Wanderjahre in Italien/Volkstheater in Italien
Ferdinand Gregorovius schildert in Wanderjahre in Italien recht farbig Aufführungen des Volkstheaters in Rom im 19. Jahrhundert.
Gebäude
Vor dem Theatergebäude, welches sich von den andern Häusern nur durch einen großen Theaterzettel unterscheidet, sitzen Verkäuferinnen von Pfefferkuchen und Kürbiskernen, welche in Haufen aufgeschichtet auf den Tischen liegen. Das Volk strömt nach der Kasse. Es ist der Mittelstand, der Handwerker und der Kleinbürger, die vermögend sind, 3 oder 5 Bajocci für einen Theaterabend auszugeben.
Das Haus hat ganz dieselbe räumliche Einrichtung wie jenes der Puppenkomödie, nur in etwas größerem Maßstabe. Auch hier ruft das Gebaren der Zuschauer im Parterre, welche die krächzende Musik mit Fußstampfen und Pfeifen zu begleiten pflegen oder mit den Händen auf den Banklehnen den Takt schlagen, bisweilen die Montanara ins Gedächtnis. Indes hier ist die Frauenwelt zahlreich vertreten, und nach löblicher italienischer Sitte überschreitet die Heiterkeit niemals die Grenzen des Schicklichen. Man kann Frauen auf den Bänken sitzen und geruhig ihre Kinder säugen sehen, während sie mit aller Lebendigkeit der Handlung auf der Bühne folgen. [...]
Don Juan als Ravanello
Eines Abends kündigte der Theaterzettel ein besonders vielversprechendes Stück an, dessen Name ist: «Ravanello spaventato da un morto parlante.» (Der durch einen redenden Toten erschreckte Ravanello.) Das mußte also eine außerordentliche Begebenheit sein und eine ergötzliche Vorstellung werden. Es war die Geschichte des Don Juan im volkstümlich romanischen Gewande. Wie im Spanischen, und wie auch sein eigentlicher Name lautet, heißt er hier Don Tenorio, der Leporello aber heißt Ravanello. Donna Anna, Den Octavio und der Kommendatore sind Figuren wie bei uns. In dieser volkstümlichen Fassung ist Don Juan keineswegs ein Faust der Sinnenlust, sondern schlechthin ein gottloser und frivoler Lebemann. Sein Charakter wird nur in einer Handlung entwickelt. Er tötet den alten Komtur aus Rache, nachdem er dessen Zimmer nachts erstiegen hat. Als er sich später auf dem Kirchhof findet, folgt dieselbe Szene der Einladung der zu Roß sitzenden Statue, wie sie in unserer Oper vorgestellt wird, nur fehlen die herkömmlichen Witze des Leporello.
Der Kommendatore erscheint zum Bankett. Er ist vorgestellt als weißer Mehlteufel in höchst grauenvoller Gestalt. Der erschreckte Don Juan ladet das Gespenst ein, Platz zu nehmen und sich zu bedienen. «Ich esse keine Speise», sagt der Geist. «Willst du Musik hören? « fragt Den Tenorio. «Ja», sagt der Geist. Nun spielt die Musik einige Minuten lang, während Don Tenorio und das Gespenst sich sprachlos gegenüberstehen. Diese Szene ist von einer tiefen Wirkung und, wie man erkennen wird, höchst sinnreich, da die Musik gleichsam als himmlische Macht, als die übersinnliche Stimme Gottes und die Posaune des Gerichts Don Tenorio in die Seele dringen soll. Sobald sie schweigt, ladet der Komtur Don Tenorio seinerseits zu sich, das heißt in das Totengewölbe zum Bankett, und da jener als echter Caballero diese Einladung nicht ausschlagen darf, sagt er zu, sein Gast zu sein.
Er geht also in die Totengruft, worin er sich allein befindet. Unter Särgen und Monumenten steht ein schwarzbedeckter Tisch, auf welchem man Teller und Flaschen sieht; das Gedeck ist mit Totenschädeln dekoriert. Plötzlich kündigen, wie in der ersten Geisterszene, laute Stöße unter dem Boden das Erscheinen des Gastgebers an, und die weiße Gestalt tritt, feierlich schreitend, auf. «Iß!» sagt der Geist. Der schaudernde Don Tenorio wendet sich hinweg. «Ich mag nicht essen», ruft er mit bebender Stimme. «Willst du Musik?» - «Ja!» sagt Don Tenorio. Wieder eine wirksame Pause, da nur die Musik spielt. Die Musikanten, vier Hornbläser und ein Bassist, taten ihr möglichstes, um etwas ganz Infernalisches von Tönen zusammenzubringen, und so erkannte man deutlich die Wirkung der Szene auf die Gemüter der Zuhörer.
