Die Verwandlung der Welt
Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts von Jürgen Osterhammel von 2009 ist der eindrucksvolle Versuch einer systematisierenden Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts.
Überblick
Osterhammel setzt mit seinem Beispiel für weltgeschichtliche Betrachtung (wie vor ihm Bayly in "Die Geburt der modernen Welt", 2006) zu einem Zeitpunkt an, wo die Globalisierung schon so weit voran geschritten ist, dass die Menschheitsgeschichte schon starke und mehr und mehr weltweite Wirkungszusammenhänge erkennen lässt.
Dabei vermeidet er es sorgfältig, die Geschichte des 19. Jahrhunderts zu erzählen. Vielmehr geht er sie unter der Überschrift Annäherungen bewusst unter streng ausgewählten Aspekten an: zunächst unter dem des Selbstbildes der Zeit, dann unter dem der Kategorien Zeit und Raum.
Bei der Betrachtung des Selbstbildes und unter dem Zeitaspekt sieht er das 19. Jahrhundert immer in Bezug auf seine charakteristischen Unterschiede zu den früheren Jahrhunderten und auf die Wandlungen, die die Strukturen des 20. Jahrhunderts herbeiführten. Dafür kann der Satz "Vor dem 20. Jahrhundert kann kein einziges Jahr als epochal für die gesamte Menschheit betrachtet werden" als beispielhaft gelten. Das 19. Jahrhundert wird in die Kontinuität der vorhergehenden Jahrhunderte gestellt und andererseits deutlich von dem Globalisierungsgrad des 20. abgehoben.
Das gilt auch für seine Aussagen über den Raum. Sorgfältig achtet er darauf, dass uns geläufige Termini nicht ungeprüft als schon im 19. Jahrhundert gültig verwendet werden:
"Die Sammelbezeichnung 'Südostasien' entstand während des Ersten Weltkriegs in Japan."(S.137) "Die Kategorie des 'Westens' etwa [...] findet sich als dominante Denkfigur nicht vor den 1890er Jahren."(S.143) "Im langen 19. Jahrhundert war viel häufiger als vom 'Westen' von der 'zivilisierten Welt' die Rede. [...] In Japan wurde es sogar zum Ziel nationaler Politik, als zivilisiertes Land akzeptiert zu werden." (S.144)
Danach gibt Osterhammel unter der Überschrift Panoramen ohne Vollständigkeitsanspruch einen Überblick über acht große Wirklichkeitsbereiche, die wesentliche Elemente der Gesamtgeschichte des 19. Jahrhunderts erfassen sollen:
- Sesshafte und Mobile
- Lebensstandards
- Städte
- Frontiers
- Imperien und Nationalstaaten
- Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen
- Revolutionen
- Staat
Die Panoramen durchaus nicht so klar gegliedert und ähnlich gleichwertig wie die Annäherungen. Vielmehr gibt es große Überschneidungen zwischen Lebensstandards und Mobilität; denn während der Sklavenexport die Betroffenen in Lebensstandard und Lebensqualität meist auf Generationen zurückwarf, wurde die freiwillige Migration meist von Personen der Unterschicht gewählt, die hoffen durften, mittelfristig ihren Lebensstandard zu verbessern, auch wenn sie im Falle der Indentur zwischenzeitlich zu Arbeit ohne (oder zu nur sehr geringem) Lohn verpflichtet waren.
An die Panoramen schließen sich die folgenden Themen an:
- Energie und Industrie
- Arbeit
- Netze
- Hierarchien
- Wissen
- "Zivilisierung" und Ausgrenzung
- Religion[1]
Zitate aus einzelnen Abschnitten des Werks
Einleitung
"Alle Geschichte neigt dazu, Weltgeschichte zu sein." (S.13)
"Weltgeschichte bleibt eine Minderheitsperspektive, aber eine, die sich nicht länger als als abseitig und unseriös beiseite schieben lässt." (S.14)
ANNÄHERUNGEN
Gedächtnis und Selbstbeobachtung: Die mediale Verewigung des 19. Jhs
"Heutige Wahrnehmungen des 19. Jahrhunderts sind immer noch stark von der Selbstbeobachtung jener Zeit geprägt. Die Reflexivität des Zeitalters, vor allem die neue Medienwelt, die es schuf, bestimmt fortdauernd die Art und Weise, wie wir es sehen. Für keine frühere Epoche ist dies in ähnlichem Maße der Fall." (S.25)
"Das 19. Jahrhundert wird nicht länger aktiv erinnert, es wird nur noch repräsentiert. [...] Die meisten der Formen und Institutionen solcher Repräsentation sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts selbst: das Museum, das Staatsarchiv, die Nationalbibliothek, die Photographie, die wissenschaftliche Sozialstatistik, der Film. Das 19. Jahrhundert war eine Epoche organisierter Erinnerung und zugleich gesteigerter Selbstbeobachtung." (S.26)
Dass das 19. Jahrhundert im Bewusstsein der Gegenwart überhaupt eine Rolle spielt, versteht sich keineswegs von selbst. [...] China kann als Gegenbeispiel dienen. Das 19. Jahrhundert war für China politisch wie wirtschaftlich eine katastrophale Zeit und hat sich mit dieser Wertung im allgemeinen Bewusstsein der Chinesen gehalten. [... ] Auch in kultureller Hinsicht gilt das 19. Jahrhundert als dekadent und steril. Kein Kunstwerk und kein philosophischer Text dieser Zeit nimmt es hier im heutigen Urteil mit den klassischen Werken der ferneren Vergangenheit auf. [...]
Der Gegensatz zwischen China und Japan könnte nicht größer sein. In Japan genießt das 19. Jahrhundert ein unvergleichlich viel höheres Prestige. Die Meiji-Renovation (oft auch Meiji-Restauration genannt) von 1868 und den Jahren danach wurde zum Gründungsakt nicht nur des japanischen Nationalstaates, sondern überhaupt einer eigentümlichen japanischen Modernität stilisiert und spielt bis heute im japanischen Bewusstsein eine Rolle, die derjenigen der Revolution von 1789 für Frank/reich vergleichbar ist." (S.26/27)
"Unter einem ähnlichen Bann des 19. Jahrhunderts wie in Japan steht die historische Erinnerung in den USA. Hier gilt der Bürgerkrieg der Jahre 1861 bis 1865 im gleichen Rang wie die Bildung der Union im späten 18. Jahrhundert als Gründungsereignis des Nationalstaates." (S.27)
Sichtbarkeit und Hörbarkeit
"Heute ist das 19. Jahrhundert dort vital, wo seine Kultur neu in Szene gesetzt und konsumiert wird." (S.28)
Erinnerungshorte, Wissensschätze, Speichermedien
Archive
"Keinem früheren Jahrhundert war das Archiv wichtiger als dem neunzehnten. [...] Napoleon [...] wollte die französischen Nationalarchive zu einem Zentralarchiv Europas machen - 'la mémoire de l'Europe' - und ließ riesige Mengen von Dokumenten aus Italien und Deutschland nach Paris bringen." (S.32) Die "neue Geschichtswissenschaft" (vgl. Ranke) arbeitete verstärkt aus Schriftquellen und war dabei von der Archivpolitik der Regierungen und deren Quellenfreigabe abhängig.
"1921 verkaufte das staatliche Historische Museum in Peking (Beijing) 60 000 Kilogramm Archivmaterial an Altpapierhändler. Nur dass der bibliophile Gelehrte Luo Zhenyu(English) eingriff, rettete die Sammlung, die sich heute in der Academia Sinica auf Taiwan befindet." (S.33)
Bibliotheken
"Die Sammlung des Britischen Museums, 1753 gegründet, war von Anfang an als Nationalbibliothek gedacht. 1757 wurde die Königliche Bibliothek inkorporiert und die Pflicht zur Abgabe eines Exemplars von jedem im Vereinigten Königreich gedruckten Buch eingeführt. Antonio (später Sir Anthony) Panizzi [...] schuf hier die Grundlagen für das wissenschaftliche Bibliothekswesen: einen vollständigen Katalog, nach Regeln systematisch angelegt, und einen Lesesaal, der nach den Bedürfnissen wissenschaftlicher Benutzer gestaltet war [...]. [...] Dass die Library of Congress seit Beginn der 1930er Jahre den größten Bücherbestand der Welt aufwies, vollendete die kulturelle Emanzipation Amerikas." (S.34)
"In China wurde die erste kaiserliche Bibliothek im Palast des Han Wudi (r, 141-87 v. Chr.) eingerichtet. Bereits für diese Sammlung entwickelten Gelehrte ein lange benutztes Klassifikationssystem. [...] Die Menge gedruckter und im Privatgebrauch zirkulierender Literatur war so groß, dass das Bibliographieren zu einer der vornehmsten Aufgaben des Gelehrten wurde." (S.35) "Die riesigen sinologischen und japanologischen Sammlungen in Europa und den USA verdankten sich dem Zusammentreffen eines solchen westlichen Interesses, einer momentanen asiatischen Vernachlässigung der eigenen Bildungstraditionen und niedrigen Bücherpreisen. [...] Die arabische Welt [erlebte] erst im frühen 19. Jahrhundert ihre eigene Druckrevolution [...]; bis zum frühen 18. Jahrhundert waren arabische und türkische Bücher vorwiegend im christlichen Europa gedruckt worden." (S.36)
Museen
"Auch das Museum verdankt seine bis heute maßgebende Form dem 19. Jahrhundert. [...] Die ganze Typenbreite des Museums entfaltet sich in dieser Zeit: Kunstsammlungen, ethnographische Kollektionen, Technikmuseen. Aus der fürstlichen Sammlung [...] wurde im Zeitalter der Revolution das öffentliche Museum. [...] die Französische Revolution hatte durch die Beschlagnahmung und Verstaatlichung privater Kunstschätze, die den Louvre als erstes öffentliches Museum Europas ermöglichten, einen radikalen Präzedenzfall geschaffen.(S.37) In Asien und Afrika entstanden historische Museen zumeist erst nach der politischen Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt war in vielen Fällen ein großer Teil der einheimischen Kunstschätze, Manuskripte und archäologischen Relikte in den Museen der kolonialen Metropolen verschwunden. [...] Für die Museen in Istanbul (Konstantinopel):" war es wichtig, dass das Osmanische Reich 1874 die Fundteilung bei archäologischen Ausgrabungen unter ausländischer Ägide erreichte. In China wurde die damals verfallende Riesenanlage des ehemaligen Kaiserpalastes, die aus tausend einzelnen Tempeln, Hallen und Pavillons bestehende Verbotene Stadt, 1925 als ganze zum Museum erklärt" (S.39) "Die deutsche ethnologische Forschung war kein Geschöpf des Kolonialismus, sondern entstammte einer vorkolonialen liberal-humanistischen Tradition in den frühen deutschen Kulturwissenschaften. [...] Die Museen wetteiferten miteinander und waren zugleich Elemente einer globalen Bewegung zur Repräsentation materieller Kultur. [...] Nicht nur Objekte, sondern auch Menschen wurden nach Europa und Nordamerika verschleppt und öffentlich zur Schau gestellt, um in 'wissenschaftlicher' und zugleich kommerzieller Absicht die Andersartigkeit und «Wildheit» von Nicht-Okzidentalen zu demonstrieren." (S.40)
Weltausstellungen
"Eine Neuerung des 19.Jahrhunderts waren die Weltausstellungen [...]. Man kann sie als 'Medien' von 'unauflösbarer Flüchtigkeit und vermächtnisschaffender Beharrungskraft' deuten. Am Beginn stand die traditionsbildende Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations im Londoner Hyde Park (1851), deren spektakulärer Kristallpalast, eine 600 Meter lange Halle aus Glas und Eisen, bis heute in der Erinnerung fortlebt, obwohl seine an den Stadtrand verlegten Reste 1936 verbrannten." (S.41) "Die am meisten besuchte war die Pariser Exposition universelle von 1900 mit über 50 Millionen Besuchern, die heute noch sichtbarste die Pariser Weltausstellung von 1889, die der Anlass zur Errichtung des Eiffelturms war." (S.42)
Enzyklopädien
Die großen Enzyklopädien sind [...] Erinnerungshorte und Kathedralen des Wissens: die Encyclopaedia Britannica (seit 1771), die Konversationslexika aus den Häusern Brockhaus (seit 1796) und Meyer (seit 1840) und viele ähnliche [...]. Nationalisten erkannten früh den Wert einer Enzyklopädie als Sammlung der wissenschaftlichen Kräfte [...] und international bemerktes Signal [...] kultureller Leistungskraft. Aus solchen Gründen hatte 1829 der Historiker und Politiker Frantisek Palacky den Plan einer tschechischen Enzyklopädie ins Gespräch gebracht; realisiert wurde er erst mit einer großen Enzyklopädie, die zwischen 1888 und 1909 in 28 Bänden erschien und an Umfang nur von der Encyclopaedia Britannica übertroffen wurde." (S.42) "Die geschlossenste und im Rückblick von heute vielleicht attraktivste enzyklopädische Leistung des Jahrhunderts war Pierre-Athanase Larousses Grand dictionnaire universei du XIXe siecle, zwischen 1866 und 1876 in 17 Bänden erschienen. [...]
Wie verhält sich die andere große enzyklopädische Tradition, die chinesische, zu diesen europäischen Neuentwicklungen? Die spätestens seit dem 11. Jahrhundert kontinuierlich zusammengestellten Enzyklopädien (leishu(English)) waren - manchmal sehr umfangreiche - Sammlungen von Nachdrucken und Exzerpten aus der älteren Literatur aller Wissensgebiete. [...] Anders als in Europa, wo die alphabetisch nach Stichworten angeordnete Enzyklopädie spätestens mit d'Alemberts und Diderots großem Kollektivwerk, der Encyclopedie von 1751 bis 1780, zum Organon öffentlichen Räsonnements und zum Forum wissenschaftlichen Fortschritts wurde, dienten die chinesischen Enzyklopädien [...] Thesaurierung eines von der Tradition geheiligten Wissensbestandes. Im 20. Jahrhundert entstanden dann auch in China universale Referenzwerke westlichen Typs." (S.43)
"Auch für die europäischen Sprachen [...] wurde im 19. Jahrhundert angelegt, was es für China seit dem großen Wörterbuch, das der Kangxi-Kaiser um 1700 in Auftrag gegeben hatte, längst gab: eine vollständige Bestandsaufnahme aller schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten einer einzelnen Sprache. Jacob Grimm, der ein solches Vorhaben 1852 mit seinem Deutschen Wörterbuch begann, und James Murray, der dies seit 1879 mit dem Oxford English Dictionary für den anglophonen Kulturkreis tat [...]. (S.44)
"Das 19. Jahrhundert kann im Rückblick von heute global gedacht werden, weil es sich selbst so gedacht hat. [...] Das 19. Jahrhundert war eine Epoche der gehegten Erinnerung." (S.44)
Beschreibung, Reportage, "Realismus"
S. 45ff
"Unübersehbar überdauert ein Weiteres aus dem 19.Jahrhundert: die großen Beschreibungen und Analysen der Zeitgenossen. [...] Europäer produzierten im 19. Jahrhundert unvergleichlich mehr Material der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, als sie dies in früheren Jahrhunderten getan hatten. Neue Gattungen entstanden: die Sozialreportage und die empirisch gesättigte Enquete. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Lebensverhältnisse der Unterschichten." (S.45)
Wichtige Werke sind: Sebastien Mercier Tableau de Paris (1782-88), Friedrich Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen (1845), Henry Mayhew London Labour and the London Poor 1861-62, Charles Booth Labour of the People in London (1889-91) In der 3. Auflage (1902/03) in 17 Bänden.
