Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 7. März 2019, 02:18 Uhr
Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise ist ein Bericht des Migrationskorrespondenten des Guardian Patrick Kingsley über die Flüchtlingskrise in Europa ab 2015. Kingsley berichtet orientiert an den Erfahrungen des Syrers Hashem al-Souki und ergänzt sie aufgrund von Material aus Recherchen, Interviews und persönliche Begegnungen in 17 Ländern in Afrika, Asien und Europa über den Weg von Flüchtlingen von Afrika durch die Sahara, über das Mittelmeer und in Europa.
Inhalt
Prolog
"Es ist dunkel, weit draußen auf dem Meer. Hashem al-Souki kann seine Nachbarn nicht sehen [...]. Es sind zwei afrikanische Frauen [...] und Haschem liegt mit ausgestreckten Armen und Beinen auf ihnen. [...] Sie wollen, dass er wegrückt, schnell, und das möchte er auch tun. Aber er kann nicht - mehrere andere Menschen liegen auf ihm." (S.11) "Das Bemerkenswerteste an dieser Szene ist wahrscheinlich die Tatsache, dass sie gewissermaßen alltäglich geworden ist." (S.12)
[...] in meinem Buch möchte ich erzählen, was 2015 geschah, in jenem Jahr, als die Krise ein bislang ungekanntes Ausmaß erreichte, und was wir daraus lernen können." (S.19)
"Warum gerade Haschem? Er ist kein Freiheitskämpfer und kein Superheld. Er ist nur ein gewöhnlicher Syrer. Aber gerade deshalb möchte ich seine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte eines Durchschnittsmenschen, in dessen Fußstapfen jeder von uns eines Tages treten könnte." (S.19)
"Hätten die Politiker ein System zur organisierten Massenumsiedlung entwickelt [...] wäre Europa vielleicht imstande gewesen, die chaotischen Aspekte der Krise einzudämmen." S.16)
"Der Zustrom Tausender unregistrierter Menschen aus Griechenland erzeugt aus nachvollziehbaren Gründen ernstzunehmende Sicherheitsbedenken. [...] wenn man legale Einreisemöglichkeiten für den Großteil dieser Menschen geschaffen hätte [...] dadurch auch erleichtert, zu überwachen und zu kontrollieren, wer nach Europa einreiste." (S.17)
"Nachdem sein Land zerstört ist, weiß Haschem, dass auch seine Hoffnungen und Träume zerstoben sind. Aber um seine Kinder lohnt es sich zu kämpfen und zu sterben. 'Ich setze mein Leben aufs Spiel für etwas Größeres, für Ziele, die größer sind als das', erzählt er mir vor seinem Aufbruch. 'Wenn ich scheitere, dann scheitere ich allein. Aber indem ich das alles riskiere, kann ich vielleicht für drei Kinder einen Traum wahr werden lassen: für meine Kinder - und vielleicht auch noch für meine Enkelkinder.'" (S.20)
Ein unterbrochener Geburtstag
Schilderung der Entstehung des syrischen Bürgerkriegs und der Folgen für Haschems Familie sowie ihrer Flucht nach Ägypten.
"Später wird bekannt werden, dass in der Zeit von 2011 bis 2013 mindestens 11 000 Personen in syrischen Kerkern wie jenem, in dem sich Haschem wiederfindet, gefoltert und umgebracht wurden. Ein Datenträger mit 55 000 Fotos der Leichen von Inhaftierten wurde [...] aus Syrien herausgeschmuggelt. [...] Einnigen wurden auch die Augen herausgerissen." (S.25)
Das Zweite Meer
Beschreibung der Bedingungen auf der Wüstenroute durch die Sahara:
"Doch im Unterschied zu Meereswasser fließt der Sand nicht wieder dorthin zurück, woher er gekommen ist. Wenn man von einer solchen Sandwolke erfasst wird, kann das Auto binnen einer Stunde eingegraben sein. [...] Niemand weiß, wie viele Menschen schon auf diese Weise umgekommen sind. Auf jede Leiche, die in der Sahara entdeckt wird - im Jahre 2015 wurden mindestens 40 gezählt -, kommen weitere fünf bis fünfzig, die nie gefunden werden." (S.36)
"Nach den Aussagen einer Gruppe von Eritreern, die ich getroffen habe, ist diese Reise schlimmer als der Weg über das Meer." (S.44)
Zu Niger: "In einem der ärmsten Länder der Welt [...] ist der Menschenschmuggel eine lebenswichtige Einkommensquelle für viele Ortsansässige - und auch für viele Beamte." (S.41/42)
Zu Erpressung und Folter: "'Erpressung ist Teil unserer Kultur geworden' erzählt mir ein eritreischer Flüchtlingsaktivist. 'Wir wissen wo wir gefoltert werden und was wir zahlen müssen. Wir sind darauf vorbereitet. Für uns ist das normal.' [...] Die Familie muss also für die Reise durch die Wüste nachträglich 1600 US-Dollar zahlen. Wenn die Familie dieses Geld nicht aufbringen kann, foltert der Schleuser den Migranten und lässt dessen Angehörige am Telefon mithören." (S.46)
Handel mit Menschen
"Die Schlepper haben keinen eigenen unabhängigen Hafen mit klar markierten Booten, die von EU-Bombern leicht ins Visier genommen werden können. Sie erwerben sie erst ein paar Tage vor einer Tour von Fischern. [...] 'Einer der Gründe, warum Fisch so teuer geworden ist, liegt darin, dass es nicht mehr genügend Boote gibt, die zum Fischen hinausfahren können', erklärt Hadschi später. 'Sehr viele Boote werden an Schleuser verkauft.'" (S.65/66)
"Bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts brachten die Schleuser pro Jahr insgesamt vielleicht rund 40 000 Menschen nach Lampedusa [...].
