Erdbeben von Lissabon
Das Erdbeben von Lissabon 1755 war Anlass für zahlreiche Publikationen auch heute noch bekannter Autoren wie Immanuel Kant, Goethe und Kleist sowie einer bedeutenden Theodizee-Diskussion.
Inhaltsverzeichnis
Immanuel Kant
Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat von Immanuel Kant. In: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Abt.1. Bd.1. Berlin 1910 S.434 ff
Das Erdbeben und die Wasserbewegung vom 1. November 1755.
Der Augenblick, in dem dieser Schlag geschah, scheint am richtigsten auf 9 Uhr 50 Minuten Vormittags zu Lissabon bestimmt zu sein, diese Zeit stimmt genau mit derjenigen, da es in Madrid wahrgenommen worden, nämlich 10 Uhr 17 bis 18 Minuten, wenn man den Unterschied der Länge beider Städte in den Unterschied der Zeit verwandelt. Zu derselben Zeit wurden die Gewässer in einem erstaunlichen Umfange, sowohl diejenige, die mit dem Weltmeere eine sichtbare Gemeinschaft haben, als auch welche darin auf eine verborgene Art stehen mögen, in Erschütterung gesetzt. Von Abo in Finnland an bis in den Archipelagus von Westindien sind wenig oder gar keine Küsten davon frei geblieben. Sie hat eine Strecke von 1500 Meilen fast in eben derselben Zeit beherrscht. Wenn man versichert wäre, daß die Zeit, darin sie zu Glückstadt an der Elbe verspürt worden, nach den öffentlichen Nachrichten ganz genau auf 11 Uhr 30 Minuten zu setzen wäre, so würde man daraus schließen, daß die Wasserbewegung 15 Minuten zugebracht habe, von Lissabon bis an die holsteinischen Küsten zu gelangen. In eben dieser Zeit wurde sie auch an allen Küsten des Mittelländischen Meeres verspürt, und man weiß noch nicht die ganze Weite ihrer Erstreckung.
Die Gewässer, die auf dem festen Lande von aller Gemeinschaft mit dem Meere scheinen abgeschnitten zu sein, die Brunnquellen, die Seen, wurden in vielen weit von einander entlegenen Ländern zu gleicher Zeit in außerordentliche Regung versetzt. Die meisten Seen in der Schweiz, der See bei Templin in der Mark, einige Seen in Norwegen und Schweden geriethen in eine wallende Bewegung, die weit ungestümer und unordentlicher war als bei einem Sturme, und die Luft war zugleich stille. Der See bei Neuchatel, wenn man sich auf die Nachrichten verlassen darf, verlief sich in verborgene Klüfte, und der bei Meiningen that dieses gleichfalls, kam aber bald wiederum zurück. In eben diesen Minuten blieb das mineralische Wasser zu Töplitz in Böhmen plötzlich aus und kam blutroth wieder. Die Gewalt, womit das Wasser hindurch getrieben war, hatte seine alte Gänge erweitert, und es bekam dadurch einen stärkern Zufluß. Die Einwohner dieser Stadt hatten gut te Deum laudamus zu singen, indessen daß die zu Lissabon ganz andere Töne anstimmten. So sind die Zufälle beschaffen, welche das menschliche Geschlecht betreffen. Die Freude der einen und das Unglück der andern haben oft eine gemeinschaftliche Ursache. Im Königreich Fez in Afrika spaltete eine unterirdische Gewalt einen Berg und goß blutrothe Ströme aus seinem Schlunde. Bei Angoulême in Frankreich hörte man ein unterirdisches Getöse, es öffnete sich eine tiefe Gruft auf der Ebene und hielt unergründliches Wasser in sich. Zu Gçmenos in Provence wurde eine Quelle plötzlich schlammicht und ergo sich darauf roth gefärbt. Die umliegende Gegenden berichteten gleiche Veränderungen an ihren Quellen. Alles dieses geschah in denselben Minuten, da das Erdbeben die Küsten von Portugal verheerte. Es wurden auch hin und wieder in eben diesem kurzen Zeitpunkte einige Erderschütterungen in weit entlegenen Ländern wahrgenommen. Allein sie geschahen fast alle dicht an der Seeküste. Zu Cork in Irland, imgleichen zu Glückstadt und an einigen andern Orten, die am Meere liegen, geschahen leichte Bebungen. Mailand ist vielleicht derjenige Ort, der noch in der weitesten Entfernung von dem Seeufer an eben demselben Tage erschüttert worden. Eben diesen Vormittag um 8 Uhr tobte der Vesuvius bei Neapolis und ward stille gegen die Zeit, da die Erschütterung zu Portugal geschah.
Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat von Immanuel Kant. In: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Abt.1. Bd.1. Berlin 1910 S.434 ff (IFK, Uni Bonn)
J. W. Goethe
- Johann Wolfgang Goethe
- Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.
Erstausgabe Tübingen, Cotta 1811, 1812, 1814. (Zitiert nach Hamburger Ausgabe Bd. IX S.30f)
Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.
Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt, und die durch fremdes Unglück aufgeregten Gemüter wurden durch Sorgen für sich selbst und die Ihrigen um so mehr geängstigt, als über die weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer mehrere und umständlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.
Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.
Heinrich v. Kleist
Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili (1807/1810)
Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. Als Jeronimo das Tor erreicht, und einen Hügel jenseits desselben bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder.
Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili (1807/1810)
Die Erzählung erschien 1807 in Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« unter dem Titel "Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben in Chili". Am 13. Mai 1647 zerstörte ein Erdbeben in Chile die Hauptstadt Santiago. Vermutlich wurde Kleist auch durch Kants Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens von 1755 angeregt.
Theodizee-Diskussion
Aktuelle Berichte
- Der "Spiegel" erinnert in einem aktuellen Bericht an das historische Ereignis:
- The Lisbon Earthquake (1755) by Jürgen Wilke, displayed in English Published: 2017-12-19.
- EGO | European History Online, published by the Leibniz Institute of European History (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte – IEG) in Mainz.