Sobald die Musik schwieg, begann der Geist seine Stimme zu erheben und nach Art eines Kapuzinermönchs eine eindringliche Ermahnungsrede an Don Tenorio zu richten, indem er ihn aufforderte, in sich zu gehen, das Heil seiner Seele zu bedenken und sich zu Gott zu wenden. Der aber verweigert die Bekehrung in kavaliermäßigem Trotz. Nun folgt der Handschlag, das Ergreifen und Festhalten der Hand Don Tenorios, und es öffnet sich Augenblicks eine Falltür, aus welcher schreckliche Flammen von Kolophonium hervorbrechen. Nicht so bald ersieht Don Tenorio diese Falltür, als er auf sie zuschreitet und mit der Tapferkeit des römischen Curtius sich mitten in das Kolophonium[1]hineinstürzt.
In der letzten Szene sieht man die Hölle selbst mit bengalischen Flammen, oder den entsetzlichen weit aufgesperrten Höllenrachen. Jetzt stürzt Don Tenorio herein; halbnackt, an den Armen gefesselt und mit gesträubtem Haar, wälzt er sich am Boden, während ihn einige Kobolde von der höllischen Inquisition zwicken. In solcher Pein ruft der Verdammte: «Schon tausend Jahre schmachte ich hier, ist keine Rettung?» Hinter der Szene brüllen die Dämonen: «Keine! Keine!» Der Vorhang fällt. Dies ist Don Juan in seiner volkstümlichen Behandlung; aller Nachdruck geht auf die moralische Wirkung, das Possenhafte verschwindet fast gänzlich, und der Ravanello ist eine ganz unbedeutende Figur geworden; denn die Färbung von Humor, welche das Stück anfangs zeigt, verliert sich schon in seiner Hälfte.
Francesca da Rimini als Parodie
Wir sehen, daß dieses Teatro Emiliani ziemlich interessante Dinge von tragischem Kaliber vorzuführen imstande ist, und so wollen wir es uns nicht nehmen lassen, die erschütterndste Tragödie der italienischen Poesie auf ihm spielen zu sehen, nämlich «Francesca da Rimini».
Die weltberühmte Episode des Danteschen Gedichts hat sowohl Maler als auch Dichter zur Behandlung gereizt und dramatische Versuche veranlaßt, die sich alle als undramatisch erwiesen haben. Selbst Byron sagt in seinen Tagebüchern, daß er den Gedanken faßte, eine Tragödie «Francesca da Rimini» zu schreiben. Es ist zu bedauern, daß er es nicht getan hat; wenn er auch kein Bühnenstück geliefert hätte, so war er doch der Poet dazu, große Leidenschaften groß aufzufassen. Die Einfachheit der Handlung erschwert den dramatischen Fortschritt, sie fordert einen empfindenden Dichter, welcher die Sprache des Herzens versteht. Silvio Pellico ist der einzige, der ihr nahegekommen ist. Seine «Francesca da Rimini» hat eine gute innerliche Entscheidung bei sehr edel gefaßten Charakteren, wenn auch die dramatische Wirkung nicht groß ist. Das Stück ist in Italien klassisch und wird auf kleinen wie auf großen Bühnen gespielt. Hier in Rom spielten es in diesen Tagen zwei Theater nebeneinander, das Teatro della Valle als ernstes Trauerspiel, das Teatro Emiliani als Posse.
Sehen wir es also auf der Navona. Die Schauspieler tragieren es hier im römischen Dialekt, das ist in der platten Mundart von Trastevere. Es wird travestiert oder trasteveriert. Es ist, als gäbe man «Iphigenia» plattdeutsch oder den «Faust» in der niederländischen Übersetzung des Vleeschhauer. Bei uns wäre eine solche Karikatur des Tragischen unmöglich. Wo würde sich wohl eine noch so kleine Bühne finden, welche es wagen sollte, «Maria Stuart» als lachenerregende Travestie vor dem Volk zu spielen? Man travestiert bei uns die Tragödien nur durch schlechtes Spiel, nicht aber aus Absicht zu ergötzen.