Nach einem Abkommen Gaddafis mit Italien (2009) zur Unterbindung der Migrantenströme reduzierte er sie auf "nur noch 4 500". (S.66)
2011 war dann ein "Rekordjahr für die Menschenschmuggler, die auf der italienischen Route arbeiteten [...] 64 000 Menschen". (S.68)
"Im Jahr 2014 gerieten die Dinge dann außer Kontrolle [...]. Mehr als 170 000 Menschen erreichten die italienische Küste." (S.68/69) Die Milizen stiegen selbst in das Schleusergeschäft ein. (S.70)
"Dann macht uns der Schmuggler mit den lokalen Küstenwachen bekannt (eine bezeichnende Verbindung), die uns mitteilen, dass sie den Menschenschmuggel nicht unterbinden können, selbst wenn sie es wollten: Sie und ihre Kollegen in anderen Küstenorten haben nur drei Schlauchboote, mit denen sie die gesamte Küste Westlybiens überwachen sollen." (S.72/73)[...] in Ägypten und der Türkei haben Dutzende Schleuser Facebook-Gruppen eingerichtet, um die Werbetrommel zu rühren. [...] Heute verbreiten sie über die sozialen Medien öffentlich ihre Telefonnummern, ihre Preise und ihre Abfahrtstermine, um Kunden anzuziehen." (S.98)
Abu Alaa nennt seine Gruppe 'The Way to Europe' und bringt dazu ein Bild von Moses, der das Rote Meer teilt." [...] Um seine Glaubwürdigkeit noch mehr zu steigern, streut Abu Alaa in seine Seite auch gelegentliche Bemerkungen von religiöser Hingabe ein. 'Ich vertraue auf Gott', schreibt er an einer Stelle. 'Gott hilft uns.' [...) Er veröffentlicht Wettervorhersagen sowie Berichte über erfolgreiche Touren nach Italien. [...] Daneben gibt es praktische Tipps, vom Verhalten an Bord [...] bis zu den Asylverfahren: 'Italien und die EU können Flüchtlinge nicht zurückschicken, seien es Syrer, Somalier, Iraker oder Eritreer. [...]" (S.99)
"Sobald eine Tour begonnen hat, macht er seine Seite zu einem Live-Blog über deren Verlauf [...]" (S.100)
SOS
"Für die Familie lief es von Anfang an nicht gut. [...] Bei der Ankunft in der Hafenstadt Nuweiba hatte Haschem noch etwa 100 US-Dollar in der Tasche. Das restliche Geld hatte er für die Reise und für den Mann ausgegeben, dessen Leben sie an dem syrischen Kontrollpunkt gerettet hatten." (S.104)
"Doch als die Sonne langsam untergeht, wird abermals das Schiff gewechselt. Die Schleuser wissen, dass sie das Boot bei der Ankunft in Italien verlieren werden, also wollen sie dafür ein Transportmittel einsetzen, dessen Verlust sie sich leisten können [...]" (S.113)
Schiffbruch
Die Italiener führten die Aktion Mare Nostrum zur Rettung Schiffbrüchiger ein, gaben sie aber wieder auf, als sie keine Unterstützung durch andere EU-Staaten fanden. Europäische Politiker begründeten ihre Weigerung damit, sie wollten die Migranten nicht dazu ermutigen, die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wagen.
