Reise-Lyrik: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 19. August 2020, 19:01 Uhr
Dies ist ein Versuch, das weite Feld Reise-Lyrik thematisch und/oder motivisch zu ordnen.
Vorschläge für weitere Kategorien können gerne in die "Diskussion" (siehe oben rechts) eingebracht werden. Ebenso Hinweise auf andere Gedichte und nützliches Material im Internet.
Die Zitate geben die ersten Zeilen wieder, sie sollen einen Eindruck von Ton und Thematik vermitteln - und auch zu deren Auffindbarkeit (in Buch, Netz oder Gedächtnis) beitragen.
Gedichte von Aufbruch, Unterwegssein und Ankunft
Aufbruchstimmungen
Ludwig Tieck (1773 - 1853) : Wohlauf! es ruft der Sonnenschein (aus: Franz Sternbalds Wanderungen, 2. Buch 5. Kapitel)
- Wohlauf! es ruft der Sonnenschein
- Hinaus in Gottes freie Welt!
- Geht munter in das Land hinein
- und wandelt über Berg und Feld!
J.v.Eichendorff (1788 - 1857): Sehnsucht
- Es schienen so golden die Sterne
- am Fenster ich einsam stand
- Und hörte aus weiter Ferne
- Ein Posthorn im stillen Land.
- siehe auch: Die zwei Gesellen / Frische Fahrt / Der frohe Wandersmann (aus dem "Taugenichts")
Wilhelm Müller (1794 - 1824): Das Wandern (Aus "Die schöne Müllerin")
- Das Wandern ist des Müllers Lust,
- Das Wandern!
- Das muß ein schlechter Müller sein,
- Dem niemals fiel das Wandern ein,
- Das Wandern.
Ludwig Uhland (1787 - 1862): Abreise (aus "Wanderlieder" 1811)
- So hab ich nun die Stadt verlassen,
- Wo ich gelebet lange Zeit;
- Ich ziehe rüstig meiner Straßen,
- Es gibt mir niemand das Geleit.
Unterwegs
Wilhelm Müller(1794 - 1824): Aus der "Winterreise": Gute Nacht
- Fremd bin ich eingezogen,
- Fremd zieh ich wieder aus ...
- siehe auch: Der Lindenbaum / Der Leiermann
Eduard Mörike (1804 - 1875): Auf der Reise
- Zwischen süßem Schmerz,
- Zwischen dumpfem Wohlbehagen
- Sitz ich nächtlich in dem Reisewagen,
- Lasse mich so weit von dir, mein Herz,
- Weit und immer weiter tragen.
Heinrich Heine (1797 - 1856): Lebensgruß („Buch der Lieder" Nr. XIX)
- Eine große Landstraß ist unsere Erd,
- Wir Menschen sind Passagiere;
- Man rennet und man jaget, zu Fuß und zu Pferd,
- Wie Läufer oder Kuriere.
B. Brecht (1898 - 1956): Radwechsel
- Ich sitze am Straßenhang,
- Der Fahrer wechselt das Rad ....
Ankunft - Heimkehr
J.W.Goethe (1749 - 1832): Glückliche Fahrt
- Die Nebel zerreißen,
- Der Himmel ist helle,
- und Äolus löset
- das ängstliche Band.
Friedrich Hölderlin (1770 - 1843): Die Heimat
- Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom,
- Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat;
- So käm auch ich zur Heimat, hätt ich
- Güter so viele, wie Leid, geerntet.
Heinrich Heine (1797 - 1856): Deutschland, ein Wintermärchen (Caput I)
- Im traurigen Monat November war's
- Die Tage wurden trüber,
- Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
- Da reist ich nach Deutschland hinüber.
- siehe hierzu H. Heines "Wintermärchen" (K. Dautel)
Theodor Fontane (1819-1898): John Maynard
- „Wer ist John Maynard?"
- "John Maynard war unser Steuermann,
- aushielt er, bis er das Ufer gewann,
- er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
- er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn."
Bertolt Brecht (1898 - 1956): Rückkehr
- Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?
- Folgend den Bomberschwärmen
- Komm ich nach Haus.
Hans Bender (1919 - 2015): Heimkehr
- Im Rock des Feindes,
- in zu großen Schuhen,
- im Herbst,
- auf blattgefleckten Wegen
- gehst du heim.
Hilde Domin (1909-2006): Rückkehr
- Meine Füße wunderten sich
- dass neben ihnen Füße gingen
- die sich wunderten.
Jenny Aloni (1917-1993): Nach der Ankunft in Israel
- Das ist der Wind nicht mehr, der mich umstrichen,
- nicht mehr der Sturm, der mich zu trösten wußte,
- das ist nur noch sein Zerrbild, grau verblichen,
- der Kern nicht mehr, nur noch die hohle Kruste.