In der Literatur hat Honoré de Balzacs Romanzyklus La Comédie humaine, (1829-1854) mit 91 Romanen und Novellen eine Sonderstellung. Doch darüber hinaus gilt: "Von Jane Austens Sense and Sensibility (18n) bis zu Thomas Manns Buddenbrooks (1901) und Maksim Gor'kijs Mat' Die Mutter', 1906-7) zieht sich eine lange Kette von 'Gesellschafts'Romanen durch das Jahrhundert, aus denen man ebensoviel über Normen, Verhaltensweisen, Statusunterschiede und materielle Lebensverhältnisse erfährt wie aus den Werken der Sozialwissenschaftler. James Fenimore Cooper und Henry James, Charles Dickens, George Eliot und Anthony Trollope, Gustave Flaubert und Emile Zola, Ivan Turgenev, Lev Tolstoj und Theodor Fontane gehören zu den wichtigsten Zeugen der Gesellschafts-, Geselligkeits- und Mentalitätsgeschichte des Jahrhunderts." (S.48) "Die große chinesische Romantradition der Ming- und frühen Qing-Zeit gipfelte im Honglou Meng ('Der Traum der Roten Kammer'), einem sozialgeschichtlich überaus aufschlussreichen Familienroman, der zu Lebzeiten seines Autors Cao Xueqin (1715-1764) nur in Manuskriptform zirkulierte. Seit er 1792 im Druck erschien, ist er einer der populärsten Romane Chinas geblieben. Das 19.Jahrhundert hat dem wenig hinzugefügt." (S.50) "Mehr als jemals davor oder später wurde im Jahrhundert nach Humboldts Amerikabesuch das Reisen in Europa zur Quelle wissenschaftlicher Autorität." (S.52) "Die Vermessung und kartographische Aufnahme der gesamten Land- und Wasseroberfläche der Erde war eines der großen Gemeinschaftsprojekte der neuzeitlichen Wissenschaft, eng mit der maritimen Welteroberung durch die Europäer verbunden." (S.53) "Am Ende des 19.Jahrhunderts war für den gesamten Erdball ein Kartenbild erstellt, das bis zur Satellitenkartographie und der Computerherstellung von Karten kaum noch übertroffen werden sollte." (S.54) "Die Soziologie, von ihren Gründervätern Auguste Comte und Herbert Spencer herkommend, verstand sich zuerst als theoretische Disziplin." (S.55) "Erst seit den 1890er Jahren trug die akademische Soziologie in größerem Umfang zur empirischen Erforschung von Gegenwartsgesellschaften bei." (S.56)
Statistik
S.57ff
"Die Statistik wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das, was sie heute noch ist: das wichtigste Instrument eines kontinuierlichen self-monitoring von Gesellschaften." (S.57) "In Europa war Schweden der Pionier. Die erste nationale Volkszählung fand dort 1755 statt. 1787 ließ König Karl 111., der große Aufklärungsmonarch, die Bevölkerung Spaniens zählen. Dies geschah mit methodisch derart fortgeschrittenen Mitteln, dass man von dem ersten 'modernen' Zensus in Europa gesprochen hat." (S.58) "Um 1870 waren überall in Europa moderne statistische Behörden entstanden" (S.59) "Statistik [...] machte Dinge sichtbar, die bis dahin verborgen oder selbstverständlich geblieben waren. Arme traten als Masse erst in Erscheinung, als man sie zählte." (S.61)
Nachrichten
S.63ff
"Das goldene Zeitalter der Presse konnte erst mit der Pressefreiheit beginnen." (S.64) "In den USA hatte der erste Verfassungszusatz (FirstAmendment) 1791 dem Kongress jegliche Gesetzgebung zur Einschränkung der Rede- und Pressefreiheit verboten. [...] In Großbritannien hatte der Staat seit 1695 keine rechtliche Handhabe mehr, um gegen überkritische Presseorgane vorzugehen, doch behinderte eine Steuer auf Druckerzeugnisse, stamp duty genannt, deren letzte Reste erst 1855 beseitigt wurden, die Zirkulation von Zeitungen. In Kanada, Australien und Neuseeland kam mit nur geringfügiger Verspätung gegenüber Großbritannien und den USA ein dynamisches Pressewesen in Gang." (S.65) "Auf dem europäischen Kontinent war Norwegen das erste Land, in dem (seit 1814) Pressefreiheit herrschte, um 1830 kamen Belgien und die Schweiz hinzu. Bis 1848 folgten Schweden, Dänemark und die Niederlande. Dass die französischen Revolutionäre bereits 1789 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 'die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen' zu einem 'der kostbarsten Menschenrechte' erklärt hatten (Artikel II), bedeutete in der Praxis wenig." (S.66) "Die Tagespresse war eine europäisch-nordamerikanische Erfindung, die außerhalb des nordatlantischen Raumes bald übernommen wurde. Dort, wo es einheimische Bildungsschichten gab und das koloniale Erziehungswesen daneben neue entstehen ließ, nutzten diese rasch die erweiterten Chancen, sich in den lokalen Sprachen ebenso wie in denen der Kolonialherren Gehör zu verschaffen. Besonders deutlich sieht man dies in Britisch-Indien. Hier entwickelte sich das Pressewesen in ziemlich genauer Synchronie zu Europa. Ein Unterschied lag darin, dass mit der Zeitung zugleich auch die Druckerpresse eingeführt wurde: eine doppelte Kommunikationsrevolution." (S.67) China: "Eine Zeitung wie die von 1872 [...] bis 1949 in Shanghai erscheinende, bis 1909 als britisch-chinesisches Gemeinschaftsunternehmen betriebene Shenbao ('Shanghai Daily News') brauchte um die Jahrhundertwende den Vergleich mit den seriösen Blättern Europas nicht zu scheuen." (S.69)
Photographie
76
Zeit
" 'Mein' 19. Jahrhundert wird nicht als zeitliches Kontinuum [...] gedacht. Die Geschichten, die mich interessieren, sind nicht lineare [...], sondern Übergänge und Transformationen. Jede dieser Transformationen weist eine eigene temporale Struktur auf, [...]" (S.86)
"Was ich veranschaulichen und kommentieren möchte, ist nicht eine abgeschottete und selbstgenügsame Geschichte des 19. Jahrhunderts, sondern das Eingefügtsein einer Epoche in längere Zeitlinien: das 19.Jahrhundert in der Geschichte." (S.87)
Über den Ersten Weltkrieg und das lange 19. Jahrhundert: "Um es pathetisch auszudrücken: Erst als der Krieg vorüber war, merkte die Menschheit, dass sie nicht mehr im 19.Jahrhundert lebte." (S.88)
"Vor dem 20. Jahrhundert kann kein einziges Jahr als epochal für die gesamte Menschheit betrachtet werden." (S.96)
Raum
"In der Entwicklung des geographischen Wissens nimmt das 19. Jahrhundert im doppelten Sinne eine Übergangsstellung ein. Erstens war dies jene Epoche, in der die europäische Erdkunde eine eindeutige Dominanz über die geographische Weltauffassung anderer Zivilisationen gewann. [...] Die professionellen Geographen verstanden sich teils als Naturwissenschaftler mit enger Verbindung zu exakten Disziplinen wie Geologie, Geophysik oder Hydrologie, teils als Human- oder Anthropogeographen, nun nicht länger bloß als Gehilfen der seit eh und je prestigereicheren Geschichtsschreibung. Mit jedem Lehrbuch und Schulbuch und jeder Karte, vor allem wenn dahinter eine obrigkeitliche Autorisierung stand, übten sie 'Benennungsmacht' aus. [...] Gleichzeitig aber, und das ist die zweite Besonderheit, war das 19.Jahrhundert [...] auch das letzte Zeitalter der Entdeckungen. Noch immer gab es den heroischen Einzelreisenden, der in Gegenden vorstieß, die nie zuvor ein europäischer Berichterstatter betreten hatte, [...] Im Laufe des Jahrhunderts wurden einige Teile der Welt erstmals bereist und beschrieben [...] (S.131-133)
"Die Sammelbezeichnung 'Südostasien' entstand während des Ersten Weltkriegs in Japan." (S.137)
"Die Kategorie des 'Westens' etwa [...] findet sich als dominante Denkfigur nicht vor den 1890er Jahren." (S.143) "Im langen 19. Jahrhundert war viel häufiger als vom 'Westen' von der 'zivilisierten Welt' die Rede. [...] In Japan wurde es sogar zum Ziel nationaler Politik, als zivilisiertes Land akzeptiert zu werden." (S.144)
"Die Zeitgenossen [des späten 19. Jh.] sahen das nationalstaatlich verfasste Europa stets in einem weiteren imperialen Rahmen." (S.146)
"Die Habsburgermonarchie hatte im 19. Jahrhundert keine expansiven Absichten mehr [...]. Sie blieb aber eine Art von "Frontstaat" gegenüber dem Osmanischen Reich." (S.148)
"Manches spricht dafür, dass erst die umfassende Verbreitung von Empire-Karten mit ihrer berühmten, seit 1830 gebräuchlichen Rotfärbung des Reiches in de britischen Öffentlichkeit ein Empire-Bewusstsein erzeugte." (S.150)
"1871 brachen 49 hohe japanische Würdenträger und Beamte, darunter mehr als die Hälfte der obersten Staatsspitze, zu einer Erkundungsreise in die USA und nach Europa auf, die anderthalb Jahre dauern sollte." (S.153)
"Der Pazifik hatte schon 1571 mit der Gründung des spanischen Manila, das Mitte des 17. Jahrhunderts mit 50 000 Einwohnern etwa so groß wie Wien war, eine beträchtliche Bedeutung für den Welthandel gewonnen [...]" (S.160)
PANORAMEN
Unter der Überschrift Panoramen gibt Osterhammel ohne Vollständigkeitsanspruch einen Überblick über acht große Wirklichkeitsbereiche, die wesentliche Elemente der Gesamtgeschichte des 19. Jahrhunderts erfassen sollen.
Sesshafte und Mobile
Hier betrachtet Osterhammel die gesamte demographische Entwicklung, nicht nur aufgrund der verschiedenen Arten von Migration.
Demographische Katastrophen und demographischer Übergang
"Währenddessen herrschte in Europa Frieden. Zwischen 1815 und dem Beginn des Krimkrieges 1853 wurde überhaupt kein Krieg geführt [...]. Insgesamt gab es im achtzehnten Jahrhundert siebenmal mehr Kriegstote in Relation zur Gesamtbevölkerung Europas als im neunzehnten." (S.194)
Das Erbe frühneuzeitlicher Fernmigrationen: Kreolen und Sklaven
"Insgesamt war anfangs nur die spanische Auswanderung ein voller Erfolg [...] Für die anderen [...] wurde Nordamerika erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem attraktiven Ziel. Dies setzte voraus, dass man fast überall Wege fand, die unangenehmste Arbeit von Nichteuropäern verrichten zu lassen." (S.201)
"Es war eine Besonderheit der USA unter den anderen Sklavengesellschaften, dass hier die Sklavenbevölkerung bereits vor dem Ende des internationalen Sklavenhandels hohe Wachstumsraten durch eigene Vermehrung erzielte." (S.203) [Das heißt also: Überall sonst starben die importierten Sklaven so schnell weg, dass die Kolonien auf eine ständige Nachlieferung von Sklaven wirtschaftlich angewiesen waren; vgl. atlantischer Dreieckshandel.]
Strafkolonie und Exil
"Im Januar 1898 wies die amtliche Statistik 298 600 Deportierte in Sibirien aus." (S.207) In China "wurden Zehntausende von Menschen in Gebiete der heutigen Provinz Xinjiang exiliert." (S.207) "Insgesamt sahen sich is zum letzten Gefangenentransport im Jahre 1868 162 000 Menschen als Sträflinge nach Australien verbracht." (S.209)
Exil
"Die rechtsgeschichtlich wichtigste Zäsur war die Julirevolution von 1830, die zur festen Verankerung des politischen Asyls [...] in den Rechtsordnungen der westeuropäischen Staaten, vor allem Frankreichs, Belgiens und der Schweiz, führte." (S.211) "Niemals zuvor war so viel Politik aus dem Exil heraus gemacht worden wie im 19. Jahrhundert." (S.211) "Später im Jahrhundert wurden auch die asiatischen Reiche vom Exil aus unterminiert. Das war bis dahin selten geschehen." (S.212)
"[...] wurden später im 19. Jahrhundert London, Paris, Zürich, Genf und Brüssel die wichtigsten Operationsbasen für die Exilpolitik. Im Rückblick von der Gegenwart aus erstaunt die Freiheit, die viele Exilpolitiker trotz zunehmender Überwachungsanstrengungen der Behörden (etwa in Frankreich) genossen." (S.213)
Massenfluchten und ethnische Säuberungen
"So war der griechische Unabhängigkeitskampf weniger eine Heldenaktion [...] als ein Vorbote späterer ethnischer Säuberungen in der Region." (S.215) "Mindestens 100 000 Krimtataren [...] siedelten sich [...] in Anatolien an" (S.215) "Mindestens 450 000, vielleicht sogar bis zu einer Million Angehörige muslimischer Bergvölker wurden zwischen / 1859 und 1864 aus ihrer Heimat vertrieben." (S.215/6) "Der Balkan war im ganzen 19. Jahrhundert eine der ethnopolitisch unruhigsten Gegenden der Welt." (S.217)
Interne Wanderungen und die Transformation des Sklavenhandels
"Auch wenn das 19. Jahrhundert noch nicht das 'Jahrhundert des Flüchtlings' war, so war es doch eine Epoche der internationalen Arbeitsmigration. Diese Migration war umfangreicher als alles, was die Geschichte bis dahin kannte." (S.221)
Transnationale Migrationstopographien: Europa und Ostasien
"Für Europa [...] trat als wichtigster Magnet für Wanderungswillige die industrielle Erschließung von Bergbauregionen." (S.222) "Die mit Abstand größte Migrationsbewegung von Han-Chinesen" war die Wanderung von "etwa 25 Millionen [...] in den Nordosten [die Mandschurei] ; zwei Drittel kehrten zurück, 8 Millionen siedelten sich dauerhaft an." (S.224) "Die geschätzte Zahl der Sibirienimmigranten beläuft sich für 1851 bis 1914 auf 6 Millionen." (S.226)
Nomadismus und Wanderarbeit
"Grundsätzlich wichtig ist es, zwischen der Migration von Arbeitern und agrarischen Siedlern einerseits und der Mobilität von Hirten andererseits zu unterscheiden." (S.226) "Nichts irgendwo sonst auf der Welt ähnelte den Viehherden von 150 000 bis 400 000, in seltenen Fällen bis zu 600 000 Tieren, die zwischen den sechziger und achtziger Jahren immer wieder drei Monate lang von Texas nordwärts getrieben wurden, begleitet von bis zu zweitausend berittenen Cowboys." (S.227)
Sklavenexporte aus Afrika
"Mit der langsamen Kontraktion des Sklavenhandels [...] verminderte sich die Intensität der Einbeziehung Afrikas in interkontinentale Wanderungsströme." (S.229/30)
Über den Sklavenhandel im Osten Afrikas: "Gefangenenkarawanen marschierten manchmal tausend Kilometer, bis sie das Rote Meer erreichten." (S.231)
Migration und Kapitalismus
"Keine andere Epoche der Geschichte war wie das 19. Jahrhundert ein Zeitalter massenhafter Fernmigration." (S.235)
Wanderziel Amerika
"Um 1820 war das jährliche Volumen der Sklaventransporte nach Brasilien noch mehr als doppelt so hoch wie das der freien Einwanderung in die USA!" (S.237) "Die Immigration in die USA wuchs von etwa 14 000 Personen jährlich in den 1820er Jahren [...] bis auf etwa eine Million auf dem Höhepunkt 1911." (S.237)
Kontraktarbeit
Kontraktarbeit wurde für Plantagen, Bergwerke und den Eisenbahnbau gebraucht. "Kurz nachdem kontraktueller Arbeitszwang aus der Organisation der Einwanderung in die USA verschwunden war, erfuhr er seine Auferstehung im asiatischen Kontraktarbeitersystem." (S.241) "Wo immer die angebotenen Löhne in Übersee so niedrig waren, dass nur die Ärmsten der Armen sich dafür interessierten, war eine Vor- oder Fremdfinanzierung der Überfahrt unumgänglich." (S.242) Sie geschah über Indentur.
Lebensstandards
Städte
- Städte (Anfang)
Frontiers
1 Invasionen und Frontier-Prozesse (465ff.)
"Das extreme Gegenteil der Stadt ist im 19.Jahrhundert nicht länger das 'Land', die Lebenssphäre der erdgebundenen Ackerbauern. Es ist die Frontier [...] : die bewegliche Grenze der Ressourcenerschließung. Sie wird in Räume vorangetrieben, die selten so 'leer' sind, wie die Aktivisten der Expansion sich und anderen einreden. Aus der Sicht derer, auf die sich die Frontier zubewegt, ist sie die Speerspitze einer Invasion. [...] Beide, Stadt wie Frontier, haben aber auch etwas gemeinsam: Sie sind die großen Wanderungsmagneten des 19. Jahrhunderts. Als die Räume erträumter Möglichkeiten ziehen sie Migranten an wie nichts sonst in der Epoche. Gemeinsam ist der Stadt wie der Grenze die Durchlässigkeit und Formbarkeit der sozialen Verhältnisse. Wer nichts hat, aber einiges kann, mag es hier zu etwas bringen." (S.465)
"Das 20. Jahrhundert ist insgesamt gekennzeichnet durch intensivere, also weniger raumgreifende Nutzung von Potenzialen. Die Zerstörung tropischer Regenwälder sowie die Überfischung der Meere setzen allerdings das frühere Muster extensiver Ausbeutung auch noch in einem Zeitalter fort, [...]" (S.466)
Osterhammel lenkt in diesem Kontext verständlicherweise seinen Blick nicht auf die noch ausgreifendere Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen, wie sie von der Nutzung fossiler Energien und recyclingarmen Nutzung von Rohstoffen im 20. und 21. Jahrhundert weltweit geschieht. Dazu Naomi Klein. "Daneben gingen vergleichbare Prozesse etwa auch von Chinesen und einigen Völkern im tropischen Afrika aus. Migrationsbewegungen zur burmesischen Reisgrenze oder zur plantation frontier [vgl. dazu das Beispiel Jamaika; F.] in anderen Teilen Südostasiens waren eine Folge neuer Exportchancen auf internationalen Märkten. Mit der landnehmenden Kolonisierung verbanden sich extrem unterschiedliche Erfahrungen, die sich auch in der Geschichtsschreibung spiegeln. Auf der einen Seite standen die aktiven Kolonisten, die mit ihren Wagentrecks - so verstanden sie sich selbst - in die 'Wildnis' hinauszogen, dort neben ihrer Viehwirtschaft 'herrenloses' Land urbar machten und die Errungenschaften der 'Zivilisation' einführten." (S.466)
"Bereits James Fenimore Cooper [...] hatte in seinen Lederstrumpf-Romanen [...] die Tragik des indianischen Untergangs beschworen. In die amerikanische Geschichtsschreibung fand eine solch düstere Sicht erst im frühen 20. Jahrhundert vereinzelt Eingang." (S.467)
"Wer nicht rücksichtslos verfolgt wurde, den unterzog man Prozeduren der 'Zivilisierung', die auf der völligen Entwertung der traditionellen einheimischen Kultur beruhten. In diesem Sinne entstanden bereits im 19. Jahrhundert jene 'traurigen Tropen', über die Claude Levi-Strauss 1955 bewegend geschrieben hat." (S.468)
Nach 1945: "Die beginnende Anerkennung von außen schuf den betroffenen Minderheiten auch neue Möglichkeiten der eigenen Identitätsbildung. An der Grundtatsache der Marginalisierung ihrer Lebensformen ließ sich jedoch nichts mehr ändern." (S.468)
"Der junge Historiker Frederick Jackson Turner prägte ihn 1893 in einem Vortrag, der wahrscheinlich bis heute der einflussreichste Text der amerikanischen Geschichtsschreibung ist. Turner sprach von einer 'Frontier', die sich immer weiter von Ost nach West vorangeschoben habe und in seiner Gegenwart zum Stillstand und Ende (closure) gekommen sei." (S.469)
"McNeill sieht die Frontier als ambivalent: zum einen durchaus als politische und kulturelle Bruchlinie, zum anderen aber auch als Öffnung von Freiräumen, wie sie die stärker strukturierten Gesellschaften stabil besiedelter Kernzonen nicht zuließen. Zum Beispiel war die Stellung der Juden, die oft in Grenzgebieten siedelten, deutlich besser als unter weniger flüssigen Verhältnissen. [...]
Eine Frontier ist ein sich großräumig, also nicht bloß lokal begrenzt manifestierender Typus einer prozesshaften Kontaktsituation, in der auf einem angebbaren Territorium (mindestens) zwei Kollektive unterschiedlicher ethnischer Herkunft und kultureller Orientierung meist unter Anwendung oder Androhung von Gewalt Austauschbeziehungen miteinander unterhalten, die nicht durch eine einheitliche und überwölbende Staats- und Rechtsordnung geregelt werden. Eines dieser Kollektive spielt die Rolle des Invasoren. Das primäre Interesse seiner Mitglieder gilt der Aneignung und Ausbeutung von Land und/oder anderen natürlichen Ressourcen.
[...] Der Siedler ist weder Soldat noch Beamter. Die Frontier ist ein manchmal lange andauernder, doch prinzipiell flüchtiger Zustand von hoher sozialer Labilität." (S.471)
"Auf der Seite der Invasoren werden je nach Bedarf drei Rechtfertigungsmuster einzeln oder in Kombination herangezogen:
- das Recht des Eroberers, das eventuell vorhandene Besitzrechte der anderen Seite für nichtig erklärt;
- die schon bei den Puritanern des 17. Jahrhunderts beliebte Doktrin der terra nullius, welche Land, das von Jägern und Sammlern oder von Hirten bevölkert ist, als 'herrenlos', frei akquirierbar und kultivierungsbedürftig betrachtet;
- die oft erst später als sekundäre Ideologisierung hinzukommende Vorstellung eines zivilisierenden Missionsauftrags gegenüber den 'Wilden'." (S.472)
"Frontiers können sich nur dort über die erste Invasionsphase hinaus halten, wo, erstens, keine klaren Territorialgrenzen Invasionen und Frontier-Prozesse (borders) gezogen werden und wo, zweitens, die Durchstaatlichung rudimentär oder lückenhaft bleibt. Von der Warte der Frontier ist der 'Staat' verhältnismäßig fern. Die Grenzen von Imperien sind typischerweise Frontiers, doch sie sind es nicht immer. Sobald Imperien nicht länger expandieren, sind Frontiers, sofern es sie noch gibt, keine Zonen potenzieller Einverleibung, sondern eher offene Flanken in der Sicherung vor äußeren Bedrohungen." (S.472/73)
"Im britischen Empire des 19.Jahrhunderts war die Nordwestgrenze Indiens eine solche neuralgische Verteidigungszone, die besondere Arten der Kriegführung. an erster Stelle mountain warfare mit leichter Bagage in unübersichtlichem Gelände, erforderlich machte; die Russen im Kaukasus und die Franzosen in Algerien führten ähnliche Grenzkriege. Im Unterschied dazu bot die Nordgrenze Britisch-Indiens keine Sicherheitslücke dieser Art. Sie war eher eine in umständlichen Verhandlungen zwischenstaatlich vereinbarte Staatengrenze, also border. nicht frontier. [...]