"In dem Frühjahr, das auf die Einstellung der Operation Mare Nostrum folgte, wagten mehr Menschen die Fahrt übers Mittelmeer von Libyen aus als im entsprechenden Zeitraum des Jahres 2014, das bereits ein Rekordjahr gewesen war. Nur starben jetzt etwa achtzehnmal so viele Menschen bei solchen Fahrten." (S.127)
"Die Entscheidung, die Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, hatte die Betroffenen nicht davon überzeugt, es sei besser, an Ort und Stelle zu bleiben. Stattdessen hatte sie zu mehr Todesopfern geführt als jemals zuvor. [...] 'Wir verfolgen die Nachrichten im afrikanischen Fernsehen und auf BBC. Wir wissen, was vor sich geht', sagt Abdo. [...] Aber im Französischen gibt es die Redensart 'Cabri mort n'a pas peur du couteau.' Eine tote Ziege hat keine Angst vor dem Schlachtermesser." (S.128/29)
Kingsley beschreibt die Ankunft eines Schiffes, das Flüchtlinge gerettet hat, in Italien:
"Es ist ein zwiespältiger Eindruck, als wir in den Hafen einlaufen [...] Einerseits ist dies ein Anlass für eine große Feier. Diese Ankunft ist das Ende eines traumatischen Leidenswegs, [...]" (S.154) "Doch schon bald beginnt ein langes und verwirrendes Asylverfahren - ein Verfahren, auf das die meisten Neuankömmlinge kaum vorbereitet sind. [...] Der bürokratische Prozess beginnt, noch bevor irgendjemand das Schiff verlassen hat. [...] Die Flüchtlinge werden jetzt wieder zu einem bloß statistisch erfassten Vorgang, nachdem sie ein paar Tage lang wie Menschen behandelt worden sind. Als sie von Bord gehen, erhalten sie umgehend eine Nummer [...]" (S.155)
Gelobtes Land?
"Das große Los ist für Haschem eine langfristige Zukunft an einem Ort, wan dem seine Kinder ein Zuhause finden, das nicht mit der Angst verbunden ist, abermals weiterziehen zu müssen.
Doch zunächst muss er es schaffen, Frankreich zu durchqueren. Schweden schiebt Asylbewerber bis zum heutigen Tag ab, wenn zuvor in einem anderen EU-Land ihre Fingerabdrücke genommen wurden." (S.158)
"Der langsame Zug nach Nizza im Süden Frankreichs werde dagegen nicht kontrolliert, sagten seine Ratgeber. Wie falsch sie doch damit gelegen haben. [...] Dort versperrt jemand den Gang unmittelbar vor ihm. Ein französischer Polizist.
Fünf Tage zuvor war er noch so froh gewesen, Vertreter staatlicher Behörden zu sehen." (S.160)
"Er denkt daran, kehrtzumachen, aber damit würde er erst recht die Aufmerksamkeit des Polizisten auf sich ziehen. Wenn er entschlossen weitergeht, kommt er vielleicht durch. [...] Der Gendarm sieht auf. Haschem nickt ihm zu. Der Polizist blinzelt - und lässt ihn durch.
Heschem entkommt also dieses Mal noch, aber [...]" (S.167)
Zwischen Wäldern und Wasser
- Die Anfänge der Balkanroute
"Die Syrer haben die Ägäis als Fluchtweg entdeckt.
Lesbos, die von der Krise am stärksten betroffene Insel ist zum griechischen Lampedusa geworden." (S.179)
"Sobald die ersten Vorreiter auf diesem Weg durchgekommen waren, teilten sie ihre Erfahrungen über Facebook mit [...] (S.188) "Die Syrer erkannten, dass sie nicht nach Lybien gehen mussten, um Europa zu erreichen, und nahmen nur noch in geringem Umfang die Dienste von Schleusern in Anspruch." (S.189)
Aber Schleuser werden immer noch gebraucht. Kingsley beschreibt auf S. 195-196, wie zwei syrische Flüchtlinge in Izmir aufeinander treffen: "Der eine wird jetzt dafür bezahlt, dass er Schleuer interviewt. Der andere gehört dieser Zielgruppe an." (S.196)
Kingsley gibt die Kalkulation des Schleusers Mohammed wieder (S.196-197): Ein Boot mit 40 Passagieren bringt dem Schleuser in der Hochsaison 48 000 US-$. Bei 36 000 US-$ Unkosten bleiben ihm 12 000 US-$ Gewinn. Wenn er nur 10 Passagiere mehr in das Boot steckt, kann er seinen Gewinn beinahe verdoppeln. "Mohammeds Firma würde so etwas natürlich niemals tun." (S.197)
Nicht selten werden die Flüchtlinge von der Polizei gestoppt und verhaftet. Andere werden von Banditen ausgeraubt. "Ein Schleuser gab zu, dass seine Bande regelmäßig die eigenen Kunden angriff, bis sie erkannte, dass das schlecht fürs Geschäft war." (S.198)
