanischem Reisen
Ausblick auf das Reisen heute
Schluss: Die Alpen werden geschlossen
  • Beispielinterpretationen zu Reise-Gedichten auf den Webseiten von Bob Blume, z.B. zu Gottfried Benn: Reisen, J.W. Goethe: Auf dem See, Clemens Brentano „In der Fremde“ und Günter Kunert „Reiseresümee“ (Gedichtvergleich)

Siehe auch