Confessiones (Augustinus): Unterschied zwischen den Versionen
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Die '''Confessiones''' (Bekenntnisse) sind autobiographische Betrachtungen des christlichen Kirchenlehrers | Die '''Confessiones''' (Bekenntnisse) sind autobiographische Betrachtungen des christlichen Kirchenlehrers {{wpde|Augustinus}}. Sie entstanden in den Jahren von 397 bis 401 n. Chr.; Augustinus war damals Bischof von Hippo Regius | ||
=== Sehnsucht nach Liebe === | === Sehnsucht nach Liebe === | ||
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I. | I. | ||
[43] Ich kam nach Karthago, und mich umrauschte überall das Gewirre lasterhafter Liebeshändel. Noch liebte ich nicht und begehrte zu lieben, und in tief verhüllter Bedürftigkeit zürnte ich mir, daß ich mich nicht liebebedürftiger fühlte. Der Liebe hold sucht ich den Gegenstand meiner Liebe, aber ich haßte den Seelenfrieden und den von Fallstricken freien Weg.| | [43] Ich kam nach Karthago, und mich umrauschte überall das Gewirre lasterhafter Liebeshändel. Noch liebte ich nicht und begehrte zu lieben, und in tief verhüllter Bedürftigkeit zürnte ich mir, daß ich mich nicht liebebedürftiger fühlte. Der Liebe hold sucht ich den Gegenstand meiner Liebe, aber ich haßte den Seelenfrieden und den von Fallstricken freien Weg.| | ||
Augustinus: [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Augustinus,+Aurelius/Bekenntnisse/Drittes+Buch Confessiones (Bekenntnisse), 3. Buch], S.41-43}} | |||
=== Theaterleidenschaft oder Mitgefühl? === | === Theaterleidenschaft oder Mitgefühl? === | ||
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{{Zitat|Als er einst in Karthago, noch las mein Zuhörer, eines Mittags im Forum, nach der Weise der Studierenden, auf eine Rede sich vorbereitete, ließest du zu, daß ihn die Diener des Forums ergriffen, als wäre er ein Dieb. Auch das hast du, mein Gott, nur zugelassen, damit er, der später so wichtige Mann, frühzeitig lerne, daß beim Urtheilfällen kein Mensch so leicht von seinem Mitmenschen [130] in unbesonnener Leichtgläubigkeit verdammt werden dürfe. Einsam nämlich gieng er mit Griffel und Schreibtafel vor der Gerichtsbühne auf und nieder, während ein anderer Jüngling aus der Zahl der Studierenden, der wahre Dieb, mit einem verbogenen Beil, ohne daß mein Freund davon etwas wußte, sich an das bleierne Geländer machte, welches über dem Platze der Geldwechsler angebracht war, und das Blei dort abblieb. Die Wechsler, durch den Klang des Beiles aufmerksam gemacht, besprachen sich drunten an ihrem Ort und sandten Häscher aus, die ergreifen sollten, wen sie fänden. Jener aber bloß, da er seine Stimme hörte, und ließ, aus Furcht, damit ergriffen zu werden, das Beil zurück Alypius, welcher ihn nicht hatte eintreten sehen, aber bemerkte, wie er sich schnell davon machte, wollte die Ursache wißen, betrat den Ort und blieb verwundert stehen, während er das gefundene Beil betrachtete. Die Häscher finden nur ihn, mit dem Beil in der Hand, dessen Klang sie herbeigezogen. Sie nehmen ihn fest, führen ihn fort, unter dem Zusammenlauf des Forums, und rühmen sich, den Dieb auf der That ertappt zu haben. Und so wurde er dem Richter zugeführt. Aber nur bis dahin sollte er belehrt werden, denn plötzlich kamst du, Herr, seiner Unschuld zu Hilfe, deren Zeuge du allein warst. Als man ihn hinführte, entweder zum Gefängniß, oder zum Tode, begegnete ihnen ein Baumeister, der die Aussicht über die öffentlichen