Dort, wo zwei oder mehrere Kolonialmächte mit ihren modernen Begriffen von territorialer Staatlichkeit sich Gebiete streitig machten, sollte man nicht von Frontiers, sondern von 'Grenzländern' sprechen. Nach einem von dem Turner-Schüler Herbert Eugene Bolton vorgeschlagenen Konzept versteht man unter solchen borderlands 'umstrittene Grenzgebiete zwischen kolonialen Sphären'. In solchen borderlands hatten die Einheimischen andere Handlungsmöglichkeiten als an einer Frontier, konnten sie doch in gewissem Maße die rivalisierenden Invasoren gegeneinander ausspielen und die verschiedenen Grenzlinien überqueren. Sobald aber einmal eine Einigung zustande gekommen war, ging sie auf Kosten der Lokalbevölkerung. Im Extremfall wurden ganze Völker über die Grenze deportiert, oder es wurden Transfers ausgehandelt, so schon im 18. Jahrhundert an der Grenze zwischen dem Zarenreich und dem Qing-Imperium." (S.473) "Frontiers sind stets turbulent und stellen daher unweigerlich eine Bedrohung für das dar, was für das Imperium in der Zeit nach der Eroberungsphase das höchste aller Güter sein muss: Ruhe und Ordnung. [...] Die interessanteste neue Bedeutung, die der Frontier-Begriff in der letzten Zeit gewonnen hat, ist die ökologische. [...] Man kann allgemeiner von Frontiers extraktiver Ressourcenausbeutung sprechen. Hier geht es um ökonomische, aber zur gleichen Zeit auch um ökologische Zusammenhänge. [...] Man kann nicht über Frontiers sprechen und dabei von Ökologie schweigen." (S.474)
Überschreitung und Verstaatlichung
"(1) Als 'Transfrontier-Prozesse' bezeichnet man Bewegungen von Gruppen über ökologische Grenzen hinaus. Ein gutes Beispiel dafür sind die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auftretenden Treckburen in Südafrika. Als fruchtbare und leicht zu bewässernde Böden am Kap knapp wurden, gaben viele afrikaanssprachige Weiße eine intensive Landwirtschaft europäischen Stils auf und übernahmen eine semi-nomadische Lebensweise. Einige von ihnen, man schätzt ein Zehntel, schlossen sich afrikanischen Gemeinschaften an. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten Leute gemischter Abstammung als griquas ihre eigenen Sozialverbände, Städte und sogar staatsähnliche Strukturen (Griqualand East und West). Auch in Südamerika traten solche transfrontiersmen auf, allerdings nicht unter Mangelbedingungen, sondern dort, wo ein Überfluss an Tieren die Jagd auf Vieh und Pferde erlaubte. Sonst aber bestanden große Ähnlichkeiten zwischen Afrika und Amerika, vor allem waren diese grenzüberschreitenden Gemeinschaften im Binnenland von außen so gut wie nicht regierbar. [...]
(2) Die Verstaatlichung von Frontiers: [...] Der allgemeinste Beitrag von Regierungen zur Frontier- Kolonisation lag schon in der frühen Neuzeit darin, dass sie die faktische Okkupation von Land pauschal legalisierten und dabei gleichzeitig die Eigentumsansprüche der Einheimischen rundweg bestritten." (S.476)
2 "Wilder Westen" in Nordamerika (478ff.)
"So war der kalifornische Goldrausch die größte zusammenhängende Migrationsbewegung in der Geschichte der USA. Allein im Jahr 1849 strömten 80000 Menschen nach Kalifornien, 1854 lebten dort 300 000 Weiße. Eine ähnliche Dimension hatte 1858 der weniger bekannte gold rush nach Colorado. [...] Die Region der eigentlichen Frontier lag also zwischen einer seit langem dynamischen Ostküste und einem aus anderen Ursachen wirtschaftlich aufstrebenden Landesteil am anderen maritimen Rand des Kontinents. Sie war buchstäblich eine 'Mitte'. (S.478) "Die Franzosen hatten im 18.Jahrhundert viel mehr als Engländer und Schotten eine Art von modus vivendi mit den Indianern erreicht. Auch im Verhältnis von Spaniern und Pueblos im heutigen New Mexico war es unter den Bedingungen eines ungefähren Machtgleichgewichts zu einer langfristig stabilen frontier of inclusion gekommen. Dies wiederholte sich im Machtbereich der USA nicht. Die charakteristische Form der Behandlung der Einheimischen [...] war das Reservat. [...] Nach dem Bürgerkrieg und vollends nach dem Ende der Indianerkriege in den 1880er Jahren wurde das System zahlreicher verstreuter Sondergebiete zur allgemein praktizierten Norm. An keiner anderen Frontier - gewisse Ähnlichkeiten bestehen mit dem Homeland-System im Südafrika des 20. Jahrhunderts - erlangte diese umzingelnde Ausgrenzung der Urbevölkerung eine ähnliche Bedeutung. [...] Als wissenschaftliches Konzept wie als populärer Mythos war die Frontier schon lange, bevor Turner ihr einen Namen gab, das große integrierende Thema einer nationalen Geschichtskonstruktion." (S.479)
3 Südamerika und Südafrika
- Argentinien
"Die größte Ähnlichkeit zu den USA findet man in Argentinien. [...] Im Unterschied zur US-Frontier wurde das Land in Argentinien nicht in kleine Einheiten zerlegt. Die Regierungen verkauften es oder vergaben es in großen Stücken als politische Geschenke. So entstanden große Viehgüter, die ihr Land zuweilen an kleinere Rancher verpachteten. [...] Ein für Argentinien charakteristischer Sozialtypus war der Gaucho: ein Wanderarbeiter, Ranchknecht und Pferdemann der Pampa." (Der Cowboy war im Grunde eine lateinamerikanische Erfindung: Erst über die großen Viehfarmen Nordmexikos verbreitete er sich nach Texas und von dort in den übrigen Wilden Westen. [...])" (S.501/2) "Fast aufs Jahr gleichzeitig mit dem letzten großen Indianerkrieg der USA wurden die riesigen Landflächen des inneren Argentinien für die wirtschaftliche Nutzung geräumt. Den Indianern wurde noch nicht einmal das kümmerliche Überleben in Reservaten gestattet." (S.503)
- Brasilien
"Brasilien ist das einzige Land der Welt, in dem einige der nach 1492 in Amerika begonnenen Frontier-Prozesse von Ausbeutung und Ansiedlung immer noch anhalten." (S.504)
- Südafrika
"Die Frontier-Prozesse in Südamerika Südafrika und Südafrika standen in keiner realen Wechselwirkung miteinander. Daher fällt umso mehr ihre exakte Gleichzeitigkeit auf. Die letzten Indianerkriege fanden in Nord- und Südamerika in den 1870er und 1880er Jahren statt, also genau zu derselben Zeit, als die weiße (britische) Eroberung des südafrikanischen Landesinneren abgeschlossen wurde. Für Südafrika markiert das Jahr 1879 einen Schlusspunkt. In diesem Jahr wurden die Zulu, die wichtigste afrikanische Gegenmacht zu den Briten, militärisch geschlagen. [...] Die Sioux und die Zulu waren beide bedeutende regionale Militärmächte, die sich manche ihrer einheimischen Nachbarn untertänig und abhängig gemacht hatten. Als Folge eines jahrzehntelangen Kontakts mit Weißen waren sie sich über deren militärische Möglichkeiten durchaus im Klaren. Beide hatten sich auch nur in einem sehr geringen Maße den Invasoren und ihrem Lebensstil assimiliert." (S.505)
"Diesen Gemeinsamkeiten stehen einige Unterschiede im Schicksal von Sioux und Zulu gegenüber. Dem hohen ökonomischen Druck, der auf sie ausgeübt wurde, setzten die beiden Völker eine unterschiedliche Widerstandskraft entgegen. Die Sioux waren nomadische Bisonjäger. die sich in Jagdbanden organisiert hatten und über keine ausgeprägte politische und militärische Hierarchie verfügten. Sie waren auf dem expandierenden Binnenmarkt der USA wirtschaftlich völlig nutzlos geworden. Die Zulu hingegen existierten auf der Basis einer viel stärkeren stationären Mischwirtschaft von Viehzucht und Ackerbau. Sie verfügten über eine zentralisierte monarchische Organisation und integrierten sich gesellschaftlich durch ein System klar definierter Altersgruppen. Daher ließ sich die Zulugesellschaft trotz ihrer militärischen Niederlage und der folgenden Okkupation ihrer Wohngebiete nicht so einfach zerschlagen und demoralisieren wie die Gesellschaft der Sioux." (S.506)
"Die Buren profitierten von der Zerrüttung zahlreicher afrikanischer Gemeinschaften, die eine Folge jüngster militärischer Auseinandersetzungen unter den afrikanischen Völkern, der Mfecane, war: Zwischen 1816 und 1828 hatte der blitzartig erstarkte Militärstaat der Zulu unter deren Kriegskönig Shaka große Gebiete im Grasland entvölkert und zugleich den weißen Siedlern Bundesgenossen aus dem Anti-Zulu-Lager zugeführt. Der Große Treck war ein militärisch und logistisch erfolgreiches Manöver einer der ethnischen Gruppen in Südafrika, die um Land konkurrierten. Er wurde zu einem kolonialen Eroberungszug von zunächst «privatem» Charakter. Eine Staatsbildung erfolgte erst später, gleichsam als «Nebenfolge» (Jörg Fisch) privater Landaneignung, als sich die Buren zwei eigene Republiken schufen: 1852 die Republik Transvaal, 1854 den Oranje-Freistaat. [...] Militärisch stand den Buren keine Zentralarmee zur Seite. [...] Jede Frontier weist besondere demographische Verhältnisse auf, und hier liegt ein besonders wichtiger Unterschied zwischen Nordamerika und Südafrika. Vor den 1880er Jahren gab es keine Masseneinwanderung nach Südafrika. [...]" (S.507)
"In Südafrika wie in Nordamerika war der sich und seine Familie selbst versorgende bewaffnete Pionier zunächst der vorherrschende Grenzertypus. In Amerika war die Grenze aber schon früh mit Elementen großbetrieblicher Produktion für Exportmärkte durchsetzt. Im 18.Jahrhundert waren Tabak- und Baumwollplantagen, von denen sich manche an der Grenze befanden, in großräumige Handelsnetze eingesponnen. Im Laufe des 19.Jahrhunderts wurde die Grenze zunehmend zum Organ kapitalistischer Entwicklungsprozesse. In Südafrika waren die Buren nach dem Exodus eines Teils von ihnen ins Landesinnere zunächst noch weiter von den Weltmärkten entfernt als zuvor. [...] In Südafrika benötigten Farmen und Bergwerke einheimische Lohnarbeit. Den Afrikanern wurden daher nicht nur Subsistenznischen eingeräumt; sie wurden auch auf der untersten Stufe einer rassisch definierten Hierarchie in die dynamischen Sektoren der Wirtschaft integriert. [...] Die südafrikanischen Reservate, die erst viel später - nach 1951 - unter der Bezeichnung homelands ihre volle Ausprägung fanden, waren weniger ein Freiluftgefängnis zur Isolation einer ökonomisch funktionslosen Bevölkerung als der Versuch, schwarze Arbeitskraft politisch zu kontrollieren und ökonomisch zu kanalisieren. Sie beruhten auf dem Prinzip, dass sich in den Reservaten die Familien durch Subsistenzlandwirtschaft selbst ernährten, während die männlichen Arbeitskräfte, deren physische Reproduktionskosten auf diese Weise minimal gehalten wurden, in den dynamischen Sektoren beschäftigt wurden. [...] Als in den 1930er Jahren in den USA erstmals eine Art von humaner Indianerpolitik realisiert wurde, war es für ein genuines Indian revival zu spät. In Südafrika stand damals das Maximum an Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit noch bevor." (S.508/09)
- Turner in Südafrika
"Auf keine andere Interpretation einer Nationalgeschichte außer derjenigen der USA ist die Frontier-These öfter, nachhaltiger, aber auch kontroverser angewendet worden als auf die südafrikanische. [...] Die Frontier des 19. Jahrhunderts wird ebensowenig wie die Sklaverei am Kap (vor der Abschaffung der Sklaverei im British Empire 1833/34) als unmittelbare Quelle der Apartheid gesehen. Beides, Sklaverei wie Frontier, trug jedoch dazu bei, dass sich bereits im späten 19. Jahrhundert eine (auch religiös motivierte) kulturelle Überheblichkeit der Weißen sowie Praktiken scharfer Ausgrenzung herausbildeten.Die Frontier-These liefert keinen Generalschlüssel zur Geschichte Südafrikas, weist aber auf die große Bedeutung von Geographie und Umwelteinflüssen für die Herausbildung sozialer Haltungen hin.
Das Turnersehe Motiv der Emergenz von Freiheit an der Frontier findet sich in Südafrika nur in gebrochener Weise. Der burische Exodus vom Kap ins Landesinnere war unter anderem auch eine Reaktion auf eine soziale Revolution: die Befreiung der Sklaven am Kap 1834. [...] Der Auszug der Treckburen aus der (relativ) urbanen und weltoffenen Kapkolonie war, politisch gesehen, eine Flucht vor solchem rechtlichen Egalitarismus." (S.510/11) "Die Buren wiederum wollten in ihren isolierten Republiken in Ruhe gelassen werden und strebten nicht nach einer Eroberung des Kaps. Der 1886 beginnende «Goldrausch» am Witwatersrand störte diese Selbstgenügsamkeit. Die Buren wollten von den neuen Reichtümern durchaus profitieren und ließen britischen Kapitalisten freie Hand, sorgten aber dafür, die politische Macht in der Hand zu behalten. [...] Der Südafrikanische Krieg oder Burenkrieg von 1899-1902 entstand aus einer solchen Gemengelage. Er endete mit dem militärischen Sieg einer Imperialmacht, die sich ungewöhnlich verausgaben musste, um einen militärisch scheinbar belanglosen Gegner niederzuringen, und der nun Zweifel kamen, ob koloniale Vorherrschaft - zumal gegen andere Weiße zu einem solch hohen Preis durchgesetzt werden solle.
Die burische Gesellschaft auf dem Hohen Veldt war durch den Krieg tief verwundet worden; ein Zehntel der Bevölkerung war umgekommen. Die Buren stellten aber weiterhin die große Mehrheit unter der weißen Bevölkerung Südafrikas, und sie kontrollierten die Landwirtschaft. Andere Bundesgenossen gab es für die Briten im Land nicht. Da ein permanentes Besatzungsregime nicht in Frage kam, musste man sich mit den unterlegenen Buren arrangieren.[...] Anders als in Argentinien, wo die Macht der Gaucho-Frontier bald zerschlagen wurde, eroberte in Südafrika die Frontier-Peripherie das politische Zentrum und prägte ihm fast das ganze 20. Jahrhundert über ihren Stempel auf. [...] Für die politische Entwicklung der USA war der Bürgerkrieg das, was für Südafrika der Burenkrieg bedeutete - allerdings in einem wesentlich komprimierteren Zeitablauf. Die Sezession der Südstaaten der USA von der Union 1860/61 war ein Äquivalent des Großen Trecks, und die Pflanzerdemokratie der Südstaaten vor der Sezession zeigt große Ähnlichkeiten mit dem gleichzeitigen Herrenvolk-Republikanismus der burischen Pioniere, [...] In den großen Kompromissen nach dem jeweiligen Kriegsende von 1865 in den USA und 1902 in Südafrika vermochten die unterlegenen weißen Parteien ihre Interessen und Werte in hohem Maße zur Geltung zu bringen - in beiden Fällen auf Kosten der Schwarzen. Offensichtlich hat aber in den USA die Frontier nicht in derselben Weise gesiegt wie in Südafrika: Die Werte und Symbole des eigentlichen 'Wilden Westens' machten sich nicht auf der Ebene der politischen Ordnung, sondern als Ingredienzien des amerikanischen Kollektivbewusstseins und 'Nationalcharakters' bemerkbar." (S.512/13)
4 Eurasien
513
5 Siedlungskolonialismus
531
6 Natureroberung: Invasionen der Biosphäre
541
Imperien und Nationalstaaten (S. 565 ff.)
Tendenzen: Großmachtdiplomatie und imperiale Expansion
"Imperien und Nationalstaaten waren im 19. Jahrhundert die größten politischen Ordnungseinheiten menschlichen Zusammenlebens." (S.565)
"Das 19.Jahrhundert war die Geburtsepoche der internationalen Beziehungen, wie wir sie heute kennen. Das ist in den letzten Jahren umso deutlicher geworden, als nach dem Ende der "bipolaren" atomaren Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion manche Muster der Kriegführung und des internationalen Verhaltens erneut in den Vordergrund getreten sind, die an die Zeit vor dem Kalten Krieg oder gar vor den beiden Weltkriegen erinnern." (S.566/67)
" Fünf große Entwicklungen sind im 19.Jahrhundert festzustellen:" (S.567)
- "Volksbewaffnung"
- Staatsräson
- Entwicklung der Waffentechnik
- "Das europäische Staatensystem, welches in seinen Grundzügen bereits im 17. Jahrhundert geschaffen worden war, wurde im Verlauf des 19.Jahrhunderts zu einem Weltstaatensystem erweitert." (S.570)
- Aufstieg und Fall der europäischen Staatenordnung
"Am Ende des Krimkriegs wurde die Chance verpasst, die Wiener Ordnung auf zeitgemäße Weise zu erneuern. Nach dem Krimkrieg konnte von einem funktionierenden "Konzert der Mächte" nicht länger die Rede sein. In diesem normativen Vakuum schlug die Stunde machiavellistischer «Realpolitiker» (der Begriff * "Realpolitik" wurde im Deutschen 1853 geprägt), die ohne Skrupel internationale Spannungen oder gar Krieg riskierten, um ihre Pläne zur Bildung neuer, großer Nationalstaaten durchzusetzen." (S.573) [ Camillo Benso Graf von Cavour; Otto von Bismarck ]
"1905 war der Schritt vom europäischen Staatensystem zum Weltstaatensystem unwiderruflich getan." (S.575) [Zu den fünf europäischen Mächten waren die USA und Japan hinzugekommen.]
- Metamorphose der Imperien
"Neben dieser Großerzählung von Erneuerung, Erosion und Katastrophe des europäischen Staatensystems steht eine zweite Geschichte. Sie trägt den Titel "Überseeexpansion und Imperialismus". (S.573)
"Diese zweite Großgeschichte mündet nicht so direkt wie die erste in den Weltkrieg der Jahre 1914 bis 1918. Bereits mehrere Jahre vor 1914 stabilisierte sich die koloniale Welt." (S.578)
Wege zum Nationalstaat
- Reichssemantik
"Ein Reich lässt sich daher durch seine Selbstbeschreibung nicht zureichend identifizieren, und der Ausweg, alles als ein Reich zu betrachten, was sich so nennt, ist keiner, der überzeugt. Ein Reich muss also strukturell, durch beobachtbare Merkmale beschrieben werden können." (S.581)
- Nationalstaat und Nationalismus
"Wenn auch das 19.Jahrhundert kein «Zeitalter der Nationalstaaten» war, so doch immerhin zweierlei: Zum einen war es die Epoche des Nationalismus, in der diese neue Denkweise und politische Mythologie entstand, als Doktrin und Programm formuliert und als massenbewegendes Sentiment mobilisierend wirksam wurde. Der Nationalismus hatte von vornherein eine starke anti-imperiale Komponente." (S.584)
Im Folgenden erläutert Osterhammel, dass es sehr schwer zu entscheiden sei, wann eine Nationalstaatsbildung abgeschlossen sei. Äußerlich sei er es zwar, "wenn er von einer großen Mehrheit der Staatengemeinschaft als unabhängiger Akteur anerkannt" (S.585) sei, bis zum Abschluss der inneren Entwicklung könne es aber noch viele Jahrzehnte dauern. Außerdem unterscheidet er drei Wege zum Nationalstaat: 1. die revolutionäre Verselbständigung 2. die vielköpfige Föderation oder die hegemoniale Vereinigung 3. die evolutionäre Autonomisierung (Beispiel: Trennung von Schweden und Norwegen nach einem Prozess politischer Entfremdung 1905) (S.586-596) Danach erläutert er die Sonderwege Japan und USA sowie den Fall, dass ein vorheriges Kolonialreich durch den Verlust seiner Kolonien zu einem Nationalstaat schrumpft ("verlassene Zentren" S.601).
