Wanderjahre in Italien: Unterschied zwischen den Versionen
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Der Wein spannt die Nerventätigkeit an, aber er nährt nicht die Muskeln. Der Landmann trinkt ihn von der schlechtesten Art, einen Wein vom zweiten Aufguß; nun muß er Brot haben. Der Weizen ist zu kostbar; er pflanzt oder kauft die {{ | Der Wein spannt die Nerventätigkeit an, aber er nährt nicht die Muskeln. Der Landmann trinkt ihn von der schlechtesten Art, einen Wein vom zweiten Aufguß; nun muß er Brot haben. Der Weizen ist zu kostbar; er pflanzt oder kauft die {{wpde|Polenta|Polenta}}, das Mehl des {{wpde|Mais|türkischen Korns}}. Wie in der Lombardei und in den Marken bedeckt die {{wpde|Campagna|Campgna}} von {{wpde|Latium |Latium}} die schöne Pflanze des orientalischen Korns, deren große goldgelbe Kolben die Natur wie ein köstliches Juwel zu betrachten scheint, denn sie hat dieselbe mit neunfacher Einhülle umwickelt. Alles Landvolk genießt die Polenta, entweder als Brei oder als Kuchen, Pizza genannt. Wenn ich jemand auf dem Wege fragte: Was hast du heute zum Frühstück gegessen?, so antwortete er: La pizza - was wirst du des Abends essen? La pizza. Ich habe sie selbst am Herde des Volkes gegessen. Man bereitet sie so: Der gelbe Mehlbrei wird zu einem Fladen geformt und dann auf einem platten Stein über Kohlenfeuer gebacken. Glühend heiß wird der Kuchen verschlungen. Die ganze Familie sitzt um ihn her und genießt in ihm ihre Mahlzeit. Abends gibt es einen Salat vom Felde mit Öl dazu, bisweilen eine Wassersuppe aus Zichorien und andern Kräutern oder Gemüsen bestehend. Oft fehlt das Öl, wie es in diesem Jahre fehlen wird, wo die Ölbäume, nachdem sie im verwichenen überreich getragen hatten, auch die geringste Frucht versagen - ein Bild menschlicher Tätigkeit, oder auch des Glücks und aller Freude, welche flutet und ebbt. Man kann sich denken, mit welcher Aufregung das Landvolk der Ernte des türkischen Korns entgegensieht. Am Ende des Julius wölbt sich der Kolben an der Pflanze, dann verlangt sie Regen. Es fiel keiner; eine glühend heiße Luft lag auf den Feldern. | ||
===Gebete um Regen=== | ===Gebete um Regen=== | ||
Das Volk geriet in Angst; man beschloß, den Himmel um Regen anzuflehen. Tägliche Prozessionen am Nachmittag; indem sie mich an die heidnischen Gebräuche erinnerten, an jene Rubigalischen Feste, an den Regenstein des alten Rom, den man auf der Via Appia umhertrug, an das «votisque vocabitis imbrem», konnte ich sie nicht ohne Erstaunen betrachten. Es ist wahrhaft befremdend, sich unter einem Volke zu befinden, welches noch in unserer Zeit den naiven Glauben hegt, daß die unerschütterlichen Gesetze der Natur durch Gebet und Geschrei um Gnade können aufgehoben, verändert oder beschleunigt werden. Jeden Abend zogen die Frauen Genazzanos durch den Ort, paarweise, mit ihren roten Kopftüchern, welche schleierartig herabfallen und stets getragen werden, wenn das Weib die Kirche betreten will; vor ihnen die Geistlichkeit mit einem Heiligenbild. Erreichten sie murmelnd und singend den Hauptplatz, so riefen sie mit einer an Raserei grenzenden Inbrunst drei- und mehrmal: «Grazie, Grazie, Maria!», und dieser Schrei, von hundert und aber hundert hellen Stimmen zugleich ausgestoßen, hallte in den Lüften wider. «Et Cererem clamore vocant in tecta» (bei Virgil). Jeden Tag ein anderer Heiliger: aber einer war tauber oder trockener als der andere. Meine Wirtin - sie war bis zu einem gewissen Grade aufgeklärt und besaß obendrein kein mit Mais bepflanztes Ackerland - sagte eines Abends, da wir am Tisch saßen und plötzlich vor unserer Türe jenes rasende Geschrei «Grazie, Grazie, Madonna!» erschallte: «Warum quälen sie doch die Heiligen im Himmel? Sie werden das so lange tun, bis sie böse werden und gar nicht regnen lassen!» Ich selbst war von dieser fieberhaften Aufregung angesteckt und wünschte sehnlich den Regen herbei; ja, ich besuchte die Maisfelder alle Tage; sie waren dem Verschmachten nahe. Endlich trug man Sankt Antonius von Padua in Prozession umher; indem man ihn nach jenem Kloster San Pio brachte, predigte ein Augustiner von der Treppe desselben, unter Fackelschein, während alles Volk die Straße bedeckte, und Zuhörer selbst auf die Bäume geklettert waren - eine sonderbare Szene: Der gestikulierende Mönch, das Heiligenbild, die schwarzen Kreuze, die weißen Soutanen der Chorknaben, die roten Schleier der Weiber, grelle Streiflichter der Fackeln, dunkle Bäume und die herrlichste Bläue über so mächtiger Landschaft,- und alles dies, um Regen vom Himmel herabzuziehen. Endlich bewölkte sich am dritten Tag der Himmel; es donnerte