Gebäude führte. Die Häscher freuten sich, eben ihm zu begegnen, der sie im Verdacht hatte, als pflegten sie das vom Forum abhanden Kommende zu entwenden; sie freuten sich, daß er nun endlich erkennen möchte, wer der Thäter sei. Aber er hatte den Alypius oft im Haufe eines Senators gesehen, dem er aufzuwarten pflegte; sobald er ihn daher erkannte, entriß er ihn eigenhändig der Schaar, erfuhr von ihm, was geschehen war, und befahl dem lärmenden, [131] drohenden Haufen ihm zu folgen. Und sie kamen vor des Jünglings Wohnung, der die That verübt hatte. Dort war ein Knabe vor der Thüre, zu klein noch, als daß er für seinen Herrn – denn er war in des Jünglings Diensten – etwas zu fürchten vermocht hätte, so daß er Alles leicht angeben konnte. Alypius erkannte ihn und vertraute seinen Verdacht dem Baumeister; dieser zeigte dem Knaben das Beil und fragte ihn, wem es gehöre. Sogleich antwortete er: es gehört uns zu, und weiter ausgefragt, eröffnete er Alles. So kam der Proceß über jenes Haus und wurde der Haufen beschämt, der schon über Alypius triumphirt hatte. Er aber, der künftige Verwalter deines Wortes, der Schiedsmann so vieler Angelegenheiten deiner Kirche, gieng erfahrener und belehrter von dannen. | {{Zitat|Als er einst in Karthago, noch las mein Zuhörer, eines Mittags im Forum, nach der Weise der Studierenden, auf eine Rede sich vorbereitete, ließest du zu, daß ihn die Diener des Forums ergriffen, als wäre er ein Dieb. Auch das hast du, mein Gott, nur zugelassen, damit er, der später so wichtige Mann, frühzeitig lerne, daß beim Urtheilfällen kein Mensch so leicht von seinem Mitmenschen [130] in unbesonnener Leichtgläubigkeit verdammt werden dürfe. Einsam nämlich gieng er mit Griffel und Schreibtafel vor der Gerichtsbühne auf und nieder, während ein anderer Jüngling aus der Zahl der Studierenden, der wahre Dieb, mit einem verbogenen Beil, ohne daß mein Freund davon etwas wußte, sich an das bleierne Geländer machte, welches über dem Platze der Geldwechsler angebracht war, und das Blei dort abblieb. Die Wechsler, durch den Klang des Beiles aufmerksam gemacht, besprachen sich drunten an ihrem Ort und sandten Häscher aus, die ergreifen sollten, wen sie fänden. Jener aber bloß, da er seine Stimme hörte, und ließ, aus Furcht, damit ergriffen zu werden, das Beil zurück Alypius, welcher ihn nicht hatte eintreten sehen, aber bemerkte, wie er sich schnell davon machte, wollte die Ursache wißen, betrat den Ort und blieb verwundert stehen, während er das gefundene Beil betrachtete. Die Häscher finden nur ihn, mit dem Beil in der Hand, dessen Klang sie herbeigezogen. Sie nehmen ihn fest, führen ihn fort, unter dem Zusammenlauf des Forums, und rühmen sich, den Dieb auf der That ertappt zu haben. Und so wurde er dem Richter zugeführt. Aber nur bis dahin sollte er belehrt werden, denn plötzlich kamst du, Herr, seiner Unschuld zu Hilfe, deren Zeuge du allein warst. Als man ihn hinführte, entweder zum Gefängniß, oder zum Tode, begegnete ihnen ein Baumeister, der die Aussicht über die öffentlichen Gebäude führte. Die Häscher freuten sich, eben ihm zu begegnen, der sie im Verdacht hatte, als pflegten sie das vom Forum abhanden Kommende zu entwenden; sie freuten sich, daß er nun endlich erkennen möchte, wer der Thäter sei. Aber er hatte den Alypius oft im Haufe eines Senators gesehen, dem er aufzuwarten pflegte; sobald er ihn daher erkannte, entriß er ihn eigenhändig der Schaar, erfuhr von ihm, was