"Die Fahrt über die Ägäis ist bei weitem nicht so traumatisch wie die Überfahrt von Lybien aus. Aber mit so leichten Booten und so vielen Passagieren ist sie dennoch eine hochgefährliche Reise." (S.199)
Nach Schweden
"Haschem hat nur noch eine Zugfahrt vor sich. Nur noch eine Grenze, die es zu überqueren gilt. [...] Aber jetzt, in diesem Augenblick fühlt er sich nur elend und ihm ist schlecht. Seine Knie zittern vor Kälte und Angst." (S.255)
"In Malmö, der ersten großen Stadt in Schweden, ruft Haschem im fernen Ägypten an. 'Hallo', sagt er. 'Ich bin angekommen.'" (S.256)
Ein Tor fällt ins Schloss
Als bekannt wurde, wie schlecht Flüchtlinge in Ungarn behandelt wurden, machten sich "Dutzende einfache österreichische und ungarische Bürger" (S.270) daran, anstelle der kriminellen Schlepper Flüchtlinge kostenlos von Südungarn über die ungarisch-österreichische Grenze zu bringen. Kingsley schildert genauer, was die Motivation des Österreichers Hans Breuer dabei ist: "Sein Vater, ein jüdischer Dissident, floh kurz vor dem Zweiten Weltkrieg aus Österreich nach Großbritannien [...] [Breuer fügt hinzu:] 'Freunde meiner Eltern, Juden, versuchten in die Schweiz zu emigrieren, aber die Schweizer schickten sie an der Grenze zu den Nazis zurück." (S.273) Er will tun, was er kann, dass sich das nicht wiederholt. Diese Motivation wird auch an seinem Verhalten auf solchen Rettungsfahrten deutlich: "Auf einer früheren Fahrt mit einer Wagenladung syrischer Palästinenser sang er jiddische Volkslieder, worauf seine Passagiere in den Refrain einstimmten." (S.273)
"Europas Isolationisten mögen vielleicht keine ethische Verpflichtung empfinden, Menschen zu schützen, die vor Angriffen im Stil der Pariser Ereignisse flüchten, die in ihrer Heimat allerdings nicht einmal in zehn Jahren vorkommen, sondern an der Tagesordnung sind. Es ist dennoch an der Zeit, dass sie die praktischen Probleme wahrnehmen, die mit der von ihnen angestrebten Sicherheitslösung verbunden sind." (S.289)
Status ungeklärt
"Haschem nutzt heute den Internet-Anschluss der Bücherei [...] Und dann stößt er auf eine Nachricht, über die er am liebsten weinen würde. Schwedens politische Parteien [...] haben sich allesamt darauf geeinigt, die Praxis der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Syrer zu beenden, mit Ausnahme derjenigen, die mit der ganzen Familie gekommen sind. Für die Männer, auf die das nicht zutrifft, [...] soll es beim Recht auf Familiennachzug Einschränkungen geben." (S.300)
Epilog: Was geschah als Nächstes?
"Bei allen in diesem Buch erwähnten Flüchtlingen ist das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen, ich kann also nicht über alle Beteiligten alles berichten, was ich weiß." (S.319)
"In Izmir hat der Menschenschmuggel Mohammed zu einem reichen Mann gemacht. Er ist inzwischen verheirat, hat ein eigenes Haus in einer Kleinstadt unweit der Küste und ist nicht mehr so eng in die tägliche Organisation seines Netzwerks eingebunden." (S.320)
Eine Nachricht von Hashem al-Souki
"Obwohl ich das Grauen des Krieges erlebt habe [...] und ich ständig Angst um meine Kinder und meine Familie habe - all dem zum Trotz habe ich vieles gelernt. An erster Stelle steht dabei, dass es viele Menschen gibt, die einem immer wieder die Hoffnung und Entschlossenheit geben, die man braucht, um der Finsternis zu widerstehen." (S.321/22)
Anmerkung des Autors
"Als Mitmensch fällt es einem sehr schwer, nicht persönlich involviert zu werden. Aber als Reporter wusste ich, dass ich Haschem seinen eigenen Weg gehen lassen musste." (S.324)
Interview mit dem Autor über das Buch
- "Die Menschen sterben einfach" jetzt.de, 10.5.2016
Bibliographische Angaben mit Leseprobe
- Kingsley, Patrick: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, C.H. Beck, München 2016. 332 S. ISBN 978-3-406-69227-7