Imperien - Was sie zusammenhält
Das 19. Jahrhundert war "Ein Jahrhundert der Imperien" (S.603), es entstanden nur wenige neue Nationalstaaten, vielmehr "verminderte sich die Zahl selbständiger politischer Einheiten auf den beiden Kontinenten in einer historisch beispiellosen Weise. [...] In Afrika waren an die Stelle der vermutlich mehreren Tausend politischer Einheiten, die es noch um 1800 gab, hundert Jahre später etwa vierzig separat verwaltete Kolonialgebiete der Franzosen, Briten, Portugiesen, Deutschen und Belgier getreten." (S.603/04) "Das 20. Jahrhundert war die große Epoche des Nationalstaates. Im 19.Jahrhundert war das Imperium, noch nicht der Nationalstaat, die im Weltmaßstab dominante territoriale Organisationsform von Macht." (S.606) Osterhammel stellt acht Unterschiede zwischen Nationalstaaten und Imperien heraus und erläutert die Unterschiede der Integration. Ein Imperium lebt von der "Fähigkeit zur Aufstandsunterdrückung" (S.610), weil es "politische Integration ohne soziale Integration" (S.612) betreibt. So kommt es zur "Globalisierung der Gewalt" (S.611).
"Imperialistische Politik geht von einer Hierarchie der Völker aus, immer einer von Starken und Schwachen, meist kulturell oder rassisch abgestuft." (S.621) Zunächst spielten Rohstoffe für die Imperien nur von Fall zu Fall eine Rolle, doch das änderte sich: "Öl war der wichtigste Anlass für diese strategische Aufwertung von Bodenschätzen, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann." (S.622) " Was auf den ersten Blick oder in einer sehr abstrakten theoretischen Perspektive wie ein geschlossener Imperialismus anmutet, zerfällt, wenn man genauer hinsehen will, in den Plural der Imperialismen." (S.623)
Den "Binnenkolonialismus in den USA" (S.643) rechnet Osterhammel zu den "sekundären Reichsbildungen" (S.639). "Der Mythos vom kulturellen "Schmelztiegel", realitätsfern wie er war, wurde niemals zum nationalen Grundverständnis." (S.646)
- Pax Britannica
"Lange gehörte es zur Selbstauffassungvon Oberschicht und Intellektuellen in Großbritannien, dass das Land vom Virus des Nationalismus verschont geblieben sei. [...] Das wird man heute nicht mehr so sagen wollen. Charakteristisch war vielmehr die Paradoxie eines imperialen Nationalismus. Er entstand in den 1790er Jahren als ein Nationalgefühl, das seine Energie weitgehend aus den imperialen Erfolgen der Zeit zog." (S.647) "Daher war das britische Verhältnis zur Welt im gesamten 19.Jahrhundert stark zivilisationsmissionarisch grundiert. Der Topos, von Despotie unterdrückte und von nichtchristlichem Aberglauben umnachtete Völker befreien zu müssen, übte eine selten versagende Wirkung aus. Großbritannien war das Land, in dem die Idee humanitärer Interventionen geboren wurde" (S.648)
"Zwischen 1688 und 1815 verdreifachte sich das britische Bruttosozialprodukt, während die Steuereinnahmen um den Faktor 15 stiegen." (S.650) "Noch 1890 verfügte Großbritannien über mehr zivile Schiffstonnage als der Rest der Welt insgesamt." (S.651)
Anders als andere Imperien schottete sich das britische Empire nicht ab, sondern führte den Freihandel ein. "Einzigartig und geradezu revolutionär war, dass Großbritannien diese Maßnahmen unilateral verfügte, also keine entsprechenden Gegenleistungen seiner Handelspartner erwartete. Dennoch löste dies eine Kettenreaktion aus" (S.653) "Großbritannien übte mit seinem weltweiten imperial system eine Art von "gütiger" (benign) - im Unterschied zu egoistisch-räuberischer- Hegemonie aus. Es stellte öffentliche Güter (public goods) kostenfrei zur Verfügung: die Gewährleistung von Recht und Ordnung auf den Weltmeeren (dazu gehörte der Kampf gegen verbliebene Piraten), die Sicherung von Eigentumsrechten über nationale und kulturelle Grenzen hinaus, Freizügigkeit der Migration, ein egalitäres und generalisiertes Zollregime, ein System von Freihandelsverträgen, an dem andere über die Meistbegünstigungsklausel automatisch beteiligt waren. Diese Klausel, der wichtigste juristische Mechanismus globaler Liberalisierung, besagte, dass die jeweils günstigsten Bestimmungen eines Vertragswerks automatisch allen Beteiligten zugute kommen würden." (S.654)
"Dies ist ein weiteres imperiales Paradox: Für das Großbritannien der Industrialisierungsepoche und der klassischen Pax Britannica war das Empire wirtschaftlich weniger wichtig als vor dem "Verlust" der USA und nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929." (S.661/62)
Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen
Der kurvenreiche Weg zum Weltstaatensystem
Staatliche außenpolitische Akteure bilden zusammen eine Staatenwelt. Wenn ihre Beziehungen untereinander geordnet sind, spricht man von Staatensystem. "Wird ein Staatensystem durch Institutionen und normative Verbindlichkeiten mit friedensstiftender Tendenz zusammengehalten, ohne bereits die höheren Integrationsstufen eines Staatenbundes oder gar Bundesstaates zu erreichen, ist die Bezeichnung "Staatengemeinschaft" (international society) angebracht." (S.673)
Das europäische Staatensystem folgte ab 1815 vereinbarten Regeln, doch die galten nur in Europa, nicht gegenüber außereuropäischen Mächten. Es fand eine "bewusste Entglobalisierung der internationalen Politik" (S.679) statt.
Ordnungsräume
- Amerika
Mit der Monroe-Doktrin entwickelte sich Gesamtamerika zu einem Raum, wo die USA als Ordnungsmacht anerkannt waren. Großbritannien verzichtete schon bald darauf, ihnen diese Rolle streitig zu machen. "1904 ergänzte Präsident Theodore Roosevelt die Monroe-Doktrin durch einen Zusatz (corollary), in dem sich die USA das Recht zur "zivilisierenden" Intervention in ganz Südamerika herausnahmen. Damit war Monroes ursprüngliche Position auf den Kopf gestellt. Er hatte lateinamerikanische Revolutionen geschützt, Roosevelt wollte gegen sie vorgehen." (S.686)
- Asien
"Die britische Eroberung Indiens ist nur zu erklären durch eine Machtergreifung aus dem Inneren der indischen Staatenwelt heraus, [...] die Diplomatie von "Residenten" an den malaiischen Sultanshöfen blieb eine noch lange gepflegte Kunst." (S.687/88) Japan und China konnten aber nicht so gelenkt werden. Japan gelang relativ rasch der Eintritt als gleichberechtigter Partner. " Die Inkorporation Chinas in die Weltstaatenordnung verlief ungleich langwieriger und hindernisreicher als diejenige Japans. Anders als im japanischen Fall handelte es sich um einen wahren Zusammenstoß von Imperien." (S.691)
Kriege: Friedliches Europa, friedloses Asien und Afrika
Meist konnten sich die europäischen Kolonialmächte in Asien und Afrika durchsetzen. Ausnahmen wie die britische Niederlage gegen die Zulus bei Isandhlwana oder der Italiener gegen die Äthiopier bei Adua wurden daher von den Europäern traumatisch erlebt. Ihre Erfolge waren auch nicht allein auf die überlegene Bewaffnung zurückzuführen, sondern ganz wesentlich auf "die bessere Organisation der Logistik und die Fähigkeit, nach dem indischen Sepoy-Prinzip einheimische Hilfstruppen zu rekrutieren." (S.701)
Diplomatie
"Hatten europäische Diplomaten bis dahin die örtlichen Praktiken im Prinzip akzeptiert, so sah man seit den 1790er Jahren die Spielregeln der europäischen Diplomatie als allgemeinverbindlich an." (S.712) "Es ist nahezu ein Gemeinplatz zu sagen, die Zeit zwischen etwa 1815 und 1870 sei das klassische Zeitalter der Außenpolitik als reinem Machtspiel aristokratischer Experten gewesen. Bis dahin verhinderten dynastische Rücksichten oft eine «realistische» Außenpolitik, und die Professionalisierung der Diplomatie stand erst in den Anfängen. Danach machten sich Presse und Wählerstimmung als plebejische Störfaktoren bemerkbar." (S.721)
Internationalismen und normative Universalisierung
- Das Rote Kreuz "eine wichtige Etappe im Wachstum eines "internationalen Gewissens". (S.725)
- Internationale Arbeiterbewegung
- Anarchismus "war im Grunde überall Exilpolitik und konspirative Aktion; Grenzüberschreitung gehörte zu seinem Wesen." (S.726)
- Frauenbewegung entstand "fast überall dort, wo "die Demokratisierung für Männer auf der Tagesordnung stand". (S.726)
"Anders als die Arbeiter- und die Frauenbewegung, erstrebte der Pazifismus von vornherein nicht die Repräsentation in nationalen politischen Systemen. [...] Für die Kolonien, die ja keine eigenen kriegführenden Subjekte sein konnten, war Pazifismus als internationale Haltung wenig relevant (Gandhis spätere Politik der Gewaltlosigkeit war eine Strategie des inneren Ungehorsams). (S.729)
"Verträge mit starker Bindungswirkung, gestützt durch periodisch zusammentretende Konferenzen von Experten, griffen einem übernationalen Recht vor, das es noch nicht gab. Das Ergebnis war eine historisch beispiellose "Normierung" auf zahlreichen Gebieten der Technik, der Kommunikation und des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs." (S.731) "Die entscheidende Gründungsperiode für IGOs, also von Regierungen geförderte International Governmental Organizations, waren die 1860er Jahre, das Jahrzehnt, in der auch die Nichtregierungs-Organisation des Roten Kreuzes entstand. Beginnend mit der Internationalen Telegraphenunion 1865 wurden bis zum Ersten Weltkrieg mehr als dreißig Organisationen dieser Art gegründet." (S.733)
"Der "asymmetrische" Kolonialkrieg wurde zu einer der charakteristischen Gewaltformen der Epoche. [...] Erstmals seit Jahrhunderten gab es in ganz Afrika, in der gesamten muslimischen Welt und auf dem eurasischen Kontinent östlich von Russland keinen einzigen Staat mehr, der imstande war, seine Grenzen erfolgreich zu verteidigen [...]" (S.734)
Revolutionen (S.736ff.)
Nach der Erörterung von Revolutionsdefinitionen erläutert Osterhammel am Beispiel der amerikanischen und der französischen Revolution das Neue der beiden "Aufklärungsrevolutionen", das den Beginn der 'politischen Moderne' bedeute:
"Hatten frühere gewaltsame Umwälzungen doch immer wieder nur zu den bloß äußerlich modifizierten früheren Zuständen zurückgeführt, so sprengten die amerikanischen und die französischen Revolutionäre den Horizont der Zeit, öffneten eine Bahn linearen Fortschritts, fundierten gesellschaftliches Zusammenleben erstmals auf dem Prinzip formaler Gleichheit und unterstellten politische Machthaber einer regelgeleiteten, von Traditionen wie von Charisma gelösten Rechenschaftspflicht gegenüber einer Gemeinschaft von Staatsbürgern. Mit diesen beiden Revolutionen, so unterschiedlich sie gemeint gewesen waren, begann die politische Moderne. Nichts an ihnen blickte zurück, war frühneuzeitlich. Sie setzten Maßstäbe, an denen alles neu gemessen wurde. Erst seit den beiden Revolutionen des Aufklärungszeitalters trugen die Verteidiger des Bestehenden den Stempel des Überholten, Gegenrevolutionären, Reaktionären oder mussten ihre Haltung als bewusst konservativ neu begründen." (S.737)
"Nimmt man die Programme der Nordamerikanischen und der Französischen Revolution beim Wort, dann gehören seither zu jeder Revolution, die sich so nennen darf, das 'Pathos des Neubeginns' (Arendt) und der Anspruch, mehr zu vertreten als nur die selbstsüchtigen Interessen der Protestierenden. Eine Revolution ist in diesem Verständnis ein lokales Ereignis mit universalem Geltungsanspruch. Und jede spätere Revolution zehrt von den Ideenpotenzialen, die mit der revolutionären Urzeugung von 1776 und 1789 in die Welt kamen, jede ist in gewissem Sinne imitativ." (S.738)
"Die Revolution selbst kann mit ihrer unvermeidlichen 'Veralltäglichung' ihren Massenimpuls verlieren und in ein bürokratisches Regime übergehen, das manche Ziele der Revolution mittels der Instrumente der Staatsmacht durchsetzt, oft ohne, gegen oder gar auf Kosten der Revolutionäre der ersten Stunde. Napoleon und Stalin waren 'Revolutionäre von oben' dieses Typs." (S.742)
In Japan fand statt "das radikalste Experiment einer Revolution 'von oben', zugleich aber eines, das diesen Namen verschmähte und sich selbst als angebliche Wiederherstellung früherer Zustände legitimierte: die "Meiji-Renovation" in Japan nach 1868. [...] Diese besondere Art einer nicht gegenrevolutionär motivierten und auch in keiner Weise universale Prinzipien propagierenden Erneuerung unter dem Gesichtspunkt rapider Effizienzsteigerung war im eigenen Lande von ebenso einschneidender Wirkung wie die Nordamerikanische und die Französische Revolution in ihren jeweiligen Ursprungsländern. Der historische Kontext war aber nicht das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit und mangelnde Mitsprache, sondern das 'Fitmachen' einer werdenden Nation für einen globalen Wettbewerb, dessen neuartige Regeln man von Anfang an anerkannte und für sich zu nutzen suchte. [...] Die Meiji-Renovation muss an anderer Stelle historisch eingeordnet werden: Sie war die radikalste und erfolgreichste Selbststärkungsaktion des 19.Jahrhunderts [...]" (S.742/43)
"Da in der Neuzeit Revolutionen oft als die Gründungsakte von Nationen und Nationalstaaten gesehen werden, ist Revolutionsgeschichte ihrem Wesen nach Nationalgeschichte. Die Nation 'erfindet' sich in der gemeinsamen Anstrengung der Revolution." (S.748)[2]
Eurasische Revolutionen nach 1900 (S.798ff.)
Die eurasischen Revolutionen in Russland, Iran, Türkei und China am Anfang des 20. Jahrhunderts haben zwei Hauptgemeinsamkeiten: Erstens richteten sie sich gegen Despoten, die über weit uneingeschränktere Macht verfügten als die beiden Monarchen Ludwig XVI in Frankreich und Georg III gegenüber den nordamerikanischen Kolonien, gegen die sich die großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts. richteten. Zweitens hatten sie gemeinsam die Forderung nach einer Verfassung. Insofern hatten sie die revolutionäre Entwicklung in Europa und in Japan im 19. Jahrhundert als Vorbild. Davon abgesehen haben sich diese Revolutionen aber durchaus recht unterschiedlich entwickelt, auch wenn bei allen Militär und Bürokratie und (mit der Ausnahme China) auch die Intelligentsia eine wichtige Rolle spielten.
Staat (S.818ff.)
Ordnung und Kommunikation: Der Staat und das Politische
"In keinem anderen Jahrhundert dürfte die Vielfalt politischer Formen größer gewesen sein als im neunzehnten. Zwischen der völligen Staatslosigkeit kleiner Jägergemeinschaften und den ausdifferenzierten politischen Systemen von Imperien und Nationalstaaten spannte sich ein breites Spektrum von Gestalten des Politischen. Bis zur Ankunft des europäischen Kolonialismus, in den einzelnen Teilen der Welt ganz unterschiedlich datiert, herrschte eine große Mannigfaltigkeit der Arten und Weisen, auch ohne einen institutionell kristallisierten "Staat" neuzeitlich-europäischen Typs Macht zu generieren und auszuüben und die Angelegenheiten des Gemeinschaftslebens zu regeln. Diese Varianten eines vorstaatlichen Politischen wurden erst allmählich durch den kolonialen Staat, der von Fall und Fall in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen auftrat, absorbiert und zumindest modifiziert. [...] Man weiß heute, dass die «absoluten» Monarchien Europas, vielleicht mit Ausnahme des petrinischen Zarentums, gar nicht so absolut und unumschränkt handlungsfähig waren, wie es zeitgenössische Apologeten und spätere Historiker darzustellen liebten. [...] Die europäischen Monarchien um die Mitte des 18.Jahrhunderts waren das Ergebnis einer Evolution, die nicht vor dem 16.Jahrhundert begonnen hatte. Das Gleiche gilt für die monarchischen Systeme Asiens. Sie stammten ebenfalls nicht aus unvordenklichen Zeiten. Vielmehr waren sie in der Form, die sie im 18.Jahrhundert angenommen hatten, Produkte militärischer Reichsbildungen, die nicht allzu lange zurücklagen. Die politischen Ordnungen Eurasiens um die Mitte des 18.Jahrhunderts waren vornehmlich junge, neuzeitliche Monarchien. [...] Eine weitere Neuentwicklung der frühen Neuzeit war der europäische Kolonialstaat in Übersee, einstweilen auf die westliche Hemisphäre beschränkt, seit den 1760er Jahren dann auch nach Indien übertragen. Er war einerseits Ableger und Kopie europäischer Staatsformen, passte sich andererseits aber den lokalen Gegebenheiten an. Auch dieser Typus von Staat hielt sich im 19.Jahrhundert, dabei vielfältige Wandlungen durchlaufend. Mit seinem Zusammenbruch in Nordamerika in den 1770er Jahren begann innerhalb kurzer Zeit eine ganz neue Entwicklung von größter Tragweite: der Aufstieg des republikanischen Verfassungsstaates. [...]" (S.818/19)
"Dies waren die großen Linien staatlicher Entwicklung im 19.Jahrhundert:
• Aufbau militarisierter Industriestaaten mit neuartigen Kapazitäten für empire-building;
• Erfindung der "modernen" Staatsbürokratie; • Ausbau des Staates zum systematisch die "Gesellschaft" abschöpfenden Steuerstaat;
• Neudefinition des Staates als Anbieter von public goods (z,B. Daseinsvorsorge, Sozialleistungen, Infrastrukturausbau usw.);
• Entstehung des Rechts- und Verfassungsstaates, begleitet von der neuen Idee des Staatsbürgers (citizen) mit legitimem Anspruch auf Wahrung von Privatinteressen und Mitsprache am politischen Geschehen;
• Diskreditierung der Idee von Herrschaftslegitimation durch Geburt, von daher Unterminierung der Monarchie als "normaler" politischer Form, die allerdings in der Praxis ein großes Beharrungsvermögen zeigte;
• Entstehung der Diktatur als Formalisierung von Klientelbeziehungen und/oder Ausübung akklamierter Technokratenherrschaft.