geschehen war, und befahl dem lärmenden, [131] drohenden Haufen ihm zu folgen. Und sie kamen vor des Jünglings Wohnung, der die That verübt hatte. Dort war ein Knabe vor der Thüre, zu klein noch, als daß er für seinen Herrn – denn er war in des Jünglings Diensten – etwas zu fürchten vermocht hätte, so daß er Alles leicht angeben konnte. Alypius erkannte ihn und vertraute seinen Verdacht dem Baumeister; dieser zeigte dem Knaben das Beil und fragte ihn, wem es gehöre. Sogleich antwortete er: es gehört uns zu, und weiter ausgefragt, eröffnete er Alles. So kam der Proceß über jenes Haus und wurde der Haufen beschämt, der schon über Alypius triumphirt hatte. Er aber, der künftige Verwalter deines Wortes, der Schiedsmann so vieler Angelegenheiten deiner Kirche, gieng erfahrener und belehrter von dannen. | ||
Ihn also traf ich in Rom. Mit der innigsten Freundschaft hieng er an mir und wanderte mit mir nach Mailand, sowohl um bei mir zu sein, als um die Rechtswissenschaft auszuüben, die er mehr nach dem Willen seiner Eltern, als nach seinem eigenen erlernt hatte. Vorher hatte er dreimal das Amt eines Beisitzers in den Gerichten mit der edelhaften Uneigennützigkeit bekleidet, über die sich seine Kollegen wunderten, während er selbst sich noch viel mehr über sie verwunderte, daß sie das Gold der Unbestechlichkeit vorzogen. Dort wurde seine Jugend nicht nur durch lockenden Gewinn, sie wurde auch durch Anfechtung zur Furcht versucht. In Rom nemlich bekleidete er einst die Stelle eines Beisitzers im Schatzmeisteramte für Italien. Und damals war dort ein sehr angesehener Senator, dem Viele durch empfangene Wohlthaten verpflichtet, aber aus Furcht dienstwillig waren. Der machte einst, nach seiner gewaltthätigen Weise, ein gesetzwidriges Ansinnen, dem Alypius entgegen war,[132] dargebotene Belohnung verlachend und angewandte Drohung verachtend, so daß Jedermann den ungewöhnlichen Muth bewunderte, mit dem er solch einen Mann weder zum Freunde wollte, noch als Feind fürchtete. Der Richter aber, dessen Rath Alypius war, verweigerte das Ansinnen nicht offen, ob er es gleich nicht gewähren wollte, sondern schob alle Schuld auf Alypius, der nicht einwilligen, und wenn der Richter selbst einwillige, gegen ihn stimmen würde. In dieser Stellung wurde er einmal bei einer literarischen Arbeit fast versucht sich um prätorianische Gerichtsgelder zu lassen, aber sein Rechtssinn brachte ihn auf beßeren Entschluß und er hielt die Billigkeit, die ihn abhielt für nutzbringender, als seine Gewalt, die ihm Jenes erlaubte. Das ist eine Kleinigkeit, aber wer im Kleinen treu ist, der ist auch im Großen treu. Und kein leeres Wort sprach der Mund deiner Wahrheit: wenn ihr im ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das Wahrhaftige anvertrauen? Und wenn ihr im Fremden nicht treu seid, wer wird euch geben was euer ist? (Lut. 16, 10-12.) Ein Mann solcher Besinnungen hieng er an mir und berieth sich mit mir über die Wahl unserer Lebensweise.