und ein tropischer Regen entstürzte mit heftiger Gewalt. | Das Volk geriet in Angst; man beschloß, den Himmel um Regen anzuflehen. Tägliche Prozessionen am Nachmittag; indem sie mich an die heidnischen Gebräuche erinnerten, an jene Rubigalischen Feste, an den Regenstein des alten Rom, den man auf der Via Appia umhertrug, an das «votisque vocabitis imbrem», konnte ich sie nicht ohne Erstaunen betrachten. Es ist wahrhaft befremdend, sich unter einem Volke zu befinden, welches noch in unserer Zeit den naiven Glauben hegt, daß die unerschütterlichen Gesetze der Natur durch Gebet und Geschrei um Gnade können aufgehoben, verändert oder beschleunigt werden. Jeden Abend zogen die Frauen Genazzanos durch den Ort, paarweise, mit ihren roten Kopftüchern, welche schleierartig herabfallen und stets getragen werden, wenn das Weib die Kirche betreten will; vor ihnen die Geistlichkeit mit einem Heiligenbild. Erreichten sie murmelnd und singend den Hauptplatz, so riefen sie mit einer an Raserei grenzenden Inbrunst drei- und mehrmal: «Grazie, Grazie, Maria!», und dieser Schrei, von hundert und aber hundert hellen Stimmen zugleich ausgestoßen, hallte in den Lüften wider. «Et Cererem clamore vocant in tecta» (bei Virgil). Jeden Tag ein anderer Heiliger: aber einer war tauber oder trockener als der andere. Meine Wirtin - sie war bis zu einem gewissen Grade aufgeklärt und besaß obendrein kein mit Mais bepflanztes Ackerland - sagte eines Abends, da wir am Tisch saßen und plötzlich vor unserer Türe jenes rasende Geschrei «Grazie, Grazie, Madonna!» erschallte: «Warum quälen sie doch die Heiligen im Himmel? Sie werden das so lange tun, bis sie böse werden und gar nicht regnen lassen!» Ich selbst war von dieser fieberhaften Aufregung angesteckt und wünschte sehnlich den Regen herbei; ja, ich besuchte die Maisfelder alle Tage; sie waren dem Verschmachten nahe. Endlich trug man Sankt Antonius von Padua in Prozession umher; indem man ihn nach jenem Kloster San Pio brachte, predigte ein Augustiner von der Treppe desselben, unter Fackelschein, während alles Volk die Straße bedeckte, und Zuhörer selbst auf die Bäume geklettert waren - eine sonderbare Szene: Der gestikulierende Mönch, das Heiligenbild, die schwarzen Kreuze, die weißen Soutanen der Chorknaben, die roten Schleier der Weiber, grelle Streiflichter der Fackeln, dunkle Bäume und die herrlichste Bläue über so mächtiger Landschaft,- und alles dies, um Regen vom Himmel herabzuziehen. Endlich bewölkte sich am dritten Tag der Himmel; es donnerte und ein tropischer Regen entstürzte mit heftiger Gewalt. |
Aktuelle Version vom 7. Mai 2022, 09:39 Uhr
Ferdinand Gregorovius sammelte in seiner Schrift Wanderjahre in Italien. 1856–1877. in ursprünglich fünf Bänden Aufsätze aus zwanzig Jahren (aktuelle Ausgabe: 5. Aufl. Beck, München 1997. ISBN 3-406-42803-7, Seitenzahlen nach der Ausgabe im Agrippina-Verlag von 1953)
Aus der Campagna von Rom (1858)
Polenta
Der Wein spannt die Nerventätigkeit an, aber er nährt nicht die Muskeln. Der Landmann trinkt ihn von der schlechtesten Art, einen Wein vom zweiten Aufguß; nun muß er Brot haben. Der Weizen ist zu kostbar; er pflanzt oder kauft die Polenta, das Mehl des türkischen Korns. Wie in der Lombardei und in den Marken bedeckt die Campgna von Latium die schöne Pflanze des orientalischen Korns, deren große goldgelbe Kolben die Natur wie ein köstliches Juwel zu betrachten scheint, denn sie hat dieselbe mit neunfacher Einhülle umwickelt. Alles Landvolk genießt die Polenta, entweder als Brei oder als Kuchen, Pizza genannt. Wenn ich jemand auf dem Wege fragte: Was hast du heute zum Frühstück gegessen?, so antwortete er: La pizza - was wirst du des Abends essen? La pizza. Ich habe sie selbst am Herde des Volkes gegessen. Man bereitet sie so: Der gelbe Mehlbrei wird zu einem Fladen geformt und dann auf einem platten Stein über Kohlenfeuer gebacken. Glühend heiß wird der Kuchen verschlungen. Die ganze Familie sitzt um ihn her und genießt in ihm ihre Mahlzeit. Abends gibt es einen Salat vom Felde mit Öl dazu, bisweilen eine Wassersuppe aus Zichorien und andern Kräutern oder Gemüsen bestehend. Oft fehlt das Öl, wie es in diesem Jahre fehlen wird, wo die Ölbäume, nachdem sie im verwichenen überreich getragen hatten, auch die geringste Frucht versagen - ein Bild menschlicher Tätigkeit, oder auch des Glücks und aller Freude, welche flutet und ebbt. Man kann sich denken, mit welcher Aufregung das Landvolk der Ernte des türkischen Korns entgegensieht. Am Ende des Julius wölbt sich der Kolben an der Pflanze, dann verlangt sie Regen. Es fiel keiner; eine glühend heiße Luft lag auf den Feldern.