Keineswegs gingen alle diese Tendenzen von Europa aus und verbreiteten sich durch bewussten Export oder schleichende Diffusion allmählich über die ganze Welt. Einige von ihnen waren durchaus nichteuropäischen Ursprungs: Der moderne Verfassungsstaat entstand in Nordamerika auf der Grundlage der englischen Glorious Revolution von 1688 und ihrer politiktheoretischen Begründung. Die post-monarchische Diktatur florierte zuerst in Südamerika." (S.820/21)
"Das Gewaltmonopol ist also nicht ein gleichsam naturgegebenes Definitionsmerkmal des «modernen» Staates, sondern ein historischer Extremzustand, der nur vorübergehend angestrebt und erreicht wurde. In revolutionären Zeiten brach ein solches Gewaltmonopol schnell zusammen. [...] Gewaltmonopole lassen sich nur aufrechterhalten, solange ein zentraler Staat kriegerische Eliten domestiziert und solange er einem großen Teil der Bevölkerung das Gefühl vermittelt, effektiv für Recht und Ordnung sorgen zu können. Ist dies nicht der Fall, öffnen sich private Gewaltmärkte. Die Sozialisierung von Gewalt kann dann sehr schnell in ihre Privatisierung umkippen. In einer der stabilsten Demokratien, den USA, waren beide Kräfte eng miteinander verwoben." (S.822)
"Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, politische Ordnungen zu typologisieren. [...] Ein Kriterium, das sich auf die Übergangszeit des 19.Jahrhunderts gut anwenden lässt, ist das der Kontrolle von Macht.[...] Um 1900 findet man unter diesem Gesichtspunkt folgende Grundtypen politischer Ordnung: Autokratien, in denen der Wille eines einzelnen Fürsten, der mit der Hilfe von Beraterstäben regierte, letzte Gültigkeit hatte (durchaus auch im Rahmen einer gewissen Rechtsordnung), waren selten geworden. [...] Diktaturen sind postrevolutionäre oder aus Republiken hervorgegangene Systeme, in denen ein Einzelner, meist umgeben von einer kleineren Gruppe von Helfern und untergeordneten Machthabern, ähnliche Handlungsmöglichkeiten besitzt wie ein absoluter Monarch. Es fehlt ihm allerdings die Sanktionierung durch Tradition, dynastische Legitimität oder religiöse Weihe. [...] In konstitutionellen Monarchien, in jener Form jedenfalls, die dieser Staatstyp um 1900 angenommen hatte, war zwar durch eine geschriebene Verfassung ein gewisses Maß an parlamentarischer Repräsentation und Mitsprache vorgesehen, doch konnte das Parlament eine vom Fürsten berufene Regierung nicht stürzen. Die Exekutive wurde nicht aus dem Parlament heraus gebildet, und sie war ihm gegenüber nicht wirklich verantwortlich. [...] Systeme parlamentarischer Verantwortlichkeit konnten ein monarchisches (wie in Großbritannien oder den Niederlanden) oder auch ein republikanisches (wie im Frankreich der III. Republik) Staatsoberhaupt besitzen. Dies war von nachgeordneter Bedeutung hinter der Tatsache, dass sich die Exekutive aus dem gewählten Parlament heraus konstituierte und von diesem Parlament wieder abberufen werden konnte." (S.822-25) "Zur Ergänzung der bereits unterschiedenen vier Spielarten von Machtausübung und ihren Grenzen kann man eine fünfte Restkategorie annehmen, die eine Fülle unterschiedlicher Möglichkeiten relativ schwacher Institutionalisierung aufnimmt. Es handelt sich, auf den allgemeinsten Nenner gebracht, um Gefolgschaftsbeziehungen oder Patron-Klient-Verhältnisse, bei denen, durch das Herkommen getragen (darin liegt ein Unterschied zur Diktatur), ein Fürst, Häuptling oder big man (auch Frauen konnten diese Rollen gelegentlich füllen) Protektion bietet und als Fokus der symbolischen Einheit der Gemeinschaft dient. Es mag hier auch einzelne Ämter geben, aber keine von Personen relativ unabhängige Ämterhierarchie. [...] Politische Systeme dieser Art gab es zu Beginn des 19.Jahrhunderts unter ganz unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen auf allen Kontinenten einschließlich der pazifischen Inselwelt. Sie machten dem europäischen Kolonialismus das "Andocken" relativ leicht, konnten die Europäer doch nach der Eroberungsphase versuchen, sich als Oberpatrone an die Spitze von Gefolgschaftsketten zu setzen." (S.826)
Neuerfindungen der Monarchie
"[...] Nach 1815 war zunächst unter allen größeren europäischen Staaten allein die Schweiz nicht monarchisch verfasst. [...] Es gab Herrscher mit einigen Tausend und solche mit mehreren Hundert Millionen Untertanen, direkt regierende Autokraten und Fürsten, die sich mit einer rein zeremoniellen Rolle zufriedengeben mussten. Gemeinsam war einem kleinen Königtum im Himalaya oder auf einer Südseeinsel und den gekrönten Staatsoberhäuptern in London oder St. Petersburg vor allem zweierlei: zum einen die dynastische Legitimation, welche die Königs- oder Kaiserwürde erblich machte, zum anderen die Aura des Throns, die seinem Inhaber, unabhängig von seinen persönlichen Qualitäten ein Grundmaß an Respekt und Verehrung verschaffte. [...] Die Königs- und Kaiserhäuser Asiens und Afrikas, die sich bis ins vierte Quartal des 20. Jahrhunderts - und manchmal bis heute - gehalten haben, finden sich überwiegend in Ländern, die keiner Kolonialherrschaft unterlagen: allen voran Japan und Thailand, daneben auch Afghanistan (bis 1973) und Äthiopien (bis 1974). [...] Die Monarchie selbst stand jenseits aller Kritik, aber der einzelne Inhaber des Throns musste sich bewähren. Gerade weil die Monarchie vielfältige Aufgaben zu erfüllen und disparate Erwartungen zu befriedigen hatte, riss ihre Abschaffung durch die koloniale Revolution solch tiefe Löcher in das Sinngeflecht asiatischer Gesellschaften. Übergänge waren dort besonders schwierig, wo selbst ein Minimum an monarchischer Verbindung zum Symbolrepertoire der Vergangenheit fehlte und wo nach dem Ende des Kolonialstaats nur das Militär oder eine kommunistische Partei als Träger nationaler Zentralisierung übrig blieb." (S.828-34)
Demokratie
"[...] Es ist noch nicht einmal ganz sicher, ob um 1900 ein größerer Teil der Weltbevölkerung einen unmittelbaren Einfluss auf ihr eigenes politisches Schicksal zu nehmen vermochte als ein Jahrhundert früher. In Westeuropa und Amerika war dies gewiss der Fall, doch bleibt als große Unbekannte die nicht bezifferbare Einschränkung von Partizipationsmöglichkeiten, die der Kolonialismus mit sich brachte. [...] Die Amerikanische und die Französische Revolution formulierten das Ideal der Volksherrschaft und legten es in ihren Verfassungen nieder. In der Nachfolge Jean-Jacques Rousseaus wurden vor allem in Frankreich solch weitgehende Ideale ungebremster Artikulation und Durchsetzung eines Volkswillens formuliert, wie sie bis heute so gut wie nie verwirklicht wurden. Schon die nordamerikanischen Verfassungsväter hatten freilich der Tyrannei eines ungeteilten Mehrheitswillens durch das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle und Ausbalancierung der Verfassungsorgane entgegengewirkt und sich zuweilen geradezu ängstlich gegen einen ungefilterten Ausdruck des Wählerwillens abgeschirmt. Die indirekte Bestimmung des Präsidenten durch Wahlmänner, die angesichts der Größe des Landes lange auch logistisch begründet war, bleibt bis heute als Relikt dieser Haltung. [...]" (S.848/49) "Das britische Konzept von rule of law verbreitete sich also durch das Vehikel des Empire auf allen Kontinenten. Trotz all seiner kolonialen Einfärbung war britisches Recht für Nichteuropäer nicht immer nachteiliger als der Rechtszustand in benachbarten Territorien unter einheimischer Herrschaft. [...] Unter den vielen rechtlichen Besonderheiten der USA war die wichtigste die Existenz eines Höchsten Gerichts, des Supreme Court, der 1803 die Aufgaben eines Verfassungsgerichtshofes übernahm. Nirgendwo unter den europäischen Verfassungsstaaten gab es solch einen unabhängigen Hüter der Verfassung, [...]" (S.852) "In den USA war der neuartige politische und rechtliche Status eines citizen ein Produkt der Revolution der 1770er Jahre: aus Untertanen der britischen Krone sollten Bürger einer amerikanischen Republik werden. Um 1900 waren Vorstellungen von einer Staatsbürgerrolle (citizenship) auch in Europa verbreitet. [...] Eine solche Einführung eines allgemeinen Staatsbürgerstatus setzte die kommunikative Kompaktheit und die homogenisierenden Tendenzen eines Nationalstaates voraus. [...] Eng verbunden mit dem Aufkommen demokratischer Politik ist das Entstehen einer "Öffentlichkeit"[3] als Raum von Geselligkeit und mündlicher sowie schriftlicher Kommunikation, angesiedelt in einem dritten Raum zwischen der Intimität des "privaten" Hauses und zeremoniell geregelter staatlicher Inszenierung. [...] Die Öffentlichkeit verlor ihren charakteristischen "Zwische"-Charakter in dem Maße, wie ihre Ausgangsbasis, die Privatsphäre, durch das manipulative Eigengewicht von Massenmedien unterminiert wurde. Am Ende dieses Prozesses war aus dem öffentlich räsonierenden citoyen ein ruhiggestellter Kulturkonsument geworden." (S.852/53) "Es besteht ein unmittelbarer wechselwirkender Zusammenhang zwischen Medientechnologie und Kommunikationsintensität. Überall dort, wo die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Buchdruckkultur gegeben sind, ist die Formierung einer Öffentlichkeit nicht weit. [...] Die technologische Entwicklung wirkte indes nicht als eine unabhängig treibende Kraft. Es konnte vorkommen, dass die Medientechnik im Prinzip verfügbar war, aber die Nachfrage nach Druckerzeugnissen fehlte. [...] Die öffentliche Kommunikation und ihr subversiver Inhalt nehmen in revolutionären Zeiten sprunghaft zu. Man kann darüber streiten, ob Kommunikation die Revolution gebiert oder ob es sich eher umgekehrt verhält. Auf sicherem Grund ist man, wenn man schlicht die Gleichzeitigkeit der Phänomene feststellt. [...] Wenn sich außerhalb des Okzidents im 19. Jahrhundert öffentliche Räume auftaten, dann ging dies nicht unbedingt allein auf Versuche zurück, den Westen zu imitieren. Innerhalb von Bürokratien (etwa der chinesischen oder der vietnamesischen), von Kirchen, Klöstern und Klerikergemeinschaften oder feudalen Strukturen (wie in Japan, wo die Sprecher einzelner regionaler Interessen miteinander wetteiferten), hatte es zuvor schon das institutionalisierte Dauergespräch über Belange der Allgemeinheit gegeben. [...] Die Öffentlichkeiten der Gelehrsamkeit und der Religion überschritten politische Grenzen verhältnismäßig leicht. [...] In besonders wenig egalitären Gesellschaften wie der Kastenordnung in den hinduistischen Regionen Indiens war gar nicht an die in Europa idealisierte "Gleichheit" der Kommunikationsteilnehmer zu denken. [... Doch:] Im frühen 19. Jahrhundert bildeten sich unter der englischsprachigen Elite zunächst Bengalens zahlreiche Assoziationen, die den kolonialen Staat kritisierten und ihre Interessen schriftlich zum Ausdruck brachten. Die gar nicht so allmächtige Kolonialmacht stand manchmal hilflos vor der Fülle von zivilem Streit und gerichtlicher Auseinandersetzung. Der Gerichtssaal wurde zur neuen Bühne des Statuswettbewerbs, und spektakuläre Verhandlungen erregten ein großes Publikumsinteresse. [...] "Das Interesse an "Zivilgesellschaft" hat die Aufmerksamkeit auf vorpolitische Formen "gesellschaftlicher" Selbstorganisation gelenkt. In Europa oder Amerika konnten dies Vereine, zweckgerichtete Bürgerinitiativen oder religiöse Gemeinden sein." (S.854-56)
THEMEN
Energie und Industrie
Industrialisierung
Die um 1900 auf der Welt erreichte Industrialisierung ging auf einen Innovationsschub nach 1760 in England zurück. Doch Industrialisierung ist "zumindest in ihren Anfängen, niemals ein nationales, sondern stets ein regionales Phänomen gewesen". (S.910) "Industrielle Revolution" ist zwar der gebräuchliche historische Fachausdruck für die Zeit nach 1760, aber die "Industrie war nie revolutionärer als heute." (S.916) Damals gab es Wachstumszahlen um 2 %. (8% wie in China um 2000 waren damals undenkbar.) "Dieses Wachstum erfolgte auf der Grundlage eines neuen Energieregimes, das fossile Energiequellen für die materielle Produktion erschließt" (S.916)
"Es war ein Vorzug der industriellen Produktionsweise, dass sie mindestens in einem Sinne nicht revolutionär war: Sie vernichtete nicht sämtliche früheren Formen der Wertschöpfung und schuf keine radikal neue Welt." (S.924) "Man hat oft von einer 'Zweiten Industriellen Revolution' gesprochen. Sinnvoller ist es, mit Werner Abelshauser von einer "'Zweiten wirtschaftlichen Revolution' zu sprechen. Sie bildete den modernen Konzern aus, wie er im 20. Jahrhundert zur dominierenden Unternehmensform werden sollte. Dieser neue Veränderungsschub [...] [war] [...] von unmittelbarer globaler Wirkung. (S.925) Anders als die Industrielle Revolution, deren Fernwirkung sich nur langsam entfaltete.
Neue Leittechnologien waren Stahl, Chemie und Elektrizität. Als Unternehmensform trat die Kapitalgesellschaft mehr und mehr an die Stelle von Priatunternehmen.
An die Stelle des "klassischen Wettbewerbsmechanismus" traten multinationale Konzerne, die "globale Vermarktungsnetze" gründeten. (S.925) So kam es zu "einer bis dahin beispiellosen direkten Durchdringung des Konsumgütermarktes." (S.925/26)
Das erst neu industrialisierte Japan hatte bei dieser Umstellung einen "Startvorteil", da es einigen Kaufmannshäusern gelang, als zaibatsu "große, stark diversifizierte Unternehmen, oft in Familienbesitz, die große Teile der Wirtschaft unter ihre oligopolistische Kontrolle brachten" (S.926) an der Spitze der Umstellung mitzuhalten.