| | Ihn also traf ich in Rom. Mit der innigsten Freundschaft hieng er an mir und wanderte mit mir nach Mailand, sowohl um bei mir zu sein, als um die Rechtswissenschaft auszuüben, die er mehr nach dem Willen seiner Eltern, als nach seinem eigenen erlernt hatte. Vorher hatte er dreimal das Amt eines Beisitzers in den Gerichten mit der edelhaften Uneigennützigkeit bekleidet, über die sich seine Kollegen wunderten, während er selbst sich noch viel mehr über sie verwunderte, daß sie das Gold der Unbestechlichkeit vorzogen. Dort wurde seine Jugend nicht nur durch lockenden Gewinn, sie wurde auch durch Anfechtung zur Furcht versucht. In Rom nemlich bekleidete er einst die Stelle eines Beisitzers im Schatzmeisteramte für Italien. Und damals war dort ein sehr angesehener Senator, dem Viele durch empfangene Wohlthaten verpflichtet, aber aus Furcht dienstwillig waren. Der machte einst, nach seiner gewaltthätigen Weise, ein gesetzwidriges Ansinnen, dem Alypius entgegen war,[132] dargebotene Belohnung verlachend und angewandte Drohung verachtend, so daß Jedermann den ungewöhnlichen Muth bewunderte, mit dem er solch einen Mann weder zum Freunde wollte, noch als Feind fürchtete. Der Richter aber, dessen Rath Alypius war, verweigerte das Ansinnen nicht offen, ob er es gleich nicht gewähren wollte, sondern schob alle Schuld auf Alypius, der nicht einwilligen, und wenn der Richter selbst einwillige, gegen ihn stimmen würde. In dieser Stellung wurde er einmal bei einer literarischen Arbeit fast versucht sich um prätorianische Gerichtsgelder zu lassen, aber sein Rechtssinn brachte ihn auf beßeren Entschluß und er hielt die Billigkeit, die ihn abhielt für nutzbringender, als seine Gewalt, die ihm Jenes erlaubte. Das ist eine Kleinigkeit, aber wer im Kleinen treu ist, der ist auch im Großen treu. Und kein leeres Wort sprach der Mund deiner Wahrheit: wenn ihr im ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das Wahrhaftige anvertrauen? Und wenn ihr im Fremden nicht treu seid, wer wird euch geben was euer ist? (Lut. 16, 10-12.) Ein Mann solcher Besinnungen hieng er an mir und berieth sich mit mir über die Wahl unserer Lebensweise.|Augustinus: Bekenntnisse | ||
[http://www.zeno.org/Philosophie/M/Augustinus,+Aurelius/Bekenntnisse/Sechstes+Buch 6. Buch], S.129-132}} | |||
=== Mann: Philosophie, Wollust, Neugier; Frau: Liebe? === | === Mann: Philosophie, Wollust, Neugier; Frau: Liebe? === | ||
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Ohne Rast wurde nun darauf hingewirkt, daß ich eine Gattin heimführen möge. Schon freite ich und erhielt das Jawort, wobei sich meine Mutter die größte Mühe gab; denn sie hoffte, nach meiner Verehelichung sollte mich die heilsame Taufe reinigen, für die sie mich mit Freuden täglich tauglicher werden [137] sah. [...] Doch blieben wir bei unserer Wahl, die auf eine Jungfrau gefallen war, wegen deren Jugend wir mit der Vollziehung der Ehe noch zwei Jahre zu warten gedachten. [...] | Ohne Rast wurde nun darauf hingewirkt, daß ich eine Gattin heimführen möge. Schon freite ich und erhielt das Jawort, wobei sich meine Mutter die größte Mühe gab; denn sie hoffte, nach meiner Verehelichung sollte mich die heilsame Taufe reinigen, für die sie mich mit Freuden täglich tauglicher werden [137] sah. [...] Doch blieben wir bei unserer Wahl, die auf eine Jungfrau gefallen war, wegen deren Jugend wir mit der Vollziehung der Ehe noch zwei Jahre zu warten gedachten. [...] | ||