Gebete um Regen
Das Volk geriet in Angst; man beschloß, den Himmel um Regen anzuflehen. Tägliche Prozessionen am Nachmittag; indem sie mich an die heidnischen Gebräuche erinnerten, an jene Rubigalischen Feste, an den Regenstein des alten Rom, den man auf der Via Appia umhertrug, an das «votisque vocabitis imbrem», konnte ich sie nicht ohne Erstaunen betrachten. Es ist wahrhaft befremdend, sich unter einem Volke zu befinden, welches noch in unserer Zeit den naiven Glauben hegt, daß die unerschütterlichen Gesetze der Natur durch Gebet und Geschrei um Gnade können aufgehoben, verändert oder beschleunigt werden. Jeden Abend zogen die Frauen Genazzanos durch den Ort, paarweise, mit ihren roten Kopftüchern, welche schleierartig herabfallen und stets getragen werden, wenn das Weib die Kirche betreten will; vor ihnen die Geistlichkeit mit einem Heiligenbild. Erreichten sie murmelnd und singend den Hauptplatz, so riefen sie mit einer an Raserei grenzenden Inbrunst drei- und mehrmal: «Grazie, Grazie, Maria!», und dieser Schrei, von hundert und aber hundert hellen Stimmen zugleich ausgestoßen, hallte in den Lüften wider. «Et Cererem clamore vocant in tecta» (bei Virgil). Jeden Tag ein anderer Heiliger: aber einer war tauber oder trockener als der andere. Meine Wirtin - sie war bis zu einem gewissen Grade aufgeklärt und besaß obendrein kein mit Mais bepflanztes Ackerland - sagte eines Abends, da wir am Tisch saßen und plötzlich vor unserer Türe jenes rasende Geschrei «Grazie, Grazie, Madonna!» erschallte: «Warum quälen sie doch die Heiligen im Himmel? Sie werden das so lange tun, bis sie böse werden und gar nicht regnen lassen!» Ich selbst war von dieser fieberhaften Aufregung angesteckt und wünschte sehnlich den Regen herbei; ja, ich besuchte die Maisfelder alle Tage; sie waren dem Verschmachten nahe. Endlich trug man Sankt Antonius von Padua in Prozession umher; indem man ihn nach jenem Kloster San Pio brachte, predigte ein Augustiner von der Treppe desselben, unter Fackelschein, während alles Volk die Straße bedeckte, und Zuhörer selbst auf die Bäume geklettert waren - eine sonderbare Szene: Der gestikulierende Mönch, das Heiligenbild, die schwarzen Kreuze, die weißen Soutanen der Chorknaben, die roten Schleier der Weiber, grelle Streiflichter der Fackeln, dunkle Bäume und die herrlichste Bläue über so mächtiger Landschaft,- und alles dies, um Regen vom Himmel herabzuziehen. Endlich bewölkte sich am dritten Tag der Himmel; es donnerte und ein tropischer Regen entstürzte mit heftiger Gewalt.
Es scheint, daß die Götter oder die Heiligen, welche nun ihre Stelle vertreten, nichts schenken, ohne ein Opfer zu verlangen. So geschah es hier; mit dem Regen kam eine Wolkentromba, ein herrliches Phänomen, welches ich reitend beobachtete; es zog von den Volskergebirgen, blauschwarz, über das Tal, und indem es zerplatzte, verwüstete es durch Hagelgüsse einen Strich der Weinberge. Alle Nachmittage Gewitter, Wolkenbrüche, Donnerschläge und Blitze. Dann läutet man mit allen Kirchenglocken, aus Angst. Eines Tages bewegte sich der Ort, alles Volk strömte auf die Gassen; es hieß, vier Personen seien vom Blitz erschlagen worden. Das Gerücht bestätigte sich. Man brachte die Toten in ein Winzerhaus, wo die Polizei durch 24 Stunden lang Wache hielt. Am folgenden Tag stieg das wohllöbliche Gericht auf die Esel, der medichino, der kleine Doktor, und der Chirurg mit ihm, die Leichenschau zu vollziehen. Diese Toten waren zweifellos vom Blitz erschlagen worden. Gegen die Nacht holte man sie herein; sie lagen auf einem Karren, bedeckt mit schwarzen Teppichen; ihnen vorauf ging die Geistlichkeit mit Kerzen, und es begleitete sie die Totenbrüderschaft in schwarzen Mänteln, Windfackeln in den Händen. Der Anblick war ergreifend. Das Volk harrte draußen vor dem Tor. Als der feierliche Zug mit dem Gesang des Totenpsalms heraufkam und das Tor erreichte, streckten alle in unsäglicher Aufregung die Hände empor und stießen ein Klagegeheul aus, so wild, furchtbar und ängstigend, daß es auch das härteste Gemüt würde erschüttert haben. Die vom Blitz Erschlagenen werden nämlich mit Scheu betrachtet, als von Gott hingeraffte Wesen, von denen man nicht weiß, ob sie zur Verdammnis bestimmt seien. Da rissen sich Verwandte, Frauen und Kinder aus der Menge los; ein Weib rang in verzweifelter Anstrengung mit den Umstehenden, welche es festhielten, willens, sich auf die Bahre zu stürzen. Als nun die Leichen einzeln nach der Kirche gebracht wurden, wo sie auf dem Boden die Nacht durch liegen blieben, dieselben Szenen und dasselbe Klagegeschrei. Dies finstere Bild kann ich nicht mehr vergessen.
Die Gefühle dieses Landvolks drücken sich in primitiver Weise aus, und vielfach sind die ältesten Naturzustände hier bestehengeblieben.
Verhältnis der Geschlechter zueinander
Auffallend war mir stets die fast an den Orient erinnernde Zurückhaltung beider Geschlechter von einander. Es gilt dort der Grundsatz: Männer haben mit Männern, Frauen mit Frauen zu verkehren. Man findet es lächerlich, wenn der Ehemann seine Frau am Arm führt, und das Mädchen hält seinen Ruf für gefährdet, wenn es von einem jungen Mann auf öffentlicher Straße angesprochen oder gar von ihm des Wegs begleitet wird. Dem Geliebten wird nur der «discorso» gestattet, das heißt das Zwiegespräch am Fenster oder an der Haustür, jenes alte Liebesgeschwätz, die «lenes sub noctem susurri» des Horaz. Man bringt Serenaden auf der Gitarre; und oft hörte ich Schäferständchen von Gesang und klagenden Tönen der Sackpfeife, welche des Nachts melodisch und trauervoll die Luft durchschweben. In schönen Weisen singt das Volk hier die einfachen, langausgedehnten Ritornelli, und es ist angenehm, im Weinberg Frage und Antwort zweier Liebenden zu hören, welche unermüdlich, wie die Zikaden des Sommers, sich singend zurufen.