Gedichte von Sehnsuchtsorten
Italien - Venedig
J.W.Goethe (1749-1832): Mignon (aus „Wilhelms Meisters Lehrjahre“)
- Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn
- Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
- Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
- Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
- Kennst du es wohl?
Isolde Kurz (1852 - 1944): Italien
- Hingestreckt zwischen beiden Meeren
- Liegst du und träumst in Mittagsruh’,
- Götterliebling!
- Und die Wellen singen ihr altes Lied,
- Das weltenalte
C.F. Meyer (1825-1898): Auf dem Canal grande
- Auf dem Canal grande betten
- Tief sich ein die Abendschatten,
- Hundert dunkle Gondeln gleiten
- Als ein flüsterndes Geheimnis
R.M.Rilke (1875 – 1926): Spätherbst in Venedig
- Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
- der alle aufgetauchten Tage fängt.
- Die gläsernen Paläste klingen spröder
- an deinen Blick. ...
Hermann Hesse (1877 – 1962) Ankunft in Venedig
- Du lautlos dunkler Kanal,
- Verlassene Bucht,
- Uralter Häuser graue Flucht,
- Gotische Fenster und maurisch verziertes Portal!
Rose Ausländer (1901-1988): Mein Venedig
- Venedig
- meine Stadt
- Ich fühle sie
- von Welle zu Welle
- von Brücke zu Brücke
Günter Kunert: Venedig II
Wald
Friedrich Schlegel (1772 - 1832): Im Spessart
- Gegrüßt sei du, viellieber Wald!
- es rührt mit wilder Lust,
- Wenn abends fern das Alphorn schallt,
- Erinnrung mir die Brust.
Mörike: Am Waldsaum
- Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
- Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
- er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
- Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Hermann Hesse: Schwarzwald
- Seltsam schöne Hügelfluchten,
- Dunkle Berge, helle Matten,
- Rote Felsen, braune Schluchten,
- überflort von Tannenschatten!
Andere
Ralf Thenior: Gran Canaria
- Nein ganz herrlich ganz
- wunderbar also jeden Tag
- Sonne und baden natürlich
- auch jeden Tag schon also
- fast jeden Tag ...
- siehe zu Reiselyrik im Unterricht K.H. Spinner: Umgang mit Lyrik in S1, Schneider Verlag 2000 S.137ff
Gedichte von Fremde und Heimat
In der Fremde
Clemens Brentano (1778-1842): In der Fremde
- Weit bin ich einhergezogen
- Ueber Berg und über Thal
- Und der treue Himmelsbogen
- Er umgiebt mich überall.
Wilhelm Müller(1794 - 1824): Aus der "Winterreise": Gute Nacht
- Fremd bin ich eingezogen,
:Fremd zieh ich wieder aus ... Hilde Domin (1909 - 2006): Fremder
- Ich falle durch jedes Netz,
- wie ein Toter
- falle ich durch die Netze hindurch.
- Samenkorn ohne Erde
- schwerelos
- treibt mich der Wind
- aus allen Netzen empor.
Mascha Kaleko: Sehnsucht nach einer kleinen Stadt
- Jetzt müßte man in einer Kleinstadt sein
- Mit einem alten Marktplatz in der Mitte,
- Wo selbst das Echo nächtlich leiser Schrite
- Weithin streut jeder hohle Pflasterstein
Yüksel Pazarkaya (*1940:) gastarbeiter
- wahrlich gastfreundlich
- sind diese deutschen
- sie tauften uns
- gastarbeiter
Im Exil
Heinrich Heine: Nachtgedanken
- Denk ich an Deutschland in der Nacht,
- Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
- Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
- Und meine heißen Tränen fließen.
Bertolt Brecht: Finnische Landschaft (1940)
- Fischreiche Wässer! Schönbaumige Wälder!
- Birken- und Beerenduft!
- Vieltoniger Wind, durchschaukelnd eine Luft
- So mild, als stünden jene eisernen Milchbehälter
- Die dort vom weißen Gute rollen, offen!
Rose Ausländer (1901 - 1988): In jenen Jahren
- In jenen Jahren
- war die Zeit gefroren:
- Eis so weit die Seele reichte
- Von den Dächern
- hingen Dolche
- Die Stadt war aus
- gefrorenem Glas
- Menschen schleppten
- Säcke voll Schnee
- zu frostigen Scheiterhaufen
Mascha Kaleko (1907 - 1975): Im Exil
- Ich hatte einst ein schönes Vaterland -
- So sang schon der Flüchtling Heine.
- Das eine stand am Rheine,
- Das meine auf märkischem Sand.
Sinn-Fragen
Matthias Claudius "Urians Reise um die Welt" 1787
- Wenn jemand eine Reise tut,
- So kann er was verzählen;
- Drum nahm ich meinen Stock und Hut
- Und tät das Reisen wählen.
- [...]
- Und fand es überall wie hier,
- Fand überall ’n Sparren,
- Die Menschen gradeso wie wir,
- Und eben solche Narren.