Inzwischen mehrten meine Sünden sich. Und da Sie, ein Hinderniß gegen meine Vermählung, von meiner Seite gerißen wurde, mit welcher ich mein Lager zu theilen gewöhnt war, wurde mein ihr anhängliches Herz getroffen, verwundert und wollte in Schmerzen verbluten. Sie aber war nach Afrika zurückgekehrt und hatte dir gelobt, nie mehr von einem andern Manne zu wißen. Mir wurde von ihr ein natürlicher Sohn zurückgelassen. Ich Elender aber konnte nicht einmal eines Weibes Nachahmer werden, und den Aufschub nicht ertragen, durch welchen ich die Verlobte erst nach zwei Jahren heimführen sollte; denn ich war nicht ein Freund der Ehe, ein Knecht der Lust war ich; und so nahm ich eine Andere zu mir, ohne sie zum Weibe zu nehmen.| | Inzwischen mehrten meine Sünden sich. Und da Sie, ein Hinderniß gegen meine Vermählung, von meiner Seite gerißen wurde, mit welcher ich mein Lager zu theilen gewöhnt war, wurde mein ihr anhängliches Herz getroffen, verwundert und wollte in Schmerzen verbluten. Sie aber war nach Afrika zurückgekehrt und hatte dir gelobt, nie mehr von einem andern Manne zu wißen. Mir wurde von ihr ein natürlicher Sohn zurückgelassen. Ich Elender aber konnte nicht einmal eines Weibes Nachahmer werden, und den Aufschub nicht ertragen, durch welchen ich die Verlobte erst nach zwei Jahren heimführen sollte; denn ich war nicht ein Freund der Ehe, ein Knecht der Lust war ich; und so nahm ich eine Andere zu mir, ohne sie zum Weibe zu nehmen.|Augustinus: Bekenntnisse | ||
[http://www.zeno.org/Philosophie/M/Augustinus,+Aurelius/Bekenntnisse/Sechstes+Buch 6. Buch], S.133-138}} | |||
=== Es gibt keine zwei Seelen in der Brust, sondern nur eine, die in sich unschlüssig ist. - Wider die Manichäer === | === Es gibt keine zwei Seelen in der Brust, sondern nur eine, die in sich unschlüssig ist. - Wider die Manichäer === | ||
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Als sich aber aus geheimnisvollen Tiefe die ernste Betrachtung sammelte und mein Herz mein ganzes Elend schauen ließ, brach es aus in mir, wie ein nie erfahrener Sturm und löste sich auf in einem Strom von Thränen. Ihn ganz zu ergießen, mit allen seinen Lauten, erhob ich mich von des Alypius Seite; denn passender schien mir die Einsamkeit für solche Thränen. Ich entfernte mich so weit, daß mir seine Gegenwart nicht mehr lästig werden konnte. Staunend blieb ich zurück, schon zuvor bemerkend, daß zurückgehaltene Thränen meine Stimme [196] dämpften. Ich warf mich unter einen Feigenbaum nieder, da ließ ich meinen Thränen den Lauf, und ein dir wohlgefällig Opfer ergoßen sich die Quellen meiner Augen. Und Vieles rief ich zu dir, nicht mit diesen Worten, aber dieses Sinnes: »Und du, Herr, wie so lange! Wie lange, Herr, willst du zürnen! Sei nicht eingedenk unserer vorigen Missethat!« – Denn von ihr fühlte ich mich gehalten, und entsandte meine Klagelaute: »Wie lange? Wie lange? Morgen ach und wieder Morgen! Warum nicht jetzt? Warum in dieser Stunde nicht das Ende meiner Schmach?« – So reif ich und weinte bitterlich in der Zerknirschung meines Herzens. Und siehe, da höre ich eine Stimme vom benachbarten Hause her; sie klang wie die Stimme eines singenden Knaben oder Mägdleins, und wiederholte oft die Worte: »Nimm und lies! Nimm und lies!« Ich entfärbte mich und sann nach, ob etwa Kinder in einem ihren Spiele diese Worte zu singen pflegten, aber ich erinnerte mich nicht, dergleichen je gehört zu haben. Da drängte ich zurück meine Thränen, sprang auf, und konnte diese Stimme mir nur erklären als ein Geheiß von Gott, sein Buch zu öffnen, und zu lesen, auf was ich träfe, sogleich beim ersten Aufrollen der Schrift. – Denn ich hatte von Antonius gehört, er sei einst in eine Kirche getreten, als eben das evangelische Wort gelesen wurde: »Gehe hin, verkaufe Alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.« (Matth. 