Man heiratet hier sehr früh, der junge Mann von 21 Jahren nimmt ein Weib, das oft nicht mehr als 15 Jahre zählt. Ein wirkliches Liebesverhältnis und Verkehr längerer Zeit (was man überall far amore nennt) ist eher bei dem gemeinen Manne als bei den wohlhabenden und höhern Ständen zu finden, wo die Heirat gewöhnlich ein Geschäft ist. Ich erlebte davon ein Beispiel. Ein junger Abbate von 21 Jahren, Sohn einer begüterten Familie des Orts, ging mit dem Gedanken um, in den weltlichen Stand zurückzutreten. Eines Tages kam ein Franziskanermönch von Civitella (die Franziskaner sind hier die Mittler in allen Familienangelegenheiten) zur Mutter desselben und sagte ihr: In dem Ort Pisciano befinde sich ein Mädchen von ungefähr achtundzwanzig Jahren, welches einen Mann suche: Es habe 1000 Skudi Mitgift und sei aus der besten Familie. Wenn nun sie, die Mutter, zu dieser Partie zustimme, möge sie den Sohn befragen. Der junge Mensch ging auf den Vorschlag ohne Besinnung ein; er setzte sich am folgenden Tag in seiner geistlichen Kleidung aufs Pferd und ritt nach dem Wohnort des Mädchens. Nach geschlossener Verlobung wurde der Schneider gerufen, aus dem geistlichen Rock einen weltlichen zu machen; die Schwester nähte in Eile ein Paar graue heiratsfähige, weltliche Hosen, und weil dem jungen Mann eine Weste fehlte, so schickte dessen Mutter in der Heimlichkeit zu mir, mich um eine solche für ihren Sohn zu ersuchen. Also ausgerüstet, präsentierte er sich zum zweitenmal seiner Braut in einem Winzerhaus, wo der Ehekontrakt gezeichnet wurde. Nach Verfluß von drei Wochen kam sie in einem Wagen angefahren, zwei große Säcke voll von Kupfermünzen mit sich führend, und die Trauung wurde auf der Stelle vollzogen. Der junge Ehemann hatte seine Lebensgefährtin vor dieser Zeit nur zweimal, und zwar nur auf Stunden, gesehen. Ein Stübchen im Hause der Eltern war dem Paar eingerichtet, oder vielmehr nur ein kolossales Ehebett darin aufgestellt worden, sonst aber hatte dieses Ereignis keine Veränderung hervorgebracht.
Ritual bei der Neuverheiratung eines Witwers
Ich will bei dieser Gelegenheit einer sonderbaren Sitte Latiums nicht vergessen. Eines Abends erhob sich auf dem Platz der Stadt ein fremdartiges, ohrenzerreißendes Getöse von allerhand nicht bestimmbaren Instrumenten; ich trat hinaus und fand die große wie die kleine Jugend Genazzanos vor einem Hause versammelt, wo sie allem Anschein nach eine Katzenmusik darbrachte. Nie, selbst nicht auf deutschen Universitäten, hörte man eine genialer erfundene Disharmonie von Instrumenten. Denn diese stießen schauderhafte Töne aus der gewölbten Meermuschel, die aus dem Kuhhorn, jene klapperten mit Winzermessern, Spaten, eisernen Pfannen; dieser hielt ein Bündel von allerhand eisernen Dingen an einem Faden, welches er mächtig schüttelte, und jener rasselte über dem Straßenpflaster mit einer alten Kasserolle, die er im Halbkreis an einem Strick hin und her schleifte. Ihrer zehn oder zwölf läuteten mit Kuhglocken auf das allervergnüglichste. «Sagt», so fragte ich einen Herrn, welcher dem lärmenden Haufen lachend zuhörte, «was bedeutet dieses sonderbare Wesen?» «In dem Hause dort», so antwortete er, «wohnt ein Witwer, welcher eben geheiratet hat,- man bringt ihm die Scampanellata.» So heißt der ziemlich barbarische Gebrauch von dem Ausläuten der Kuhglocken. In ganz Latium herrscht diese alte Sitte, einem Ehepaar, dessen einer oder der andere Teil vorher verwitwet war, durch drei Abende vor dem Haus eine Katzenmusik zu bringen. Und so taten sie's dreimal in Genazzano, indem sie nach vollbrachtem infernalischem Spektakel durch den Ort zogen, voran auf einer Stange eine Kürbislaterne tragend; die Prozession setzte so ungestört durch alle Straßen diese höllische Musik fort, nicht anders, als zöge eine Schar Dämonen, die Nacht durchschwärmend, durch dieses friedliche Städtchen.
Denn friedlich ist Genazzano wahrlich; seine Bewohner, sanftmütiger und auch abergläubischer als die Nachbarn, scheinen diese Gemütsart der Bedeutung der Stadt mit zu verdanken, welche ein so berühmter Wallfahrtsort ist, daß ihre reiche Kirche heute in Latium die Stelle des Tempels der Fortuna in Präneste vertritt. (S.179-181)
Wallfahrten
Eine Wallfahrt wird stets auf denjenigen, der sich nicht zur Kirche bekennt, mit welcher sie zusammenhängt, einen Reiz ausüben, zumal wenn die Illusion nicht durch die Übel gestört wird, die von einem gemischten Wanderzuge immer unzertrennlich bleiben. Ihrer sind weniger bei den Wallfahrten im Süden, als bei denen im Norden; der heitere Himmel, die Nüchternheit und Bedürfnislosigkeit des Südländers entfernen von selbst viele Unordnungen; die Schönheit der Form, in welcher die südliche Prozession auftritt, die herrlichen Gewänder der Frauen, ihre Wohlgestalt und natürliche Grazie erhöhen sie und scheinen sie der Gemeinheit zu entrücken; endlich findet die Sitte in dem angebotenen Takt des Wohlanständigen, welcher dem italienischen Volk eigen ist, ihre beste Schutzwehr. Unter all diesen Tausenden, die an mir vorübergingen, unter allen Prozessionen, denen ich mich bei der Rückkehr nach vollendetem Fest anschloß, streckenweise mitwandernd, um das Volk, sein Vaterland, seine Gestalt und Sprache kennenzulernen, bemerkte ich nie einen Zug von Roheit.