Um 2000 herum fanden Regionalexperten heraus, dass "China und Japan, aber auch Teile Indiens und der muslimischen Welt im 17. und 18. Jahrhundert" (S.926/27) schon weit entwickelter waren, als bisher vermutet. "[...] desto rätselhafter wird die spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts unverkennbare Große Gabelung (great divergence) der Welt in wirtschaftliche Gewinner und Verlierer." (S.927)
Energieregime: Das Jahrhundert der Kohle
"Energie wurde zu einem Leitmotiv des ganzen Jahrhunderts. [...] Nicht länger der frühneuzeitliche Mechanismus, sondern der dynamische Kraftzusammenhang war das naturwissenschaftliche Leitbild des 19. Jahrhunderts." (S.929) Naturwissenschaftler: Volta, Helmholtz, Maxwell, William Thomson (Lord Kelvin), Werner Siemens. "So hat man geschätzt, dass in Europa um 1750 Holz die Quelle von etwa der Hälfte des Energiekonsums war, in China zur gleichen Zeit aber nur von höchstens acht Prozent. Umgekehrt war menschliche Arbeitskraft in China um ein Mehrfaches wichtiger als in Europa." (S.930) "In Europa insgesamt lieferte Kohle bis um die Mitte des 19.Jahrhunderts nur einen winzigen Bruchteil der genutzten Energie. Erst danach ging der Anteil der traditionellen
Energiequellen zurück, während die Bedeutung der modernen Energielieferanten Kohle, später Öl, daneben auch der durch Staudämme und neuartige Turbinen besser nutzbaren Wasserkraft dramatisch zunahm. Die uns heute bekannte Pluralität der Energieformen ist ein Erbe der Industrialisierung. Sie folgte auf die jahrtausendelange Dominanz des Brennstoffs Holz [...]" (S.931)
"Zur «landwirtschaftlichen Revolution» in Europa gehörte die vermehrte Ersetzung von menschlicher Kraft durch die von Pferden. [...] In der englischen Landwirtschaft stieg die pro menschlicher Arbeitskraft zur Verfügung stehende Pferdeenergie zwischen 1800 und 1850, also auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution, um 21 Prozent. Erst nach 1925 ging in Großbritannien die Zahl von Pferden pro Hektar zurück [...] . Die Ersetzung von Pferden durch Traktoren erweiterte die Anbauflächen ohne neue Landerschließung, da weniger Boden für die Erzeugung von Pferdefutter [...] erforderlich war. [...] Die Reisökonomien Asiens [...] besaßen diesen wichtigen Puffer für eine effizienzsteigernde Modernisierung der Landwirtschaft nicht." (S.932)
"Die japanische Wirtschaft nutzte als eine der ersten in größtem Stile die Elektrizität, die teils aus Wasserkraft, teils aus Kohle gewonnen wurde und für die Industrie große Vorteile bot. Als in den sechziger Jahren die ersten Dampfmaschinen in Japan in Betrieb genommen wurden, hatte Japan gegenüber Großbritannien einen energietechnischen Rückstand von etwa achtzig Jahren. Um 1900 war dieser Rückstand vollkommen aufgeholt. "(S.933)
"Einige Regierungen erkannten die Notwendigkeit von Energiepolitik, andere nicht. In Russland unterblieb der Ausbau einer hinreichenden Montanbasis, weil die Regierung unter dem [...] Finanzminister Sergej J.Vitte einseitig Hightech-Projekte in Stahlindustrie und Maschinenbau förderte." (S.934)
"Erst in einer zweiten Phase, als sich die metallverarbeitende Industrie weiterentwickelt hatte, genügte die Qualität der japanischen Kohle nicht mehr. Die Mandschurei war unter anderem deshalb für Japan als Kolonialgebiet so interessant, weil dort höherwertige, für die Verkokung besser geeignete Kohlen zu gewinnen waren. [...] Es gibt wenige deutlichere Beispiele für «Ressourcenirnperialismus», also die Unterwerfung anderer Länder zum Zweck der Aneignung industriell notwendiger Rohstoffe. [...] China war ein potenzieller Energieriese, der in der ersten Phase seiner Industrialisierung die eigenen fossilen Energieträger nur sehr begrenzt nutzen konnte. Anders als in Japan gab es keine Zentralregierung, die Fragen der Energieversorgung Priorität in einer wirtschaftspolitischen Steuerung des industriellen Aufbaus hätte geben können. (S.935)
"Um 1910 oder 1920 zerfiel die Welt in die Minderheit derjenigen, die sich Zugang zu fossilen Energiespeichern geschaffen und die für deren Nutzung nötigen Infrastrukturen etabliert hatten, und die Mehrheit derer, die unter wachsendem Knappheitsdruck mit den traditionellen Energiequellen auskommen mussten. Deutlich wird der Abstand zwischen dem «Westen» und der übrigen Welt, wenn man sich die Verteilung der Welterzeugung von Kohle ansieht. Im Jahre 1900 entfielen auf Asien gerade einmal 2,82 Prozent, auf Australien 1,12 Prozent und auf Afrika 0,07 Prozent der Weltförderung." (S.936)
"War die Dampfmaschine zunächst ein leistungsfähigerer Energieerzeuger als das Wasserrad, so wurde sie von diesem in seiner neuen Gestalt als Wasserturbine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder überholt." (S.936)
"Insgesamt spricht vieles dafür, den Wechsel des Energieregimes als eines der wichtigsten Merkmale der Industrialisierung zu betrachten." (S.937)
Pfade wirtschaftlicher (Nicht-)Entwicklung
"Nach der Industrieleistung pro Kopf der Bevölkerung kalkuliert, [...] stand Großbritannien vor Deutschland an der Spitze. Belgien und die Schweiz wiesen dasselbe Industrialisierungsniveau auf wie das Deutsche Reich, Frankreich und Schweden folgten mit größerem Abstand. Keines der übrigen Länder Europas erreichte auch nur ein Drittel des britischen Pro-Kopf-Niveaus der industriellen Produktion; [...] Eine differenzierte Betrachtung Europas zeigt, dass von einem «industriellen Europa», das als Ganzes einem wirtschaftlich unmodernisierten Rest der Welt [...] gegenüberstand, nicht die Rede sein kann." (S.938) "Warum es den lateinamerikanischen Ländern nicht gelang, vor ihren Experimenten mit einer vom Staat geförderten importsubstituierenden Industrialisierung in der Zwischenkriegszeit Anschluss an die Industrialisierungsdynamik in Westeuropa, Nordamerika oder Japan zu finden, ist eine nach wie vor ungelöste Frage." (S.941)
"Nicht die verhaltene und vom Staat kaum angeleitete Entwicklung in der spätesten Kaiserzeit, sondern die Abbremsung des begonnenen Starts nach 1920 ist das charakteristischste Merkmal der chinesischen Industrialisierungsgeschichte vor dem großen Aufschwung nach 1980. [...] In China erwies sich trotz fehlenden Zollschutzes die dörfliche Hausweberei für den lokalen und regionalen Bedarf als ziemlich widerständig. Als im frühen 20. Jahrhundert Baumwollgarn aus den neuen Fabriken [...] das handgesponnene Garn zunehmend verdrängte, stellten sich die Weber auf Maschinengarn um und konnten auf diese Weise weiter wirtschaften." (S.943)
"Am Beginn der europäischen Industrialisierung stand also die Importsubstitution asiatischer Einfuhren [...] Dieses - von Indien und China aus gesehen - Wegbrechen der Exportmärkte, wie es ähnlich auch die osmanische Textilindustrie in der ersten Hälfte des 19.Jahrhundert erlebte, hatte katastrophale Auswirkungen für asiatische Regionen, die auf Tuchexporte spezialisiert waren." (S.944)
"Anders als in China engagierte sich in der indischen Baumwollindustrie kaum ausländisches Kapital" (S.944) "Wer immer nur auf den Handel zwischen Europa und Asien schaut, unterschätzt die Vitalität asiatischer Produzenten in ihrem näheren Umfeld. Vor allem dank ihrer Exporte nach China und Japan verneunfachte die indische Industrie ihren Anteil am Weltmarkt für Baumwollgarn von 4 Prozent I877 auf 36 Prozent 1892." (S.945)
Während in China die frühe Eisen- und Stahlindustrie [...] ganz auf behördliche Initiative zurückging, war die frühe indische Stahlindustrie einem einzigen Mann zu verdanken: Jamshedji Tata, [....] ein Zeitgenosse des 1842 geborenen deutschen Stahlbarons August Thyssen. (S.945)
Bei Japan "rätselt man [...] darüber, warum es dort «geklappt» hat. [...] Entscheidend war der Charakter der japanischen Industrialisierung als politisches Projekt, das gemeinsam von Staat und Unternehmern realisiert wurde. (S.947) "Anders als gleichzeitig das Zarenreich [...] und China [...] vermied Japan jegliche Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern, solange es außenpolitisch wegen der Ungleichen Verträge noch nicht voll souverän war und solange es ökonomisch verwundbar blieb, also bis in die 1890er Jahre. [...] Die Steuerpolitik des Meiji-Staates belastete systematisch eine Landwirtschaft, die zur gleichen Zeit steigende Erträge erzielte." (S.948) "Auch unternehmerische Pioniere sahen die Industrialisierung als ein gesamtjapanisches patriotisches Projekt und pflegten ein Motivensemble eher des Dienstes am Vaterland als individueller Profitmaximierung; [...] Diese nationale Einstellung hatte unter anderem die Folge, dass kostbares Wissen über den Umgang mit der Weltwirtschaft, Wissen, das die Japaner nach 1858 innerhalb kürzester Zeit erwerben mussten, schnell und großzügig über Firmengrenzen hinweg kommuniziert und damit weithin zugänglich wurde. (S.949)
"Eine Industrialisierung ganz ohne staatliche Hilfe, wie sie einige liberale Ökonomen für wünschenswert und möglich hielten, war historisch eine große Ausnahme. Keineswegs stehen sich zwei große Modelle der westlich-liberalen und der östlich-etatistischen Industrialisierung gegenüber." (S.950)
Kapitalismus
"Von Marx bis Weber war der Kapitalismus ein zentrales Thema der sozialwissenschaftlichen Zeitanalyse. Die Kapitalismustheorien, zu denen auch die radikal liberalen und sozialistischen Imperialismustheorien gezählt werden müssen, die genau gleichzeitig mit den Arbeiten Max Webers, Werner Sombarts und anderer Mitglieder der 'jüngeren historischen Schule' der deutschen Nationalökonomie entstanden, gehören zu den differenziertesten Selbstbeschreibungen des späten 19. Jahrhunderts. Ein einheitliches Verständnis des Begriffs entstand dabei allerdings nicht, und schon 1918, also noch zu Lebzeiten Max Webers, will jemand in der Literatur 111 Definitionen von 'Kapitalismus' gefunden haben." (S.953)
Allgemeines zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts
Diese "Wirtschaftsordnung [...] beruht auf der arbeitsteiligen Produktion für Märkte" und macht "jeden Produktionsfaktor zu einer auf dem Markt handelbaren Ware". "Sklaverei und andere Formen 'außerökonomischer' Bindung widersprechen seiner eigenen Logik der unbegrenzten Disponibilität." Er "besitzt die Flexibilität, die jeweils produktivsten Technologien und Organisationsweisen (deren Leistungsfähigkeit der Markt erweist) zu nutzen." (S.954)
Die "Frage nach dem 'Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus' [...] stellt sich bestenfalls für einige Länder Westeuropas und für Japan. In mehreren Ländern, wo der Kapitalismus im 19.Jahrhundert am erfolgreichsten war, nämlich in den USA, Australien oder im südafrikanischen Bergbau, gab es keinen «Feudalismus» - ebensowenig in China [...]. Das Thema muss allgemeiner als das der Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für Kapitalismus formuliert werden. [...] 'Freiräume' für Märkte [sind] das Ergebnis eines staatlichen Willens zum Laisser-faire, also von 'Ordnungspolitik'. (S.955) Im 19. Jahrhundert [...] war die Nähe zwischen Kapitalismus und (nationalem) Territorialstaat besonders groß. [...] Aus der Sicht Kontinentaleuropas und der USA blieb der extreme Freihandel eine auf das dritte Quartal des 19. Jahrhunderts beschränkte Episode. [...] Bergwerke, Fabriken und Schienennetze wurden für einen längeren Nutzungszyklus angelegt, als es die typische Periode des Kapitalumschlags im frühneuzeitlichen Groß- und Überseehandel gewesen war. Kapital wurde in einer Weise für die Produktion fixiert, wie es bis dahin nur in Bauwerken geschehen war. Damit waren beispiellose Eingriffe in die physische Umwelt verbunden. Keine anderen Wirtschaftsordnung hat jemals die Natur drastischer umgestaltet als der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts." (S.956)
"Der Kapitalismus entdeckte nach 1870 das Instrument des Kapitalexports, anders gesagt: der überseeischen Investitionen. Dies blieb allerdings lange eine britische Spezialität. [...] Die Elektroindustrie entstand überhaupt erst mit der technischen Herausforderung der Langstreckentelegraphie und verkaufte ihre Produkte von Anfang an in der ganzen Welt." (S.957) Doch es gab noch keinen globalen Kapitalismus. "Die Industrialisierung [...] war ein jeweils regional spezifischer Prozess. Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hingegen [...] ermöglichte, lokales unternehmerisches Handeln in großräumige und tendenziell globale Interaktionskreise einzurücken." [nicht mehr!] (S.957)
Arbeit
958
Netze
1010
Hierarchien
1056
Aristokraten
1064
Bürgertum
1079
Wissen
1105
- Wissen (Anfang)
Zivilisierung und Ausgrenzung
Die "zivilisierte Welt" und ihre "Mission"
"Wäre "Barbarei" aus der Welt verschwunden, dann fehlte ein Maßstab für das offensiv selbstzufriedene oder defensiv sorgenvolle Wertungsbedürfnis der Zivilisierten. [...] So ist "Zivilisation" in dem normativen Sinn gesellschaftlich verfasster Verfeinerung eine universale Vorstellung, die zeitlich nicht auf die Moderne eingeschränkt ist. Häufig verbindet sich damit die Idee, die Zivilisierten hätten die Aufgabe oder gar die Pflicht, ihre kulturellen Werte und ihren way of life zu verbreiten. [...] Niemals war die Idee der Zivilisierung so mächtig wie im 19. Jahrhundert. [...] Kulturelle Monumente wie die Lutherbibel oder die großen Barockkirchen lassen sich als Instrumente von Zivilisierungsmissionen verstehen. Man sollte die Missionsdynamik der frühen Neuzeit aber nicht zu hoch bewerten, besonders nicht im Zusammenhang mit der europäischen Überseeexpansion." (S.1172/73)
"Für Niederländer und Engländer bedeutete imperium ein kommerzielles Unternehmen, das wenig moralischer Regulierung bedurfte. Missionarischer Eifer würde die Geschäfte nur stören [...] Protestantische Regierungen haben daher die Mission in ihren Kolonialgebieten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Regel nicht zugelassen, [...] In der frühen Neuzeit fehlte noch die Überzeugung, es gebe auf der Welt nur eine einzige maßstäbliche Zivilisation: die europäische. Diese Globalisierung zivilisatorischer Normen war etwas Neues im langen 19.Jahrhundert. [...] Sie baute auf dem optimistischen Gedanken des Fortschritts und der zunehmenden Annäherung zwischen den Kulturen der Welt auf. So ließen sich ohne Mühe nicht nur Barbaren und Andersgläubige "zivilisieren", sondern auch Flora, Fauna und Landschaften. Der rodende Siedler, der Großwildjäger und der Flussregulierer waren emblematische Figuren einer solchen allumfassenden Zivilisierung des Planeten. Ihre großen Widersacher, die es zu besiegen galt, waren Natur und Chaos, Traditionen und die Geister und Gespenster des "Aberglaubens" jeglicher Art. (S.1175)
Der Begriff der "Zivilisierung" wurde im 19. Jahrhundert auch auf die eigene Gesellschaft angewendet. [...] Je mehr nach der Bildung des italienischen Nationalstaates die Enttäuschung darüber wuchs, dass die Randzonen sich nur schwer integrieren ließen, desto mehr näherte sich die Sprache, in der im Norden über sie geredet wurde, der rassistisch durchtränkten Rhetorik, die man auf Afrika anwandte. Die Unterschichten in den Großstädten der Industrialisierung erschienen ebenfalls als fremde "Stämme", denen man mit dem Zwang von Staat und Markt, mit privater Wohltätigkeit und religiöser Überredung ein Minimum an zivilisierten, also bürgerlichen Verhaltensweisen beizubringen hatte. (S.1176)
Im Unterschied zum religions- und kirchenfeindlichen Interventionismus des napoleonischen Staates war die frühe britische Zivilisierungsmission von starken religiösen Impulsen getragen. [...] Der typische britische Missionar des späten 19.Jahrhunderts hatte vieles im Angebot: Bibel und Fibel, Seife und Monogamie." (S.1178/9)
- Zivilisierung durch Recht
" [...] So hat Japan, wo die christliche Mission aller Konfessionen auch nach der Wiederzulassung des Christentums im Jahre 1873 nie so recht Fuß fassen konnte, in großem Umfang Elemente europäischer Rechtssysteme übernommen. In der islamischen Welt [...] wurden auch hier in nicht-kolonialen Ländern wie dem Osmanischen Reich und Ägypten (vor der britischen Okkupation von 1882) Versatzstücke europäischen Rechts eingeführt. [...] Dieser Doppelcharakter des Rechts zwischen Evolution und Konstruktion zeigte sich auch in kolonialen Zusammenhängen. Hier war Recht, samt seiner Durchsetzung durch Richter und Polizisten, oft eine scharfe Waffe kultureller Aggression. Verbote einheimischer Sprachen zum Beispiel gehörten zu den am meisten verhassten obrigkeitlichen Maßnahmen in der gesamten Geschichte des Kolonialismus. Solche Maßnahmen erwiesen sich unweigerlich als Eigentore und hatten niemals den beabsichtigten "zivilisierenden" Effekt. (S.1180)
Der international anwendbare standard of civilization. war daher das Gegenstück zur innergesellschaftlichen Herrschaft des Gesetzes (rule of law). [...] Als ethnozentrischer Vorläufer der heutigen Menschenrechte war er im Laufe der Zeit entstanden und als universell gültiger Grundstock von Normen zu verstehen, die, in ihrer Summe genommen, umschrieben, was es bedeutete, ein Mitglied der "zivilisierten Welt" zu sein. [...] Das Spektrum reichte vom Verbot grausamer Körperstrafen über die Unantastbarkeit von Eigentum und zivilrechtliehen Verträgen bis zu akzeptablem Verhalten im internationalen Verkehr der Staaten. [...] Bis in die 1870er Jahre hinein verwandten europäische Rechtstheoretiker den standard of civilization als Maßstab, um "barbarische" Praktiken in nichteuropäischen Ländern zu kritisieren." (S.1181)
- Zivilisierung durch Markt und Gewalt
"Das zweite große Vehikel der viktorianischen Erziehungsmission war der Markt. Die liberale Utopie einer Zähmung von Leidenschaften durch Interessen gehörte zu den Schlüsselelementen des viktorianischen Zivilisierungsdenkens. Märkte, so lautete die orthodoxe liberale Annahme, machten Nationen friedlich, Kriegerkasten überflüssig, Individuen fleißig und unternehmerisch ehrgeizig. [...] Wie John Stuart Mill und einige seiner Zeitgenossen vermuteten, bedurfte auch der homo oeconomicus einer gewissen Vorbereitung und Erziehung. [...] Die koloniale Praxis, von Reformern wie Mill in dieser Weise nicht gewollt, bedeutet unter dem Etikett "Erziehung zur Arbeit" oft sehr viel Arbeit bei sehr wenig Erziehung. [...] Marktwirtschaft, Recht und Religion waren die drei Säulen, auf denen die weltweit wirkungsvollste Variante des mächtigsten Projekts der Zivilisierungsmission ruhte, die britische. Im französischen Fall, doch in solcher Nachdrücklichkeit nirgendwo sonst, trat die Assimilation an die Hochkultur der Kolonialmacht hinzu. [...] Wurde dieses Gefälle als unüberbrückbar groß verstanden und sprach man den Kandidaten des Zivilisiertwerdens die Fähigkeit ab, den Ansprüchen der «höheren» Kultur gerecht zu werden, [...] Verdrängung, Marginalisierung und im Extremfall physische Vernichtung waren die denkbaren Konsequenzen. Dies waren allerdings selbst in der Epoche des Hochimperialismus eher Ausnahmen. Keine Kolonialmacht hatte ein Interesse an systematischem Völkermord in Friedenszeiten. Im belgischen Kongo-Freistaat ließ man Greueltaten größten Ausmaßes allerdings seit den 1880er Jahren geschehen, deutsche Truppen verübten sie 1904/05 an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. und einige der Kolonialkriege der Epoche, etwa der Eroberungskrieg der USA auf den Philippinen, wurden mit solch zielstrebiger Brutalität geführt, dass Historiker dafür oft den Begriff des Genozids verwenden." (S.1182/3)
"Auf der anderen Seite bevorzugten sämtliche europäischen Kolonialmächte unter besonderen Umständen eine Politik der indirect rule, die jeden tieferen Eingriff in einheimische Gesellschaftsstrukturen bewusst vermied. Dort, wo solche indirekte Herrschaft praktiziert wurde, ließ man die Einheimischen in Ruhe, solange sie den Frieden hielten, ihre Steuern zahlten, auf den «Rat» kolonialer Agenten hörten und Produkte für den Export zuverlässig ablieferten. Einheimisches Recht, einschließlich "barbarischer" Strafpraktiken, wurde dann oft unberührt gelassen. [...] Das Verhältnis der Briten zu indischen Fürsten oder malaiischen Sultanen war von dieser Art, ebenso auch die Behandlung der indigenen Elite im französischen Protektorat Marokko seit 1912." (S.1184)
"Politische Autonomiebewegungen aller Art wurden häufig als unbeabsichtigte Nebenwirkungen der Verbreitung westlichen Denkens interpretiert. Asiaten und Afrikaner wandten das Recht, das sie durch die Europäer kennengelernt hatten, kritisch gegen diese und spielten den Universalismus hehrer Rechtsprinzipien gegen die blamable koloniale Praxis aus. [...] die Erfolge Europas [...] ließen ein Überlegenheitsgefühl entstehen, das seinen symbolischen Ausdruck in der Rede von Europas universeller "Zivilisation" fand. Gegen Ende des Jahrhunderts bürgerte sich dafür eine neue Bezeichnung ein: die "Moderne". [...] Der Begriff der "Moderne" ist bis heute schillernd geblieben. Darüber, wann diese Moderne historisch begonnen haben soll, hat man sich niemals einigen können. Schon früh ist der Begriff in zwei Bedeutungen verschiedenen Umfangs verwendet worden. Einmal bezeichnete man die (west-)europäische Zivilisation insgesamt und in Abgrenzung von allen anderen Kulturen als "modern". Dann wurden aber auch Widersprüche in Europa selbst thematisiert. Diese Widersprüche wiederum lagen auf zwei Ebenen. Erstens bezeichneten "Moderne" und "Modernität" eine avantgardistische Oppositionshaltung kleiner Kreise, die dem Traditionalismus und Philistertum der Mehrheit vorauseilten. [...] Zweitens konnte niemand die geographischen Abstufungen innerhalb Europas übersehen. "Modern" waren in vielen Ländern des Kontinents um 1900 bestenfalls Lebensformen, Bewusstsein und Geschmack städtischer Eliten; das Land vegetierte träge dahin. [...] Der arrogante Stolz auf die eigene Zivilisiertheit und der Glaube, zu ihrer weltweiten Verbreitung berechtigt und verpflichtet zu sein, waren zum einen pure Ideologie. [...] Auf der anderen Seite aber war ein Überschuss der westeuropäischen und der neo-europäischen Gesellschaften an Dynamik und Einfallsreichtum nicht zu übersehen. [...] Mahatma Gandhi allerdings, der größte asiatische Gegenspieler des Westens in der Zwischenkriegszeit, brachte das Problem ironisch auf den Punkt, als er auf die Reporterfrage, was er von der "westlichen Zivilisation" halte, geantwortet haben soll: "It would be a good idea". (S.1186-88)
Sklavenemanzipation und "Weiße Vorherrschaft"
"Um 1800 nistete die Barbarei noch im Herzen der Zivilisation. Die nach eigener Einschätzung zivilisiertesten Staaten der Welt duldeten in ihren Jurisdiktionsgebieten, zu denen auch die Imperien gehörten, weiterhin die Sklaverei. [...] Das Zurückdrängen von Sklavenhandel und Sklaverei geschah als eine transatlantische Kettenreaktion, bei der jede lokale Handlung durch einen größeren Zusammenhang zusätzlichen Sinn erhielt. Die britischen Abolitionisten gingen noch weiter und verstanden sich von Anfang an als Aktivisten eines weltweiten Projekts."" (S.1188-1191))
"Der Humanitarismus, wie er in den 1780er Jahren die ersten Gründer von Agitationsvereinigungen gegen die Sklaverei motivierte, entsprang weniger der hohen Philosophie der Epoche als zwei anderen Quellen: zum einen der Erneuerung eines christlichen Brüderlichkeitsdenkens bei einigen Außenseitern der etablierten Religion, zum anderen einem neuen Patriotismus, der die Überlegenheit der eigenen Nation nicht allein in wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und militärischer Macht zu sehen wünschte, sondern auch in ihrer Kraft, der Welt moralisch und rechtlich den Weg zu weisen. Dieser christlich-patriotische Humanitarismus war eine britische Besonderheit." (S.1193)
"Ideelle Motive, für die sich eine genügende Zahl von Mitgliedern der politischen Elite dann erwärmen konnten, wenn sie keine unmittelbaren Westindien-Interessen vertraten, gaben den Ausschlag. Sie gehörten, insgesamt gesehen, zur ideologischen Antwort Großbritanniens auf die Französische Revolution und Napoleon.