19, 21) – Und er habe das Wort angewendet, als wäre es zu ihm gesagt, und habe es, als eine Gottesstimme, sogleich befolgt. – Eilig gehe ich hin, wo Alypius sitzt und wo ich die Briefe des Paulus zurückgelaßen. Ich ergreife das Buch, öffne es, und lese für mich den Abschnitt, der mir zuerst in die Augen fällt: – »Nicht in Gelagen und Trunkenheit, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; [197] sonder ziehet an den Herrn Jesus Christ und wartet des Leibes nicht zur Stillung fleischlicher Lüste.« (Röm. 13, 13) Nicht las ich weiter, mehr bedurfte ich nicht. Ich hatte gelesen und das Licht des Friedens kam über mein Herz, und alle Zweifelsnächte flohen. Ich bezeichnete die Stelle mit dem Finger, oder irgend einem andern Zeichen, schloß das Buch und erzählte mit ruhiger Miene dem Alypius, was mir geschehen. Er aber zeigte, was in ihm, mir verborgen, vorgieng, zeigte es damit, daß er zu sehen wünschte, was ich gelesen, und als ich's ihm aufschlug, las er das Folgende: »den Schwachen im Glauben nehmet auf,« (Röm. 14, 1.) es auf sich deutend und mir eröffnend. Diese Worte stärkten ihn; friedenvoll, ohne von Zweifeln bestürmt, zu werden, vereinigte er sich mit mir in gleichem Entschluß, seinen Sitten so gemäß, in welchen er stets viel reiner war, als ich. Nun gieng es zu Mutter; wir erzählen ihr, was geschehen, sie jauchzt und frohlockt, und preist dich, der überschwänglich mehr thun kann, als wir bitten und verstehen. Sie sah ja, wie sie weit mehr von dir für mich erhalten, als sie gebeten hatte im Flehen ihrer Seufzer und Thränen; denn du hattest mich zu dir bekehrt, keiner Ehe Band, keine weltliche Hoffnung suchte ich mehr, fest stand ich auf der Regel des Glaubens, auf welcher du mich vor vielen Jahren ihr im Traumgesichte gezeigt hattest. Du wandeltest ihre Trauer in Freude, thatest es reichlicher, als sie je gehofft, und holdseliger und reiner, als sie es erwartet, da sie durch mich auf Enkel gehofft.| | Als sich aber aus geheimnisvollen Tiefe die ernste Betrachtung sammelte und mein Herz mein ganzes Elend schauen ließ, brach es aus in mir, wie ein nie erfahrener Sturm und löste sich auf in einem Strom von Thränen. Ihn ganz zu ergießen, mit allen seinen Lauten, erhob ich mich von des Alypius Seite; denn passender schien mir die Einsamkeit für solche Thränen. Ich entfernte mich so weit, daß mir seine Gegenwart nicht mehr lästig werden konnte. Staunend blieb ich zurück, schon zuvor bemerkend, daß zurückgehaltene Thränen meine Stimme [196] dämpften. Ich warf mich unter einen Feigenbaum nieder, da ließ ich meinen Thränen den Lauf, und ein dir wohlgefällig Opfer ergoßen sich die Quellen meiner Augen. Und Vieles rief ich zu dir, nicht mit diesen Worten, aber dieses Sinnes: »Und du, Herr, wie so lange! Wie lange, Herr, willst du zürnen! Sei nicht eingedenk unserer vorigen Missethat!« – Denn von ihr fühlte ich mich gehalten, und entsandte meine Klagelaute: »Wie lange? Wie lange? Morgen ach und wieder Morgen! Warum nicht jetzt? Warum in dieser Stunde nicht das Ende meiner Schmach?« – So reif ich und weinte bitterlich in der Zerknirschung meines Herzens. Und siehe, da höre ich eine Stimme vom benachbarten Hause her; sie klang wie die Stimme eines singenden Knaben oder Mägdleins, und wiederholte oft die Worte: »Nimm und lies! Nimm und lies!