Man denke ferner, daß dieses Volk, in solcher Form des religiösen Lebens erzogen, nichts Höheres hat als eine Wallfahrt nach einem seiner Heiligtümer. Wenn es ein langes Jahr in Mühe geduldet, und alle solche Schicksale und Verschuldungen sich jahrdurch ihm aufgehäuft haben, welche seine moralische Welt verwirren und sein Gemüt belasten, dann greift es für ein paar Festtage nach dem Wanderstab. Von seiner harten Scholle in den Bergen sich lostrennend und von schwerer Arbeit ausruhend, bewegt es sich einmal wieder und fühlt sich frei in Gemeinschaft seiner Dorf- und Stadtgenossen, mit denen es ein gleicher Zweck vereinigt.
Und da wandern sie den Sacco entlang und von den Hügeln herab, «come i grù, che van cantando lor lai», wie die Kraniche, die ihre Lieder singend ziehen. Es zieht das Mittelalter vorüber; ich gedachte jener Scharen von Wallfahrern, welche zum Jubeljahre nach Rom pilgerten, und mehr als einmal sprach ich bei solchem Anblick jene schönen Verse des Pilgersonetts der «Vita Nuova» aus: Deh! peregrini, che pensosi andate Forse di cosa che non v'è presente, Venite voi di si lontana gente, Com' alla vista voi ne dimostrate? Ihr Pilger, die ihr in Gedanken geht Vielleicht an etwas, das euch nicht vorhanden, Kommt ihr denn wirklich aus so fernen Landen, Als denen nach der Tracht ihr ähnlich seht? (A. W. Schlegel)
Sie ziehen zu zehn, zwanzig, zu fünfzig, zu hundert und mehr Personen. Jedes Alter erscheint unter ihnen; der Greis wandert noch an demselben Pilgerstabe, der ihn schon fünfzigmal die Straße geführt hat, und vielleicht zieht er sie heute zum letztenmal; es wandert die Matrone mit ihren Enkeln; die blühend schöne Jungfrau, der rüstige Jüngling, der Knabe; selbst der Säugling wandert mit auf dem Kopf seiner Mutter. Denn so sah ich in einem dieser Züge ein junges Weib daherschreiten, welches auf dem Kopf einen Korb trug, worin ein lachendes Kind lag, die Augen munter aufgetan, wie als freute es sich des schönen Sonnenscheins. Es tragen wohl die meisten dieser Weiber einen Korb mit Mundvorrat oder ein Bündel mit Kleidern auf dem Kopf, was die Schönheit der Erscheinung noch mehr erhöht. Wer nun gar von den Seelen den Schleier heben könnte, der würde die verdeckte Blutschuld neben der Unschuld gemeinsam pilgern und Laster, Reue, Schmerz und Tugend im bunten Wechsel an sich vorüberschreiten sehen.
Es ist wie ein großer, schöner, doch ernster Maskenzug, was sich auf der herrlichsten Szene der Natur vorüberbewegt, in immer neuen Kostümen und Farben, auch in verschiedenen Physiognomien. Da kommen die von Frosinone; die Anagnesen, dort das Volk von Veroli, die Arpinaten, die von Anticoli, die von Ceprano, hier die Neapolitaner von Sora.
Seht die Schar von Sora! Olivendunkle Gesichter vom schönsten Oval! Die Frauen phantastisch aussehend, wie Weiber Arabiens; dicke Korallenschnüre oder goldene Ketten schlingen sich um den Hals, schwere goldene Ohrgehänge schmücken sie; ein weißes oder braunes Kopftuch mit langen Fransen umwölbt als tief herabhängender Schleier madonnenhaft Haupt und Nacken; der Busen ruht in einem weißen, in zahllose Falten zusammengezogenen, doch weiten und losen Hemde, das eine niedrige purpurrote Büste umschließt. Kurz ist das Kleid, die Farbe brennend rot oder blau, und der Saum ist gelb. Und diese großen und dunklen Augen unter schwarzen und kühn gezogenen Brauen!
Die Pilger von Ceccano! Die Weiber in amarantfarbigen Miedern, mit langen Schürzen gleicher Farbe; das weiße Kopftuch mit weit nach hinten überhängendem Ende; in Sandalen gehend. Die Männer im Spitzhut, mit amarantner Jacke; einen Gürtel um den Leib, aus buntem Band geflochten. Pilger von Pontecorvo! Die Weiber in purpurroten, schön verbrämten Kleidern; ein roter Kopfbund; prächtig und majestätisch.
Die Pilger von Filettino: schwarzes Samtmieder; einfachste Gewandung; sauber und schön. Ciociaren! Die Männer und Weiber vom Sandalenland! Vielleicht aus einem Ort bei Ferentino oder weiter hinweg von den neapolitanischen Grenzen des Liris und Melfa. Es ist ein Land schöner Bergwildnisse, welches von Ferentino aufwärts sich weit ins Neapolitanische erstreckt. Dort trägt das Volk die Ciocie, eine sehr einfache Fußbekleidung, wovon auch das Land la Ciociaria genannt wird. Ich fand schon vor Anagni dieses Schuhwerk im Gebrauch. Ein primitiveres läßt sich nicht erfinden, und vielleicht darf man sagen auch kein bequemeres. Wenigstens habe ich die Ciociaren aufrichtig darum beneidet. Der Schuh wird einfach aus einem viereckigen Stück der Esels- oder Pferdehaut hergestellt. Man bohrt Löcher in dieselbe, zieht einen Bindfaden durch und umschnallt mit diesem Pergament den Fuß so, daß die Sandale nach der Fußspitze sich formt und selber in eine gebogene Spitze ausläuft. Das Bein wird bis zum Knie herauf mit grober grauer Leinwand fest umwickelt und mit vielfachen Binden von Stricken oder Fäden umschnürt. So bewegt sich der Ciociare frei und bequem auf dem Feld und über den Felsen, wo er das Land gräbt (zappar la terra), oder als Hirt mit dem Dudelsack, in einen grauen, kurzen Mantel oder in Felle gehüllt, die Schafe und Ziegen treibt. Man sieht, jene Sandalen sind klassisch, und Diogenes würde sie, wenn er nicht barfuß ging, getragen, Chrysippus oder Epiktet in einer Abhandlung über die Bedürfnislosigkeit der Weisen sie verherrlicht haben. Ist dies Schuhwerk wohl hergerichtet, und zumal die leinene Beinschiene noch neu, so sieht es gut aus, aber schlecht und lumpen- oder bettelhaft, wenn sich diese Beinkleidung zerfasert. Und da dies häufiger der Fall ist, gibt es dem Sandalenvolk den ausgeprägten Charakter der zerlumpten Armut, und seine Name wird mißachtend, ja bisweilen als Schimpfwort gebraucht. Als mir eines Tags ein Bürger von San Vito das schöne Panorama der Campagna zeigte, sagte er. «Seht, Herr, dort, dort liegt die Ciociaria», und er lächelte mit einer gewissen vornehmen Geringschätzung.
