Medienbildungskonzept/Kurzgeschichte

Aus ZUM-Unterrichten

Beispiel für eine "Medienpädagogische Kurzgeschichte"

Sylvie

Maik Riecken, Dezember 2016

Sie standen vor ihrer Tür. Ein Willkommensteam der Stadt. Eine mütterlich wirkende ältere Dame und ein leidlich schneidiger Jungspund, dem die pädagogische Ausbildung aus jeder Faser seiner Kleidung leuchtete. Ob sie denn schon über das Angebot der Volkshochschule informiert sei? Dort würden Mutter-Kind-Kurse zur Stärkung der Bindung zwischen Mutter und Kind angeboten. Die seien immer frühzeitig ausgebucht, da müsse man sich jetzt schon anmelden. Der Stadt sei es ein Anliegen, werdende Eltern bestmöglich zu unterstützen – vor allem Spätgebärende wie sie.

Mit diversen Produktproben von Tees und wohlriechenden, hautstraffenden Ölen stand sie schließlich ratlos in der Tür und schaute den beiden verwirrt nach.

Sie war Anfang 40 und ohne festen Partner. Das war gut so. Sie war frei und unabhängig. Sie hatte – aber nur ganz tief in ihr drin - hin und wieder Sehnsucht nach einem eigenen kleinen Wesen, das sie zum Ziel ihrer Liebe machen konnte, aber Herr Schröder, der kleine Golden Retriever füllte diese Leerstelle eigentlich auch recht trefflich aus. Die Werbung auf dem Bildschirm ihres Tablets zeigte in letzter Zeit vermehrt niedliche Babybilder und unaufhörlich Produkte für den guten Start ins Leben.

Aber das Thema war für sie abgehakt. Sie würde nicht alles aufgeben, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Dafür hatte sie sich beruflich zu viel aufgebaut.

Sie genoss es, sich jederzeit sportlich betätigen zu können oder ihren zahlreichen Hobbys nachzugehen. Bei den Männern kam das gut an – unabhängige Frauen galten in ihrem Bekanntenkreis als sexy. Hin und wieder war einer dabei, aber etwas wirklich Verbindliches konnte sie sich nicht mehr vorstellen.

Ihre Vergangenheit strich in diffusen Erinnerungsschleiern an ihr vorüber.

Er war bequem geworden. Er hatte sich irgendwann einfach nicht mehr angestrengt, ihr nicht mehr das Gefühl gegeben, begehrenswert zu sein. Irgendwann saßen sie als Paar in der Kumpelfalle. Sie lebten mehr als Freunde denn als Partner miteinander. Ja, sie teilten sich den Alltag, den Haushalt so gleichberechtigt wie es nur ging. Nach außen eine richtige Musterbeziehung. Für Sylvie waren sie noch heute ein gutes Team - auch nach dem Aus. Kein Rosenkrieg, klare Vereinbarungen. Pädagogisch zogen sie am gleichen Strang. Ihre gemeinsame Tochter Sylvie brauchte schließlich neben Zuwendung vor allem Konsequenz. Und sowohl Mutter als auch Vater zur eigenen Orientierung.

Sie wusste selbst nicht, warum sie die beiden vor der Tür nicht einfach herzlich ausgelacht hatte. Vor allem diesen Pädagogikschnösel. Sie war einfach viel zu überrumpelt von diesem rundum durchchoreografierten Erstgesprächsansatz.

Sie ging zurück in die Wohnung. Ihr Tablet auf der Kochinsel der großzügigen Küche war noch nicht in den Energiesparmodus gegangen. Wahrscheinlich war Sylvie zwischendurch wieder in irgendwelchen Onlineshops unterwegs gewesen. Wieder diese Werbung für Babyprodukte. Aufdringlich.

Aus Sylvies Bad kamen Geräusche. Sie klangen so, als wenn sich ihre 16jährige Tochter gerade übergeben würde. Als sie nach vorsichtigem Anklopfen die Tür öffnete, stürzte sich ein heulendes Elend in ihre Arme: „Mama, ich habe seit acht Wochen meine Tage nicht mehr bekommen …“