« Ich entfärbte mich und sann nach, ob etwa Kinder in einem ihren Spiele diese Worte zu singen pflegten, aber ich erinnerte mich nicht, dergleichen je gehört zu haben. Da drängte ich zurück meine Thränen, sprang auf, und konnte diese Stimme mir nur erklären als ein Geheiß von Gott, sein Buch zu öffnen, und zu lesen, auf was ich träfe, sogleich beim ersten Aufrollen der Schrift. – Denn ich hatte von Antonius gehört, er sei einst in eine Kirche getreten, als eben das evangelische Wort gelesen wurde: »Gehe hin, verkaufe Alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.« (Matth. 19, 21) – Und er habe das Wort angewendet, als wäre es zu ihm gesagt, und habe es, als eine Gottesstimme, sogleich befolgt. – Eilig gehe ich hin, wo Alypius sitzt und wo ich die Briefe des Paulus zurückgelaßen. Ich ergreife das Buch, öffne es, und lese für mich den Abschnitt, der mir zuerst in die Augen fällt: – »Nicht in Gelagen und Trunkenheit, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; [197] sonder ziehet an den Herrn Jesus Christ und wartet des Leibes nicht zur Stillung fleischlicher Lüste.« (Röm. 13, 13) Nicht las ich weiter, mehr bedurfte ich nicht. Ich hatte gelesen und das Licht des Friedens kam über mein Herz, und alle Zweifelsnächte flohen. Ich bezeichnete die Stelle mit dem Finger, oder irgend einem andern Zeichen, schloß das Buch und erzählte mit ruhiger Miene dem Alypius, was mir geschehen. Er aber zeigte, was in ihm, mir verborgen, vorgieng, zeigte es damit, daß er zu sehen wünschte, was ich gelesen, und als ich's ihm aufschlug, las er das Folgende: »den Schwachen im Glauben nehmet auf,« (Röm. 14, 1.) es auf sich deutend und mir eröffnend. Diese Worte stärkten ihn; friedenvoll, ohne von Zweifeln bestürmt, zu werden, vereinigte er sich mit mir in gleichem Entschluß, seinen Sitten so gemäß, in welchen er stets viel reiner war, als ich. Nun gieng es zu Mutter; wir erzählen ihr, was geschehen, sie jauchzt und frohlockt, und preist dich, der überschwänglich mehr thun kann, als wir bitten und verstehen. Sie sah ja, wie sie weit mehr von dir für mich erhalten, als sie gebeten hatte im Flehen ihrer Seufzer und Thränen; denn du hattest mich zu dir bekehrt, keiner Ehe Band, keine weltliche Hoffnung suchte ich mehr, fest stand ich auf der Regel des Glaubens, auf welcher du mich vor vielen Jahren ihr im Traumgesichte gezeigt hattest. Du wandeltest ihre Trauer in Freude, thatest es reichlicher, als sie je gehofft, und holdseliger und reiner, als sie es erwartet, da sie durch mich auf Enkel gehofft.| | ||
Augustinus: [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Augustinus,+Aurelius/Bekenntnisse/Achtes+Buch Bekenntnisse, 8. Buch], 12. Kapitel, S.193-197}} | Augustinus: [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Augustinus,+Aurelius/Bekenntnisse/Achtes+Buch Bekenntnisse, 8. Buch], 12. Kapitel, S.193-197}} | ||
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[[Kategorie:Religion]] |
Aktuelle Version vom 27. Oktober 2019, 05:50 Uhr
Die Confessiones (Bekenntnisse) sind autobiographische Betrachtungen des christlichen Kirchenlehrers Augustinus. Sie entstanden in den Jahren von 397 bis 401 n. Chr.; Augustinus war damals Bischof von Hippo Regius
Sehnsucht nach Liebe
Theaterleidenschaft oder Mitgefühl?
Ambrosius von Mailand
Der Freund Alypius
Mann: Philosophie, Wollust, Neugier; Frau: Liebe?
Es gibt keine zwei Seelen in der Brust, sondern nur eine, die in sich unschlüssig ist. - Wider die Manichäer
Augustinus wehrt sich gegen die manichäische Vorstellung, dass in jedem Menschen stets das Böse und das Gute miteinander kämpfen und vertritt die Position, dass auch eine einzelne Seele unsicher darüber sein kann, wie sie sich entscheiden soll.