Die Ciociaren tragen lange, brennendrote Westen und einen spitzen, schwarzen Filzhut, an welchem selten eine bunte Feder, eine Schleife oder Blume fehlt. Ich fand unter ihnen, wie überhaupt in der Campagna von Rom, auffallend viele Menschen mit blonden Haaren und mit blauen Augen. Sie scheren das Haar kurz am Hinterkopf wie die preußische Landwehr, und lassen an den Schläfen lange Büschel niederhängen. Noch einen grauen, zerlumpten Regenmantel, oder ein weißes oder schwarzes Schafsfell hängen wir dem Ciociaren über, und so ist der Sandalenmann fertig; aber eine Flinte geben wir ihm nicht in die Hand, sonst wird er als Räuber im Paß von Ceprano uns anfallen und zurufen: «Faccia in terra!» und mit erstaunlicher Behendigkeit unsere Taschen ausleeren. Auch das Weib trägt die Sandalen, einen kurzen bunten Rock, eine bunte schräg oder quer gezogene Wollenschürze, ein weißes oder auch rotwollenes Kopftuch, und endlich den busto, das Hauptstück der weiblichen Kleidung überhaupt in ganz Latium. Dies ist das Mieder von steifer gesteppter Leinwand, hart wie ein Sattel, breit und hoch, und an Achselbändern auf den Schultern ruhend. In ihm wiegt sich und stützt sich die Brust; es scheint als Bollwerk die Tugend zu schirmen, als ein sogar fester Panzer umgibt es den Busen, doch lose und weit abstehend, so daß es gleichsam noch als Tasche dient.
Mit der Vigilie werden die Pilgerzüge häufiger; man hört bald nichts mehr als den melancholischen Gesang der Prozessionen, welche eine nach der anderen in der Stadt anlangen, die engen Straßen durchschreiten und nach der Kirche ziehen. Hier am Wanderziel angelangt, scheinen die Menschen aller Müdigkeit zu vergessen; ihre Gesichtszüge beleben sich von Inbrunst und Begeisterung. Sie werfen sich vor der Kirche auf die Knie, die Hände auf dem Pilgerstab gefaltet, ihre Bündel noch auf dem Kopf, und mit lauter Stimme singen sie die Litanei; dann erheben sie das gellende Geschrei: «Grazie, Maria!» Sie rutschen auf den Knien die Stufen der Treppe empor; hie und da sieht man Weiber jede Stufe küssen oder mit der Zunge belecken - ein ekelerregender Anblick, der dadurch nicht gemildert wird, daß man sich erinnert, wie auch Karl der Große in so bigotter Weise die Stufen des Sankt Peter hinaufrutschte.
Schreckenerregende Szenen fehlen nicht, ich sah einen Menschen wie einen Hund auf den vieren schleppen; an einem Tuche wurde er so in die Kirche geführt, während er wie ein Werwolf heulte. Man sagte mir in der Tat, daß er diese Krankheit des Werwolfes habe, was man in Latium «Lupomanaro» nennt. Ich hörte ein Weib stundenlang vor dem Gitter der Marienkapelle heulen, man sagte mir, daß es besessen sei.
Fortdauernd rutschen Pilgerzüge durch das Seitenschiff der Kirche vor jenes Eisengitter, singend, betend und mit Ekstase um Gnade schreiend. Dieser Schrei «Grazie, Maria!» gellte mit schrecklicher Kraft, und die fieberhafte, ja rasende Inbrunst, mit welcher er ausgestoßen wird, machte mich tief erschaudern.
Die Lichter brennen; es ist Nacht geworden; die Pfeiler der Kirche werfen tiefe Schatten über den Boden und auf die Menschengruppen, während andere Gestalten in magischem Helldunkel sich herausheben, andere den vollen Lichtreflex empfangen. Schöne Szenen sieht man nun. Denn rings an den Säulen, um die Altäre, auf dem Marmorgetäfel des Bodens, vor den Kapellen sitzen die müden Pilger in Gruppen beisammen, und ihre Kostüme, der Wechsel der Lebensalter, der psychologische Ausdruck ihrer Gesichtszüge geben ein lebendiges Gemälde, welches zum Anschauen wie zum Nachforschen reizt.
An kleinen Tischen sitzen zu gleicher Zeit die Augustinermönche, Ablaßzettel oder Messen verkaufend, und sie scharren mit stumpfer Ruhe das Geld der Armen ein. (S.183-186) [...]
Der Ort konnte die Pilger nicht fassen. Als es tiefere Nacht wurde, sah man diese hartgewöhnten Menschen auf dem rauhen Straßenpflaster allerwegen in Scharen sich niederlegen. In allen Straßen, um die Brunnen, auf den Plätzen lagen sie, eine Nachtrast haltende Völkerwanderung im kleinen. Aber es ist ein altes Gesetz des Himmels, daß es regnet, wenn eine festtägige Menschheit beisammen ist, denn es gibt keinen größern Spötter, als dieser Himmel ist, wenn er auf das seltsame Treiben der Menschenkinder heruntersieht. Und kaum lagen die Pilger - ein Knäuel von Hunderten -, als Regen fiel. Jetzt Flucht, Verwirrung und Wehklagen, und das Zusammendrängen der Bedauernswürdigen unter irgendeinem vorspringenden Dach oder der Halle eines Hauses. Und wie viele, ermüdet von der Wanderung, mochten, sei es aus Armut, sei es um des Gelübdes willen, ohne Nahrung geblieben sein!