Die Revolution hatte, zumal in ihrer Anfangsphase vor dem Terror, einen menschheitlichen Universalismus auf ihre Fahnen geschrieben, auf den die bloße Bekräftigung nationaler Partikularinteressen keine überzeugende Antwort gab. Der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ließen sich nur konservative Defensivideologien entgegensetzen, es sei denn, man definierte ein eigenes Feld übernationaler Universalität. Ein solches Feld war die Sklaverei. Hier hatte die revolutionäre Nationalversammlung in Paris, in der ganz ähnlich wie im britischen Parlament, Plantageninteressen ein erhebliches Gewicht besaßen, zögernd und wenig konsequent taktiert. Zwar hatte der Konvent 1794 endlich die Sklaverei in allen französischen Besitzungen für unrechtmäßig erklärt und die Staatsbürgerschaft auf alle Männer in Frankreich und den Kolonien ohne Ansehen ihrer Hautfarbe ausgedehnt, doch legalisierte der Erste Konsul Napoleon Bonaparte 1802 die Sklaverei und den Sklavenhandel aufs Neue. Frankreich hatte also innerhalb weniger Jahre seine Meinungsführerschaft auf diesem Gebiet verloren und war in die selbstsüchtigen Gewohnheiten des Ancien Regime zurückgefallen. In den Jahren vor dem Parlamentsbeschluss von 1807, also auf einem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Napoleon, hatte die patriotische Öffentlichkeit Großbritanniens die ideologische Initiative übernommen." (S.1194/95)
Die postemanzipatorische Rassengesellschaft im Süden der USA
In keinem anderen Land war die Abschaffung der Sklaverei von einer solch dramatischen Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten begleitet wie in den USA. Schon während des Bürgerkrieges hatten Hunderttausende von Afroamerikanern ihr Schicksal in die eigene Hand genommen, hatten als free blacks aus dem Norden oder entflohene Sklaven aus dem Süden auf Unionsseite gekämpft oder einen anderen Beitrag zur Kriegsführung des Nordens geleistet, hatten sich im Süden herrenlosen Landes bemächtigt. [...]
Wem bisher der Herr das freie Wort verboten hatte, der konnte sich nun unverstellt und öffentlich äußern. [...] selbst auf der Geschworenenbank sitzen, bei Wahlen ihre Stimme abgeben und sich sogar für Ämter zur Wahl stellen.
Ausgerechnet dieser große Aufbruch kippte in das Gegenteil einer scharfen Rassendiskriminierung um. Ende der 1870er Jahre waren die Errungenschaften der Emanzipationszeit weitgehend zunichte gemacht. In den 1880er Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Rassen in den früheren Sklavenstaaten des Südens in dramatischer Weise. Nach 1890 waren die Afroamerikaner zwar nicht neuerlich versklavt, aber einer extrem diskriminierenden und einschränkenden Rassenordnung unterworfen, die von weißem Terror und Lynchjustiz begleitet war. Von der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte konnte keine Rede mehr sein. Nur drei Mal hat es solche scharfen Rassenordnungen jenseits der Sklaverei gegeben: im Süden der USA zwischen den 1890er und 1920er Jahren, in Südafrika nach 1948 und in Deutschland nach 1933 sowie während des Zweiten Weltkriegs im deutsch besetzten Europa. Lässt man den Fall Deutschlands beiseite, so bleiben als Kandidaten für einen ungefähren Vergleich die USA und Südafrika, denn die Anfänge der südafrikanischen Apartheid reichen weit ins 19.Jahrhundert zurück. [...]
Die Unterschiede zu Südafrika sind so groß, dass sich ein umfassender Vergleich verbietet; punktuell finden sich jedoch aufschlussreiche Querbezüge. Die Entwicklungen in den beiden Ländern, zwischen denen wenige prägende Transfers stattfanden, verliefen nicht synchron. Die Sklavenbefreiung in Südafrika erfolgte fast drei Jahrzehnte vor derjenigen in den Südstaaten der USA. Um 1914 waren da wie dort die Ideologien und Instrumente rassischer Hierarchisierung und Ausgrenzung vorhanden. Südafrika ging dann seit den 1920er Jahren noch einen Schritt über den Süden der USA hinaus, denn Apartheid wurde hier zu einem Grundprinzip nationaler Gesetzgebung. [...]
In dem - neben den Südstaaten - anderen großen Fall von Massensklaverei im 19. Jahrhundert ist die Herausbildung von weißer Vorherrschaft ausgeblieben. Dafür, dass sich in Brasilien die Sklaverei viel länger hielt als überall sonst im kontinentalen Lateinamerika, gibt es mehrere Gründe. Nicht der unwichtigste war, dass die Brasilianer keinen Unabhängigkeitskrieg gegen ihre Kolonialmacht geführt hatten, daher auch, anders als in den Kämpfen ihrer Nachbarn gegen die Spanier, keine schwarzen Soldaten rekrutiert wurden. [...] Warum aber entstand in Brasilien nach 1888 keine formalisierte Rassenordnung? Nach dem Ende der Sklaverei, das mit einem friedlichen Übergang von der Monarchie zur Republik zusammenfiel, begann eine lange Debatte über die nationale und rassische Identität des Landes und seine Chancen der Modernisierung. [...] In den Modernisierungsvorstellungen von Teilen der weißen Elite fanden daher freigelassene Sklaven schon früher einen Platz. Noch wichtiger aber war die Strategie, die Sklaven in den dynamischen Sektoren der Wirtschaft durch neu angeworbene Emigranten aus Europa zu ersetzen. Diese Emigranten und die Ex-Sklaven, die nun in großer Zahl ökonomisch marginalisiert wurden, begegneten sich nicht auf denselben Arbeitsmärkten. Damit entfiel eine Konkurrenzsituation, wie sie überall in der Welt zu einem typischen Nährboden für Rassismus wurde. In Brasilien war die Rassenfrage nie zu einem Streitpunkt territorialer Politik geworden. Keine sezessionsbereiten Sondergebiete definierten sich wie der US-Süden durch rassische Identitäten. Im Gegenteil gab sich die Elite Mühe, einen inklusiven Nationalismus und den Mythos einer besonderen Menschenfreundlichkeit der früheren Sklaverei zu propagieren. [...] die Behörden verstanden sich nicht als Garanten von Rassenschranken. Allein die Schwäche des Staates führte dazu, dass viel rassistische Gewalt ungestraft geschah. Sie war aber nicht unmittelbarer Ausfluss staatlicher Ordnung. (S.1209-1213)
Fremdenabwehr und «Rassenkampf»
Um 1900 war das Wort «Rasse» in vielen Sprachen rund um den Globus gebräuchlich. Das weltweite Meinungsklima war von Rassismus durchtränkt. Zumindest im globalen «Westen», der sich im Zeitalter des Imperialismus auf allen Kontinenten fand, bezweifelten wenige die Vorstellung, die Menschheit sei in Rassen unterteilt, diese Rassen besäßen, biologisch bedingt, unterschiedliche Fähigkeiten und als Folge dessen auch ein unterschiedliches Recht, ihre Existenz autonom zu gestalten. [...] Um 1930 war Rassismus weltweit bereits eine Spur weniger akzeptabel geworden, als er es wenige Jahrzehnte zuvor gewesen war. Im «weißen» Westen hatten es selbst wohlhabende und bürgerlich auftretende Afroamerikaner immer noch schwer, ein Hotelzimmer zu finden. Aber «Rasse» wurde zumindest als wissenschaftliches Konzept weniger unkritisch hingenommen. Japans Versuch, auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 eine Klausel gegen rassische Diskriminierung in die Satzung des neu gegründeten Völkerbundes aufnehmen zu lassen, war vor allem am Widerstand der britischen Dominions und der USA gescheitert, doch zeigte diese Initiative immerhin, für wie anfechtbar rassistische Diskurse und Praktiken mittlerweile gehalten wurden. [...] Um 2000 war Rassismus weltweit diskreditiert, seine Propagierung in vielen Ländern unter Strafe gestellt, jeglicher Anspruch auf Wissenschaftlichkeit lächerlich gemacht. Aufstieg und Fall von Rassismus als geschichtsprägender Macht füllen den, weltgeschichtlich gesehen, kurzen Zeitraum zwischen etwa 1860 und 1945. Dieser makabre Zyklus verklammert das 19. mit dem 20. Jahrhundert. [...]
Rassetheorien, prä- und postrevolutionär
Der große Komplex von Rassedenken und rassistisch motiviertem Handeln müsste nun in einem zweiten Schritt geduldig auseinandergelegt werden. Dies kann hier nicht geschehen. Es wären unterschiedliche Spielarten von Rassismus zu unterscheiden, nach den verwendeten Methoden etwa
(1) einen repressiven, Unterklassen erzeugenden;
(2) einen segregierenden, «Ghettos» bildenden;
(3) einen exkludierenden, Nationalstaaten an ihren Grenzen abschottenden;
(4) einen exterminatorischen, den «rassischen Feind» auslöschenden Rassismus. Unterschiedlich waren die Arten und Weisen, mit «Rasse» argumentativ und narrativ umzugehen. Das Bild wäre zudem durch eine ganze Reihe transnationaler Verbindungen zu ergänzen. Ebenso wie in den Jahrzehnten um 1900 «Rasse» die unter Intellektuellen im Westen beliebteste Kategorie war, um die Beziehungen der Staaten und Völker untereinander zu Makro-Bildern zu ordnen, so reagierten nationale und partikulare Rassismen aufeinander und so schlossen sich vor allem solche Rassedenker, die an die «Züchtbarkeit- der Menschen glaubten, zu grenzüberschreitenden Gruppierungen zusammen. [...]" (S.1214-1217)
"Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kam unter europäischen Intellektuellen das Klassifizieren und Vergleichen als wissenschaftliches Verfahren in Mode. Vorschläge wurden gemacht, die Menschheit in Typen einzuteilen. Die vergleichende Anatomie und die Phrenologie, d.h. die Vermessung von Schädeln zwecks Rückschlüssen auf die Intelligenzleistung ihrer Besitzer, gab diesen Bemühungen einen wissenschaftlichen Anstrich nach den Maßstäben der Zeit. Einige Autoren gingen so weit, in bewusster Abkehr von der christlichen Schöpfungslehre die separate Erschaffung der verschiedenen Rassen (Polygenesis) zu postulieren und damit auch die vom Abolitionismus betonte Grundsympathie zwischen Weißen und Schwarzen in Zweifel zu ziehen. [...] Die Klassifikation von Rassen führte zu einer niemals aufgelösten Konfusion, zumal das angloamerikanische Wort race auch zur Bezeichnung von Nationen benutzt wurde: "the Spanish race" usw. Im Jahre 1888 variierten allein in der US-amerikanischen Literatur die Zahl der unterschiedlichen races zwischen 2 und 63.[...] Die Naturwissenschaftler hatten das Thema niemals aufgegeben, auch wenn einer der Größten unter ihnen, Alexander von Humboldt, ein kompromissloser Gegner allen Rassedenkens blieb." (S.1218 u. 1220)
Religion (S.1239ff.)
"Es gibt gute Gründe dafür, Religiosität, Religion und Religionen in den Mittelpunkt einer Weltgeschichte des 19.Jahrhunderts zu stellen. Allenfalls für einige Länder des westlichen Europa wäre es gerechtfertigt, wie es in Lehrbüchern nicht selten geschieht, Religion als einen unter mehreren Unterpunkten von «Kultur» abzuhandeln und sich dabei auf ihre organisatorische Verfasstheit als Kirche zu beschränken. Religion war überall auf der Welt im 19. Jahrhundert eine Daseinsmacht ersten Ranges, eine Quelle individueller Lebensorientierung, ein Kristallisationspunkt für Gemeinschaftsbildungen und für die Formung kollektiver Identitäten, ein Strukturprinzip gesellschaftlicher Hierarchisierung, eine Antriebskraft politischer Kämpfe, ein Feld, auf dem anspruchsvolle intellektuelle Debatten ausgetragen wurden. [...] Noch im 19.Jahrhundert war Religion die für das Alltagsleben der Menschen wichtigste Form von Sinnbildung, also das Zentrum aller geistigen Kultur.[...]" (S.1239)
- Begriffe und Bedingungen des Religiösen
"Die Behauptung, das 19. Jahrhundert sei insgesamt ein Zeitalter jenseits der Religion gewesen, lässt sich nicht halten, und eine andere «Großerzählung» als diese Geschichte der «Säkularisierung» ist nicht in Sicht." Auch ein weiterer zunächst plausibler Zusammenhang vereinfacht die Dinge allzu sehr. Zweifellos verbesserte die erobernde und kolonisierende, reisende und missionierende Expansion der Europäer über die Erde seit dem 16.Jahrhundert die Bedingungen für die Ausbreitung der wichtigsten europäischen Religion, doch war im Rückblick von 1900 oder 1914 aus der religiöse Einfluss des Christentums in der Welt bei weitem geringer als die politisch-militärische Macht Europas und auch als die des Westens insgesamt. In vielen nicht-westlichen Gesellschaften, die während des 19.Jahrhunderts in regelmäßige Kommunikationsbeziehungen mit Europa verstrickt wurden und in denen die Verwestlichung des Lebensstils bis heute anhält, hat das Christentum nicht Fuß fassen können." (S.1240)
"Es wäre problematisch, aus der Tatsache, dass der Religionsbegriff im Europa des 19.Jahrhunderts geschaffen wurde, den Schluss zu ziehen, es «gebe» keine Religionen, der Begriff sei nichts als ein Instrument «hegemonialer» Ordnungsstiftung durch einen arroganten Okzident.
So viel ist aber richtig: Ein abstrakter und universal gemeinter Begriff von «Religion» ist ein Produkt europäischer, insbesondere protestantisch orientierter Intellektueller des 19. Jahrhunderts." (S.1241)
"In China zum Beispiel hatte man über die Jahrhunderte hinweg immer nur von jiao gesprochen, übersetzbar etwa als «Doktrinen» oder «Lehrrichtungen» und meist plural gemeint. Im späten 19.Jahrhundert wurde über Japan aus dem Westen ein übergreifender Religionsbegriff importiert und als zongjiao in das chinesische Lexikon übernommen. Das vorangestellte Zeichen zong bedeutet «Vorfahr», «Clan», aber auch «Vorbild» oder «großer Meister». Der Neologismus verschob damit den Akzent von der gleichzeitigen Pluralität der Lehrmeinungen zur historischen Tiefe tradierter Überlieferung." (S.1242)
«Weltreligionen»
"Ein Erbe des 19.Jahrhunderts, das bis heute den öffentlichen Sprachgebrauch bestimmt, ist die Idee von «Weltreligionen», die sich wie Hochgebirge aus der Landschaft des Religiösen emporheben. Eine große Vielzahl religiöser Orientierungen wurde im neuen Diskurs der Religionswissenschaft zu Makro-Kategorien wie «Buddhismus» oder «Hinduismus» verdichtet. Diese «Weltreligionen», zu denen auch Christentum, Islam, Judentum und nicht selten der Konfuzianismus gezählt wurden, ermöglichten eine übersichtliche Kartographie des Religiösen, seiner Zurechnung zu «Zivilisationen» und deren Abbildung auf Weltkarten der «Großen Religionen». Unklare Verhältnisse wurden bis vor kurzem oft mit dem Etikett «Naturreligionen» versehen." (S.1243)[4]
Anmerkungen
- ↑ Link zur vollständigen Gliederung
- ↑ mehr dazu bei Osterhammel: Über Revolutionen
- ↑ Hervorhebung W.B.
- ↑ mehr dazu: bei Osterhammel: Religion im 19.Jahrhundert
Zur Einordnung und Beurteilung des Werks
Interview
- Osterhammel im Interview über Weltgeschichte Frankfurter Rundschau 22.9.2012
Die traditionelle Weltgeschichte ist die Geschichte einigermaßen genau definierter Blöcke, die sich auf Landkarten eintragen lassen. Globalgeschichte dagegen versteht sich als der Versuch, die Vernetzungen, die manchmal auch sehr dünnlinig sein können, dieser Blöcke zu beschreiben. Da tendiert man dazu, das, was sich nicht verbindet, wegzulassen. Diese Schwäche nehmen wir in Kauf, weil wir davon ausgehen, dass man zu lange solche Verbindungen übergesehen hat. [...]
Man muss als praktizierender Globalhistoriker „zoomen“. Also einmal von weit weg den Blick aufs Ganze richten, dann jedoch wieder sehr nahe an ein Detail heranrücken, weil man sonst nicht versteht, wie es sich mit anderen Details in anderen Zusammenhängen verbindet. Und man sollte sich dieser unterschiedlichen Zoomabstände genau bewusst sein. [...]
Die Welt wird täglich stärker globalisiert; die Geschichtslehrpläne der Schulen dagegen werden in der Tendenz euro- ja germanozentrischer. Mit unserer Weltgeschichte versuchen wir, da auch ein wenig gegenzusteuern. [...]
Wäre ich Lehrer, würde ich für den Unterricht eine Mischung bevorzugen: auf der einen Seite die Geschichte einzelner nicht-europäischer Regionen, auf der anderen die Geschichte der Beziehungen dieser Regionen untereinander – und mit Europa.
Jürgen Osterhammel im Interview
Beurteilung
Rezensionen
- Jürgen Kocka: Die erste Globalisierung – Ein großer Wurf: Jürgen Osterhammels Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Die Zeit, Nr. 9/2009;
- Andreas Fahrmeir: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt – Das Panoramabild eines Jahrhunderts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. April 2009, S. 34.
- weitere Rezensionen bei Perlentaucher
Bibliographische Angaben
- Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58283-7.
Arbeitsmaterial für Schüler
Osterhammel: Weltgeschichte im 19. Jahrhundert in Informationen zur politischen Bildung
- 19. Jahrhundert Informationen zur politischen Bildung Nr.315 von Jürgen Osterhammel Vorlage:Pdf-extern
Die Welt 1800-1850
Informationen z. pol. Bildung 315, S.22-29
Transatlantische Verbindungen und Trennungen
"Um 1800 waren die einzelnen Teile der Erde noch sehr weit von einander entfernt. Von einem Kontinent zum anderen gelangte man nur durch gefährliche und beschwerliche Seereisen. Von England aus war ein Schiff nach China vier bis fünf Monate unterwegs. [...] Nirgendwo, auch nicht über den Nordatlantik hinweg, gab es einen fahrplanmäßigen Schiffsverkehr, von Tourismus ganz zu schweigen. [...] Nachrichten waren ebenso lange unterwegs wie Schiffe, denn es gab keine andere Methode, sie zu befördern. Die Gouverneure in den europäischen Überseekolonien konnten daher kaum von ihren Zentralen in London, Paris oder Amsterdam kontrolliert werden. Diese aus heutiger Sicht unvorstellbar schwierigen Kommunikationsverhältnisse verhinderten indes nicht, dass sich intensive Fernkontakte knüpften.