Auf der Navona traf alles zusammen, um die größtmögliche Lächerlichkeit zu erregen, der platte Dialekt und das schon von Natur entsetzliche Spiel der Schauspieler, namentlich der Francesca selbst. Indem sie die tragischen Rollen, welche der Dialekt lächerlich macht, ernst spielten und von dem Kothurn immer wieder auf die Socken fielen, glichen sie jenen Schauspielern von Pyramus und Thisbe. Der alte Guido von Ravenna hatte sich einen Buckel gemacht und spielte in samtenen Hosen und in Hemdärmeln als Kobold. Die unglückliche Francesca glich einer von Gesundheit strotzenden Milchmagd, und Lanciotto und Paolo hatten Figur und Art von zwei ledernen Raufbolden, welche schimpfend und schreiend die Plempen ziehen. Sie spielten jedoch mit vollem Ernst und in unveränderter Handlung des Stücks, nur war jede erhabene Sentenz ins Trasteverinische nicht allein dem Wortlaut, sondern auch dem Gedankenausdruck nach herabgestimmt. Dieselbe Tragödie war stehengeblieben, aber sie war nach dem Rechte des Karnevals in eine Hanswurstjacke gesteckt, und die Muse der Tragödie hatte sich gleichsam das Gesicht beschmiert und sich mit Kohle einen Schnurrbart angemalt.
Der Fremde, welcher in die Unterschiede des reinen Italienisch und des Trasteverinisch nicht eingeweiht ist, lacht nur über die Verhunzung des Tragischen selbst, der Römer aber lacht über den Dialekt. Es ist ein ganz lokalrömisches Vergnügen. Als einmal der alte Herr von Ravenna zur Francesca sagte: «State mosca!», brach das Publikum in ein schallendes Gelächter aus. Ich fragte einen neben mir sitzenden jungen Menschen, der sich in Lachkrämpfen wand: «Warum lacht ihr denn eigentlich?» - «Mosca», sagte er, «o mein Gott! So sagen sie ja in Trastevere statt zitto (stille).» Statt «niente» (nichts) sagt der Dialekt «nientaccio», wie überhaupt das accio und uccio ein vorherrschendes Anhängsel in Trastevere ist, und jedesmal erregte das ein schallendes Gelächter. Der Dialekt liebt, wie jede platte Mundart Italiens, das ne anzuhängen und die Verbalendungen are und ire zu verschlucken, er sagt deshalb andane und partine statt andare und partire. Ebenso verwandelt er das l gern in r und sagt also statt del teatro: der teatro. Indes verstellte man auch die Ausdrucksweise ins Platte; Lanciotto sagte einmal zu Paul: «Warte, ich will dich zerhacken wie eine Wurst.» Bei Silvio Pellico schließt das Stück: «Es ist genug Blut, daß die Sonne, wenn sie wiederkehrt, schaudert»; im Dialekt hieß es: «daß die Sonne, wenn sie wiederkehrt, das Zipperlein kriegt». Die Stelle im Dante, wo Francesca und Paul die Liebesgeschichte von Lancelot und Ginevra lesen, wurde so travestiert, daß gesagt wurde: «Wir lasen eines Tags die schöne Geschichte von Chiarina und Tamante.» Dies ist nämlich eine Liebesgeschichte aus Korsika, welche als fliegendes Blatt durch ganz Italien verbreitet ist und hier überall verkauft wird, wie bei uns die neuen Lieder.
«Was würden wohl Dante und Silvio Pellico dazu sagen, wenn sie diese Tragödie auf den Brettern in solcher Form sähen?», so fragte ich einen meiner Nachbarn. Der Mann sah mich verwundert an, und nachdem er begriffen zu haben schien, was ich meinte, sagte er: «Eh! Si vuol ridere.» Ich habe nun in Wahrheit kaum etwas Lachenswürdigeres gesehen als jene Szene, in welcher Lanciotto den Bruder und sein Weib ersticht, und wie diese beiden Liebenden nun niederfallen, Paul zur Francesca, welche hier Checca heißt, sagt: «Checca, verzeihe mir - ach, sie ist kaput! - nun bin ich auch kaput», und wie der Signor von Ravenna, buckelig, in samtmanchesternen Hosen und in Hemdärmeln an den Leichen steht und zu Lanciotto sagt: «Genug Blut, daß die Sonne, wenn sie wiederkehrt, davon das Zipperlein kriegt.» Der Vorhang fällt. Man kann im Theater Emiliani auch Medea im dialetto romanesco vorstellen sehen, oder sich an der «Didone abbandonata» ergötzen, worin Äneas als der mythische Ahnherr der Römer dem Volk mit heroischen Erinnerungen schmeichelt. Doch sei dessen genug.
Ferdinand Gregorovius: Wanderjahre in Italien, S. 181ff
Fußnoten
- ↑ Hier ist damit ein künstliches Bühnenfeuer gemeint.