Am Morgen des Festtags Gottesdienst und Meßkram. Man verkauft goldenen Schmuck, Heiligenbilder und Rosenkränze am Eingang der Wallfahrtskirche, Fläschchen in Fingerhutgröße, welche Öl aus den Lampen enthalten, die vor dem Madonnenbilde brennen. Das Volk kauft sie begierig für einen Bajocco das Stück, als unfehlbares Heilmittel für alle Krankheiten.
Nachmittags Konzert einer Musikbande, die niemals fehlende Tombola oder Lotteria, und am Abend Feuerwerk. Dann tanzen wohl auch die Pilger fröhlich unter den Eichen des Parks; doch die meisten ziehen schon wieder heim, sobald sie ihre Gebete verrichtet und ihre Gaben dargebracht haben; und man sieht nun dieselben Menschen in geordneten Zügen, mit Gesang hinauswandern, geschmückt mit den Sträußen von gemachten Rosen oder Nelken, welche im Süden bei solchen Festen verkauft werden. Auf dem Punkt der Straße, wo man Genazzano zum letztenmal erblickt, knien sie nieder, und die Hände an den Pilgerstäben faltend, verrichten sie das stille Abschiedsgebet - eine Szene unter freiem Himmel, die mir von allen die schönste erschien; ich sah gern den Frauengestalten zu, wenn sie mit graziöser Bewegung niederknieten, die Augen nach dem Heiligtum gerichtet, von dem sie getröstet Abschied nahmen. (S.186)
Kaum aber hatte sich in tiefster Nacht dieser chaotische Wirrwarr gelegt, als draußen feierliche und sonderbar tönende Gesänge erschallten. Es waren Pilgerzüge, die vorüberkamen, Menschen, welche in der Nachtkühle nach irgendeinem entfernten Wallfahrtsort wanderten. Ihre Litaneien hallten trauervoll durch die Stille und brachten eine mächtige Wirkung hervor; denn nichts ist reizender, als solchem Gesang in dem nächtlichen Schweigen zuzuhören, da die Phantasie den Ziehenden folgt, welche das Auge nicht sieht, und von denen man nicht weiß, von wannen sie kamen und wohin sie mitten in der Nacht ihre Reise richten. War nun ein Zug vorüber, so schallte schon das «Ora pro nobis» eines andern aus der Ferne hervor und verschwebte, dem Haus vorüberkommend, dann wie jener in die Weite. Und so wiederholte sich dies die ganze Nacht hindurch. (S.201)
Anagni
Erst mit dem Ende des 13. Jahrhunderts wurde Anagni eine wichtige Stadt, als es das seltene Glück hatte, in einem Jahrhundert vier seiner Mitbürger auf den päpstlichen Thron zu erheben. Der erste war Innocenz III. Conti (1198-1216), dann folgte Gregor IX. Conti (1227-1241), Alexander IV. Conti (1254-1261) und endlich Bonifacius VIII. Gaetani (1294-1303). Aber schon früher war die Stadt von Päpsten bevorzugt, weil in der Zeit, als die Römer eine republikanische Regierung einsetzten, mehrere Päpste sich in die Mauern Anagnis zurückzogen. Dort starb Hadrian IV. Breakspeare im Jahre 1159, der einzige Engländer, welcher die Papstkrone getragen hat, flüchtig vor dem römischen Senat, dessen Forderungen, die Republik zu bestätigen, er sich entzogen hatte; dorthin floh Alexander III., sein berühmter Nachfolger, nicht minder dessen Nachfolger Lucius III. (1181-1185).
Der Vorzug, vier Päpste aus seinem Schoß hervorgehen zu sehen, mußte der Stadt vielfach zum Gewinn gereichen. Sie schmückte sich mit Gebäuden und Palästen; der Charakter ihrer Architektur war der gotisch-romanische, den man in vielen Orten Italiens bis ins 15. Jahrhundert hinein anwandte. Selbst in Genazzano fanden wir dergleichen alte gotische Gebäude. Ihrer aber sind in Anagni wenige außer dem Dom, und die merkwürdigsten das Stadthaus und die Casa Gigli. (S.192)
[...] Sie klagten bitter über jene vier Päpste, ihre Landsleute, weil sie im ganzen so wenig für ihre Vaterstadt getan und sie nicht einmal mit einer Wasserleitung versorgt hatten. Dies ist freilich ein Unglück, denn die Anagninen trinken Zisternenwasser, welches mir faul und ungenießbar erschien; indes ist ein Aquädukt nur mit großen Kosten herzustellen, da er von Monte Acuto über einen tiefen Taleinschnitt müßte hergeleitet werden. «Wohl», sagten jene Bürger, «die Wasserleitung würde große Summen gekostet haben, aber bedenkt, es waren ihrer vier Päpste, und qualche cosa per uomo hätten sie hergeben und so endlich das Werk ausführen können.» (S.193)
[...] Wenig Denkmäler von jenen anagninischen Päpsten sind sonst im Dom übriggeblieben. Dazu gehören vor allen die Gewänder Innocenz' III. und Bonifacius' VIII., welche in einem Schranke der Sakristei gezeigt werden. Das Meßgewand des berühmten Innocenz ist aus blauem Stoff, reich und schwer in Gold rikamiert und mit eingewirkten Bildern neutestamentlicher Gegenstände von so auffallender Schönheit bedeckt, daß sie eher nach Gemälden Giottos oder des späteren Fiesole gemacht zu sein als einer so frühen Zeit anzugehören scheinen. Weit roher ist der schwerfällige Mantel Bonifacius' VIII., der nur Stickereien von Adlern und Löwen enthält. (S.194)
[...] Ehe wir den Dom verlassen, um zu dem Palast Bonifacius' VIII. zu gehen, erinnern wir uns an manche Szene, welche von hier aus folgenschwer in die Geschichte Deutschlands eingegriffen hat. Denn die Kathedrale Anagnis steht zu dem Hohenstaufengeschlecht in bedeutender Beziehung. Dort vor jenem Altar verfluchte einst Alexander III. am Gründonnerstage des Jahres 1160 den großen Kaiser Barbarossa, dort las Innocenz III. die Bulle, welche Friedrich II. exkommunizierte, und auf derselben Stelle bannte endlich Alexander IV. den jungen Helden Manfred. Wilde und barbarische Szenen des Mittelalters; sie sind nun lange vorüber, wie die Herrlichkeit unseres großen Reichs und wie die Gewalt des Papsttums selbst.