Um 1800 hatten die europäischen Mächte keineswegs schon den überwiegenden Teil der Erdkugel unter ihre Herrschaft gebracht. In Afrika war nur die Südspitze des Kontinents niederländisches, dann britisches Kolonialgebiet. In Asien hielten sich winzige portugiesische Küstenenklaven (Goa in Indien, Macau in China) als Reste eines verschwundenen Handelsimperiums. Bedeutenden Kolonialbesitz [...] unterhielten nur die Niederlande im heutigen Indonesien sowie die Briten, deren halboffizielle East India Company seit den 1760er-Jahren Territorialherrin in Bengalen (mit der Hauptstadt Kalkutta) war und um 1800 erfolgreich Kriege zur Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs führte. Französische Versuche, sich in Asien festzusetzen, waren gescheitert. [...]
Viel tiefer hatte sich der europäische Kolonialismus in der westlichen Hemisphäre eingewurzelt. Dort war er aber in den 1760er-Jahren in eine tiefe Krise geraten. Diese Krise hatte 1776 dazu geführt, dass 13 der britischen Kolonien in Nordamerika ihre Unabhängigkeit erklärten. Sie siegten in einem Krieg gegen das vormalige Mutterland und gaben sich 1787 eine gemeinsame Verfassung. 1789, im Jahr der Französischen Revolution, nahmen die Organe eines neu gegründeten Staates – Präsident, Senat und Repräsentantenhaus – ihre Arbeit auf: die der Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA waren durch Sezession ohne verbleibende Bindung aus dem British Empire ausgeschieden.
Die imperiale Krise der 1760er-Jahre hatte auch das große spanische Reich in der Neuen Welt erfasst. [...] Aus dem riesigen spanischen Imperium wurde ein Mosaik von 16 souveränen Staaten: großen wie Mexiko, Venezuela oder Argentinien, kleinen wie Panama oder Honduras. Unter anderen Umständen löste sich Brasilien 1822 von Portugal und machte sich zu einem selbstständigen Kaiserreich. Nur die Inseln Kuba und Puerto Rico verblieben bis 1898 in spanischer Hand.
Die Unabhängigkeit Lateinamerikas war die umfassendste Veränderung der politischen Landkarte in der gesamten Neuzeit. Fügt man hinzu, dass Napoleon 1803 die riesigen französischen Besitzungen in Nordamerika, die sich heute auf 15 Bundesstaaten verteilen, an die USA verkaufte, so zeigt sich, dass zwischen 1783 – als die späteren USA nach ihrem militärischen Sieg über Großbritannien de facto selbstständig wurden – und 1826 aus einem vom arktischen Norden bis in den tiefen Süden von Europa kolonisierten Kontinent eine Welt post-imperialer Nationalstaaten geworden war; nur Kanada blieb britisch." (S.22-23)
Agrarische Imperien und ihr Niedergang
"Während sich in Amerika die europäischen Kolonialreiche auflösten, gerieten in Asien die seit langem etablierten agrarischen Monarchien in eine tiefe Krise. In Indien war bereits im frühen 18. Jahrhundert das vordem riesige und mächtige Mogulreich in Teilstaaten zerfallen. Erst diese Zersplitterung hatte es den Briten erlaubt, in Bengalen Fuß zu fassen und von dort aus – dies war bis 1818 geschehen – große Teile des Subkontinents zu erobern. So weit kam es in anderen Teilen Asiens einstweilen noch nicht. Der im 17. Jahrhundert starke und kulturell blühende Iran wurde Opfer nicht europäischer, sondern afghanischer Invasionen. Dennoch war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Wendezeit für Asien, denn das bis dahin bestehende ungefähre Gleichgewicht zwischen Asien und Europa verschwand. Europa, vor allem vertreten durch das wirtschaftlich dynamische Großbritannien, konfrontierte Asien mit militärischen und kulturellen Herausforderungen, auf die eine Antwort schwerfiel. Keine der agrarischen Monarchien erwies sich als reformfähig genug, um dem Westen Widerstand leisten zu können." (S.24)
Die eigenständige Entwicklung der USA
"[...] Zum Zeitpunkt der Gründung der USA 1789 wusste man an der Atlantikküste so gut wie nichts über das Innere und den Westen des eigenen Kontinents. [...] Die Erschließung des Westens dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts und wurde zu einem der großen Themen des US-amerikanischen Selbstverständnisses. Dieses Voranschieben einer Siedlungsgrenze, der frontier, war mit brutalem Vorgehen gegenüber der indianischen Bevölkerung verbunden." (S.26)
"Kalifornien wurde anfangs nicht durch die Ost-West-Bewegung der agrarischen Frontier besiedelt, sondern von Abenteurern, die nach der Entdeckung von Gold im Jahre 1848 in diese Region strömten. Durch einen Angriffskrieg gegen Mexiko hatten die USA zu Beginn desselben Jahres den mittelamerikanischen Nachbarstaat zur Abtretung des größten Teils Kaliforniens gezwungen. Das Staatsgebiet der USA wurde seit der Unionsgründung kontinuierlich erweitert. [...] Die Einbeziehung der neuen Territorien in den Zusammenhang der Föderation gehört zu den erstaunlichsten Leistungen politischer Organisation in der Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts. So wurde verhindert (was durchaus / denkbar gewesen wäre), dass sich auf nordamerikanischem Boden, ähnlich wie in Süd- und Mittelamerika, mehrere unabhängige Staaten bildeten." (S.27/29) "Die territoriale Expansion schuf aber mindestens ein zentrales Problem: die Ausdehnung der Sklaverei in die neu angeschlossenen Gebiete. Die Einfuhr neuer Sklaven in die USA war 1808 durch Bundesgesetze verboten worden. Die Sklaverei jedoch blieb weiterhin erlaubt. Sie wurde mehr denn je zur wirtschaftlichen Grundlage einer boomenden Plantagenproduktion, vor allem von Baumwolle, in den Südstaaten und zur zentralen gesellschaftlichen Institution in diesen Teilen der USA. Da sich die Sklavenbevölkerung in den USA, anders als in der Karibik, ohne neuen Zustrom selbst vermehrte, herrschte an schwarzen Arbeitskräften kein Mangel. Im Norden, das heißt nördlich von Virginia und Kentucky, war die Sklaverei nach 1780 durch einzelstaatliche Gesetzgebung schrittweise abgeschafft worden. Den neu an die Union angeschlossen Staaten wurde es nicht länger anheimgestellt, sich selbst für oder gegen die Sklaverei zu entscheiden („Missouri-Kompromiss“ von 1820)." (S.29)
Pax Britannica als Weltordnung
"[...] Die einzige wirkliche Weltmacht im 19. Jahrhundert war Großbritannien. [...] Die Vernichtung von Napoleons Seemacht bekräftigte nach 1805 die maritime Vorrangstellung des Vereinigten Königreichs. [...] Das britische Weltreich unterschied sich von allen anderen zeitgenössischen Reichen dadurch, dass es (beim Stand von etwa 1850) neben Flächenkolonien wie Kanada, Australien, Neuseeland, Indien oder Südafrika ein weltweites System von Hafenstützpunkten unterhielt, die unter anderem der Proviantierung der Schiffe dienten. [...] Dabei verfolgte Großbritannien keineswegs die Politik, Verkehr und Handel auf den Ozeanen für sich zu monopolisieren.
Nachdem das britische Parlament mit Wirkung ab 1808 den Sklavenhandel verboten hatte, wurden das Aufbringen von Sklavenschiffen und die Befreiung der Sklaven zu einer weiteren, quasi-polizeilichen Daueraufgabe der Navy. Schließlich war die Flotte auch zu Kriegseinsätzen fähig. Nach der Einführung dampfgetriebener Kanonenboote, wie sie erstmals im Opiumkrieg gegen China eingesetzt wurden, besaß sie die Kapazität, im außereuropäischen Raum zur Durchsetzung imperialer Interessen lokal zu intervenieren und Druck auszuüben. Dampfschiffe hatten dabei den Vorteil, dass sie flussaufwärts fahren und Städte im Landesinneren bedrohen konnten.
Der Begriff des britisch durchgesetzten Friedens, der Pax Britannica, umfasst noch mehr. Zum einen bezieht er sich auf die Tatsache, dass die Briten nach der Eroberungsphase in vielen ihrer Kolonien für einen inneren Landfrieden sorgten. [...] Zum anderen bedeutete Pax Britannica, dass die britische Seeherrschaft durch die leistungsfähigste Ökonomie der Welt untermauert war. Die britische Wirtschaft war dabei in hohem Maße auf ihre weltwirtschaftliche Einbindung angewiesen. Ihre wichtigsten Rohstoffe, vor allem Baumwolle, bezog sie aus Übersee; ihre einträglichsten Absatzmärkte lagen außerhalb der heimatlichen Inseln. [...] Der Wiener Ordnung auf dem europäischen Kontinent entsprach keine per Konferenz und Verträge abgesicherte internationale Ordnung. Die Pax Britannica, gegen die vor den 1880er-Jahren keine der anderen Großmächte ernsthaften Protest anmeldete, fungierte als eine Art von Ersatz für eine solche Ordnung." (S.29)
Die Welt 1850-1880
Die Welt 1880-1914
Aufgaben
- Versuche eine Reihe von Osterhammels Aussagen den Kategorien Zeit und Ort und/oder einigen der Panoramen und Themen seines wissenschaftlichen Werkes zuzuordnen.
- Wie unterscheidet sich die Darstellungsweise?
- Weshalb wählt er für Schüler eine Darstellungsweise, die so viel konventioneller ist als sein wissenschaftlicher Ansatz?
Einzeltexte
Das Vorgehen gegen die Indianer in den USA
- ARAM MATTIOLI: Auf dem Pfad der Tränen. Ethnische Säuberung im 19. Jahrhundert: Zwischen 1831 und 1838 wurden in den USA Zigtausende Indianer aus ihrer Heimat vertrieben.
- [...]
Schon 1827 geben sich die Cherokees eine geschriebene Verfassung
Ganz in der Tradition der Aufklärung hatten der erste Präsident George Washington und sein Kriegsminister Henry Knox gegenüber den Ureinwohnern in den 1790er Jahren eine Politik betrieben, die von der Idee inspiriert war, dass diese dereinst einen gleichberechtigten Platz in der amerikanischen Gesellschaft finden könnten. [...]
Dass die »Indianer« an die Zivilisation herangeführt werden konnten, glaubte auch Thomas Jefferson noch, der das Land von 1801 bis 1809 als dritter Präsident regierte. Allerdings spielte bereits Jefferson mit dem Gedanken, die diesseits des Mississippi siedelnden Indianerstämme in das 1803 von Frankreich erworbene Louisiana-Territorium umzusiedeln, das die Fläche der USA mit einem Schlag nach Westen hin verdoppelt hatte. [...]
Besonders unter den Cherokees setzte sich um 1800 die Erkenntnis durch, dass sie nur überleben würden, wenn sie ihre Lebensweise von Grund auf änderten. Bislang waren sie Jäger und Pelzhändler gewesen. Ursprünglich hatte der Stamm ein ausgedehntes Gebiet in den Flusstälern der südlichen Appalachen beansprucht, das sich über mehrere spätere Bundesstaaten erstreckte. Schon im 18.Jahrhundert waren ansehnliche Teile davon verloren gegangen, obwohl die Cherokees in verlustreichen Kriegen dagegen angekämpft hatten.
Nach dem Unabhängigkeitskrieg indes hatte der Siedlungsdruck immer stärker zugenommen. Von 1790 bis 1840 vervielfachte sich die Zahl der weißen Amerikaner von 3,9 auf über 17 Millionen. Der Landhunger der Siedler drängte die Cherokees auf ein Territorium zusammen, das Teile der Bundesstaaten Georgia, Tennessee und Alabama umfasste. Es musste rasch etwas geschehen, wenn sie nicht vollends untergehen wollten. Ihre Mitglieder entschieden sich für den Weg der kulturellen Anpassung.
Keine der indianischen Nationen eignete sich im frühen 19. Jahrhundert europäische Kulturtechniken erfolgreicher an als die Cherokees. Immer mehr von ihnen begannen, als Farmer Einzelhöfe zu bewirtschaften, andere wurden Müller, Schmiede und Schreiner. Überdies errichteten sie Siedlungen im amerikanischen Stil, gründeten Schulen und konvertierten nach anfänglichem Zögern zum Christentum. Wie es im tiefen Süden üblich war, kauften sich die Wohlhabendsten von ihnen schwarze Sklaven, die ihnen bei der Feldarbeit zur Hand gehen mussten. Überdies kleideten sie sich nach westlichem Vorbild.
Seit 1809 tüftelte der Silberschmied Sequoyah an einem Silbenalphabet der Cherokee-Sprache. Schließlich entwickelte er als erster Native American überhaupt ein funktionierendes Zeichensystem für eine Stammessprache. Diese herausragende Kulturleistung intensivierte die bereits zuvor in Gang gekommene Alphabetisierung. Bald konnten zahlreiche Cherokees besser lesen und schreiben als manch einfacher Kolonist. In New Echota, ihrer Hauptstadt, erschien seit dem 21. Februar 1828 der Cherokee Phoenix, eine zweisprachige Zeitung, in der auch über die Bundespolitik berichtet wurde.
Nicht genug damit, gaben sich gebildete Repräsentanten der Cherokees 1827 eine geschriebene Verfassung – mehr als zwei Jahrzehnte früher als Friedrich Wilhelm IV. dem Königreich Preußen. In ihrer Konstitution erklärten sich die Cherokees zu einer unabhängigen Nation. Geschickt übernahmen sie zentrale Prinzipien der amerikanischen Verfassung, um, wie es in der Präambel hieß, sich und ihren Kindern für alle Zukunft die »Segnungen der Freiheit« zu sichern. In ihrer Sicht waren sie damit zu einem souveränen Staat geworden, und das innerhalb der Grenzen des Bundesstaates Georgia.
Weite Kreise im Süden empfanden den Schritt als Affront, der nicht hinzunehmen sei, zumal auf dem Stammesgebiet 1829 auch noch Gold gefunden wurde. [...] Immer mehr Amerikaner sahen in der Union ein white man’s country und wünschten sich, dass das lästige »Indianerproblem« endgültig gelöst würde. [...] Seit Mitte der 1820er Jahre nahm sich die junge Demokratische Partei der Sorgen der neuen Einwanderer und Siedler an. Nicht unerwartet wurde ihr Spitzenkandidat Andrew Jackson im Herbst 1828 mit massiver Unterstützung aus dem Süden zum neuen Präsidenten gewählt. [...] Gleich als erste Vorlage leitete Jackson dem Kongress 1829 den Indian Removal Act zu. In seiner Botschaft an die beiden Häuser unterstrich er, dass die »fünf zivilisierten Stämme« nur die Wahl hätten, sich den Gesetzen der einzelnen Bundesstaaten zu unterwerfen oder aber geschlossen in das für sie ausersehene Territorium umzusiedeln. Seine eigentlichen Beweggründe verschleiernd, gab er die geplante Vertreibung als einen humanitären Akt aus. [...] Während die Seminolen in Florida die Vereinigten Staaten in einen langjährigen Kleinkrieg verstrickten und auch die Creeks zeitweise auf den bewaffneten Widerstand setzten, wehrten sich die Cherokees mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen die drohende Zwangsumsiedlung. [...]
Zweimal reichten sie Klage beim Obersten Gerichthof, beim Supreme Court ein, der ihre Position über weite Strecken stützte. Doch der Präsident setzte sich eigenmächtig über das Urteil hinweg und erhöhte den Druck weiter.
Schließlich fanden sich prominente Stammesvertreter, die in Verhandlungen mit der Bundesregierung eintraten. Den Mehrheitswillen grob missachtend, unterschrieben diese am 29. Dezember 1835 einen Umsiedlungsvertrag . Gegen eine Entschädigung von fünf Millionen Dollar erklärten sie sich im Namen aller Cherokees bereit, die alte Heimat aufzugeben und nach Westen zu ziehen.
Jetzt hatte die Administration die Handhabe, die sie brauchte. Zwar reichte die übergangene Mehrheit eine Protestnote ein, die 15.600 Unterschriften zählte. Doch der Schandvertrag wurde vom Kongress rasch ratifiziert und danach von Präsident Jackson mit seiner Unterschrift in Kraft gesetzt. Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson sprach von einem »Verbrechen, das in seinem Ausmaß die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens sprengt«. [...]
Als die große Mehrheit keine Anstalten machte, der fatalen Vertragsbestimmung Folge zu leisten, trieben Soldaten die Cherokees schließlich mit Waffengewalt zusammen. Manche traf es bei der Feldarbeit, manche wurden vom Familientisch weggezerrt. Vielen wurde nicht einmal Zeit gelassen, um das Nötigste einzupacken. Wie hungrige Wölfe fielen Plünderer über deren Häuser her und führten – vor den Augen der Soldaten – Hausrat und Vieh weg. Danach steckte man die Farmen in Brand.
Die Gefangenen wurden in 31 Palisadenforts interniert. Die Lager waren völlig überbelegt, es grassierten tödliche Krankheiten. Zwar gab die Armee Essensrationen aus, aber die von ihr zubereiteten Mahlzeiten unterschieden sich so sehr von dem, was die Cherokees üblicherweise aßen, dass Hunderte erkrankten und viele starben. Verrohte Wachen verkauften den Insassen billigen Fusel, beraubten sie ihrer verbliebenen Habseligkeiten und vergewaltigten auch Frauen. Bis zu fünf Monate lang mussten die Cherokees dort ausharren, bevor sie auf jene Leidensmärsche gezwungen wurden, die sie in ihrer Sprache Nunna daul Tsuny nennen, »den Pfad, auf dem sie weinten«.
Der Trail of Tears führte über bis zu 1.000 Meilen in das Indian territory. [...] Die von Präsident Jackson begonnene und unter seinem Nachfolger Martin Van Buren zu Ende geführte Indianerpolitik kostete mindestens 4.000 Cherokees das Leben, rund einem Viertel des Volkes. [...]"
Ein Vulkanausbruch, folgenschwerer als der des Krakatau
- Udo Zindel: Ein Vulkan schreibt Weltgeschichte, spektrum.de 27.3.15
- "Als im April 1815 in Indonesien der Tambora ausbrach, schleuderte er so viel Asche in die Atmosphäre, dass ein Jahr später auf der gesamten Nordhalbkugel der Sommer ausfiel – mit zahlreichen Folgen. [...]
- In weiten Teilen Europas beginnt deshalb der Frühling des Jahres 1816 mit unheilvollen Wetterkapriolen. In Ungarn fällt aus schweren Gewittern rotbrauner Schnee. Aus Süditalien wird von gelben Flocken berichtet. Im südlichen Deutschland überschwemmt sintflutartiger Regen im März die Felder. Ende April können die besorgten Bauern endlich ihr Land bestellen, doch bald darauf folgt ein Wintereinbruch, der so hart ist, dass sogar Brunnen gefrieren. Ende Juni noch stehen die Saaten kaum knöchelhoch. Am 10. Juli verheert schwerer Hagel die spärlich sprießenden Feldfrüchte, und am 31. Juli schneit es auf der Schwäbischen Alb. [...] Nach Schätzungen eines Ernährungswissenschaftlers der Tufts University im US-Bundesstaat Massachusetts starben allein in Europa Hunderttausende von Menschen."