Gottfried Benn (1886 - 1956): Reisen
- Meinen Sie Zürich zum Beispiel
- sei eine tiefere Stadt,
- wo man Wunder und Weihen
- immer zum Inhalt hat?
Zu Fuß, im Zug, im Auto, im Kopf
zu Fuß
Wilhelm Müller: Das Wandern (siehe oben)
im Zug und im Auto
A.v. Chamisso (1771 - 1831): Das Dampfroß.
- Schnell! schnell, mein Schmied! mit des Rosses Beschlag!
- Derweil du zauderst, verstreicht der Tag. –
- Wie dampfet dein ungeheures Pferd!
- Wo eilst du so hin, mein Ritter wert? –
Gottfried Benn (1886 - 1956): D-Zug
- Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun.
- Malaiengelb.
- D-Zug Berlin-Trelleborg und die Ostseebäder.
- Fleisch, das nackt ging.
- Bis in den Mund gebräunt vom Meer.
Erich Kästner: Im Auto über Land
- An besonders schönen Tage
- ist der Himmel sozusagen
- wie aus blauem Porzellan.
Nicolas Born (*1937): Im Zug Athen Patras
- Kahle Felsschädel, helle Augen,
- hell der Mund.
- Alter Wortboden, wilder Rhodoendron
- auf der Höhe
- fruchtbar fruchtbar das Meer
- - Licht
Wolf Wondratschek (*1934): In den Autos
- Wir waren ruhig,
- hockten in den alten Autos,
- drehten am Radio
- und suchten die Straße
- nach Süden.
Bodo Morshäuser (*1953): Irritierter Abgang
- Die Reise ist zu Ende, die Fotos noch nicht fertig,
- ich mache die Augen zu. Mittelstreifen fliegen entgegen.
- Die ungewohnten Eindrücke umzingeln uns.
- Hinweis: Diese drei und noch mehr zeitgenössische Gedichte vom Reisen sind enthalten in der Anthologie: In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart, hrsg. von Hans Bender, München 1978 S. 179 - 214
Reinhard Mey: Über den Wolken
- Über den Wolken
- muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Zeitreisen - Kopfreisen
Friedrich Hölderlin (1770 - 1843): Der Neckar
- In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
- Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
- Und all der holden Hügel, die dich
- Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.
Friedrich Schiller (1759 - 1805): Der Spaziergang
- Sey mir gegrüßt mein Berg mit dem röthlich strahlenden Gipfel,
- Sey mir Sonne gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint,
- Dich auch grüß ich belebte Flur, euch säuselnde Linden,
- Und den fröhlichen Chor, der auf den Ästen sich wiegt,
Karoline von Günderode (1780-1806) Der Luftschiffer
- Gefahren bin ich in schwankendem Kahne
- Auf dem blaulichen Ozeane,
- Der die leuchtenden Sterne umfließt,
- Habe die himmlischen Mächte begrüßt.
Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1924): Reiselied
- Wasser stürzt, uns zu verschlingen,
- Rollt der Fels, uns zu erschlagen,
- Kommen schon auf starken Schwingen
- Vögel her, uns fortzutragen.
Lebensreise
Andreas Gryphius (1616 - 1664): Abend
- Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn
- Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
- Verlassen Feld und Werk; wo Tier' und Vögel waren,
- Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!
- [...]
- Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn. ...
J.v.Eichendorff: Die zwei Gesellen
- Es zogen zwei rüst'ge Gesellen
- Zum ersten Mal von Haus.
- so jubelnd recht in die hellen,
- klingenden, singenden Wellen
- des vollen Frühlings hinaus.
Heinrich Heine: Lebensgruß ("Buch der Lieder" Nr. XIX)
- Eine große Landstraß ist unsere Erd,
- Wir Menschen sind Passagiere;
- Man rennet und man jaget, zu Fuß und zu Pferd,
- Wie Läufer oder Kuriere.
Linktipps
- Reiselyrik - "Formen des Unterwegsseins. Ein literaturgeschichtlicher Gang durch die Reiselyrik von der Goethezeit bis zur Gegenwart". U. Vormbaum stellt hier Gedichte nach diesen Oberbegriffen zusammen:
- Einstieg: Mit Goethe und all den anderen über die Alpen
- Zu Fuß, mit Kutsche und Kahn durch die Landschaft
- Reisen im Eisenbahnzeitalter
- Zwischen innerweltlichem und technomanischem Reisen
- Ausblick auf das Reisen heute
- Schluss: Die Alpen werden geschlossen
- Beispielinterpretationen zu Reise-Gedichten auf den Webseiten von Bob Blume, z.B. zu Gottfried Benn: Reisen, J.W. Goethe: Auf dem See, Clemens Brentano „In der Fremde“ und Günter Kunert „Reiseresümee“ (Gedichtvergleich)