Der letzte der Päpste aus Anagni war Bonifacius VIII. vom Haus der Gaetani. Wer kennt nicht seine Gefangennahme in seinem Palast, endlich seine Befreiung und sein unmittelbar darauf folgendes tragisches Ende? (S.195)
[...] Seine eigenen Landsleute, Kardinäle, Mitglieder der Kurie, hatten Bonifacius verraten. Als bald nachher Benedikt XI., sein Nachfolger, die Bulle gegen dessen Verfolger erließ, rief er darin aus: «Das eigene Vaterland schützte ihn nicht, sein Palast bot ihm kein Asyl dar; das höchste Priestertum ward geschändet; die Kirche mit ihrem Bräutigam in Ketten gelegt. Welch ein Ort kann ferner noch Sicherheit bieten? Was kann noch fürder ein heiliges Asyl sein, wenn der römische Papst selbst verletzt ward? O gottloses Verbrechen, o unerhörter Frevel! Wehe über dich, Anagni, die du solches in deinen Mauern geschehen ließest! Nicht Tau noch Regen falle auf dich, auf andere Berge mögen sie fallen und dir vorübergehen, weil, da du es sahest und hindern konntest, der Tapfere gefallen und der mit Stärke Gegürtete überwältigt worden ist.»
Der Fluch Benedikts XI. ruht heute nicht mehr auf diesem Anagni; aber noch im Jahre 1616 gestanden die abergläubigen Einwohner, daß sie unter dessen Wirkungen zu leiden glaubten. Als damals der bekannte Reisende Leandro von Bologna die Stadt besuchte, fand er sie als Schutthaufen und auch den Palast Gaetani in Ruinen, die schrecklichen Campagnakriege unter Alba hatten sie verheert, und die verarmten Anagninen klagten dem Bolognesen, daß seit jenem an dem hochsinnigen Bonifacius verübten Verrat ihre Stadt fortdauernd von Unglück heimgesucht worden sei. (S.196)
Aus den Bergen der Herniker (1858)
Betteln aus dem Gefängnis heraus
Ich erinnere mich nicht, in Alatri von Bettlern angesprochen worden zu sein, wie man sie überall in der Sabina und im Albanergebirge scharenweise nach sich zieht. Doch dort betteln aus ihrem Kerker heraus Gefangene - ein wunderlicher Anblick, den man übrigens in fast allen römischen Orten haben kann.[1] Während unsere strengen Systeme des Gefängniswesens darauf hinzielen, den Schuldigen soviel als möglich von der Welt abzusondern, ja ihn wie einen verpesteten Gegenstand in die Zelle einzumauern, gönnt ihm hier die Toleranz des Südens wieder einen zu großen Spielraum. Ich hörte oft Gefangene in römischen Städten die heitersten Lieder hinter ihren Gittern singen, in Ritornellen denen auf der Straße antworten, oder ich sah sie mit der Gebärdensprache zum Fenster hinaus Geschichten erzählen, die der Fremde freilich nicht versteht. Nun aber ist ihnen selbst das Betteln noch im Kerker gestattet. Diese Verbrecher, oft nur um geringe Vergehen bestrafte Nichtstuer, strecken ein langes Rohr aus dem Gitter heraus, an welchem mittels eines Fadens ein leinenes Beutelchen befestigt ist. Zwei, drei, vier solcher Rohrstangen sieht man zu gleicher Zeit in Bewegung, und die sie herausstrecken, gleichen den Anglern, welche mit der größten Seelenruhe ihr Rohr in den Händen halten, um es heraufzuziehen, wenn der Fisch angebissen hat. So baumeln dort die leeren Beutelchen in der Luft hin und her; geht nun jemand an dem Gefängnis vorüber, so senkt sich Angelrohr und Beutel ihm vor der Nase nieder, und der Gefangene bittet um der Madonna willen, ihm ein Geldstück hineinzulegen. Er ist nicht minder vergnügt, wenn man ihm eine Zigarre hineinsteckt, die er dann mit Wohlbehagen hinter den Eisenstäben rauchen wird; hat er aber ein paar Bajocci erhascht, so läßt er sich Wein holen, oder was ihm sonst wünschenswert erscheint. Ich konnte diese klassische Art zu betteln niemals ohne Heiterkeit betrachten und mußte mich stets der Sage erinnern, welche von Belisar erzählt, daß er aus dem Fenster seines Turms die Vorübergehenden angebettelt habe - wenigstens zeigt diese Fabel, daß jene Toleranz sehr alt ist, und vielleicht streckten die Gefangenen aus den Kerkern schon in alten Römerzeiten solche Rohrangeln hervor. (S.204-205)
(Text nach Gutenberg.de F. Gregorovius: Wanderjahre in Italien, wo sich dreiunddreißig Aufsätze derselben Sammlung finden.)
Fußnoten
- ↑ In der Tat finden sich auch von anderen Italienreisenden der Zeit Hinweise auf das Betteln aus dem Gefängnis und insbesondere die hier beschriebene "Angeltechnik". (So Jahrzehnte zuvor schon bei Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien).
Weblinks
Siehe auch
- Italienreisen seit dem 17. Jahrhundert