Jean-Jacques Rousseau/Die Bekenntnisse
Die Bekenntnisse von Jean-Jacques Rousseau sind die erste Autobiographie von Rang, die nicht - wie zum Beispiel die Confessiones des Augustinus, auf die sich der Titel bezieht, - die religiösen Erfahrungen, sondern das gesamte Leben, nicht zuletzt das psychologische Selbstverständnis zum Gegenstand haben.
Das Werk besteht aus zwei Teilen zu je sechs Büchern. Im ersten Teil behandelt Rousseau den Zeitraum 1712 bis 1741, im zweiten den von 1741 bis 1765. Allerdings geht er gelegentlich auf seine Situation während des Schreibens ein. Da er das Werk vermutlich 1770 abschloss, enthält es also auch Hinweise auf seine Anschauungen zu dieser Zeit.
Textausschnitte
Über das Besondere seiner Autobiographie
Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein. Ich allein. Ich verstehe in meinem Herzen zu lesen und kenne die Menschen. Meine Natur ist von der aller, die ich gesehen habe, verschieden; ich wage sogar zu glauben, nicht wie ein einziges von allen menschlichen Wesen geschaffen zu sein. Bin ich auch nicht besser, so bin ich doch anders.
Bekenntnisse 1. Buch
nach Gutenberg.de 1. Teil Kap.1
Mein Gedächtnis, welches mir lediglich angenehme Dinge zurückruft, ist das glückliche Gegengewicht gegen meine in Furcht gesetzte Einbildungskraft, die mich nur eine schmerzliche Zukunft vorhersehen läßt.
Alle Papiere, welche ich gesammelt hatte, um mein Gedächtnis zu unterstützen und mir bei diesem Unternehmen als Leitfaden zu dienen, sind in andere Hände übergegangen und werden nie mehr in die meinen zurückgelangen.
Ich habe nur einen treuen Führer, auf den ich mich verlassen kann, das ist die Verkettung der Gefühle, die mein Wesen nach und nach gestaltet haben, und durch sie wieder die Verkettung, der Ereignisse, die ihre Ursache oder Wirkung gewesen sind. Ich vergesse mein Unglück leicht, aber ich kann meine Fehler nicht vergessen, und vergesse noch weniger meine guten Eindrücke. [...] Der eigentliche Zweck meiner Bekenntnisse ist eine genaue Darlegung meines Innern in allen meinen Lebenslagen. Ich habe die Geschichte meiner Seele versprochen, und um sie treu niederzuschreiben, bedarf ich keiner anderen Erinnerungen; mir genügt, wie ich bisher stets gethan, die Einkehr in mich selbst.
[...] denn ich befürchte nicht, der Leser könnte vergessen, daß ich meine Bekenntnisse schreibe und sich dem Wahne hingeben, daß ich nur meine Rechtfertigung im Auge habe; aber er darf eben so wenig erwarten, daß ich die Wahrheit verschweige, wenn sie zu meinen Gunsten spricht [...]
Bekenntnisse 7. Buch
nach Gutenberg.de 2. Teil Kap.1
Beschämende Geständnisse
Masochismus
Da Fräulein Lambercier uns mit der Liebe einer Mutter zugethan war, nahm sie auch deren Gewalt über uns in Anspruch und trieb dieselbe mitunter so weit, daß sie uns auch, wenn wir es verdient hatten, wie eine Mutter ihr Kind, züchtigte. Ziemlich lange ließ sie es bei der Drohung bewenden, und diese Androhung einer mir ganz neuen Strafe versetzte mich in großen Schrecken; aber nach ihrer Erduldung fand ich sie weniger schrecklich, als ich sie mir in der Erwartung vorgestellt hatte, ja, was noch eigenthümlicher ist, diese Züchtigung flößte mir noch größere Zuneigung zu der ein, die sie mir ertheilt hatte. Es gehörte sogar die ganze Aufrichtigkeit dieser Zuneigung und meine natürliche Folgsamkeit dazu, um mich davon zurückzuhalten, absichtlich eine Unart zu begehen, die in gleicher Weise hätte geahndet werden müssen; denn der Schmerz und selbst die Scham war mit einem Gefühle von Sinnlichkeit verbunden gewesen, das in mir eher das Verlangen, es von derselben Hand von Neuem erregt zu sehen, als die Furcht davor zurückgelassen hatte. Da dies ohne Zweifel von einer vorzeitigen Regung des Geschlechtstriebes herrührte, würde ich allerdings in der nämlichen Züchtigung von der Hand ihres Bruders nichts Angenehmes gefunden haben. Allein bei seinem Charakter brauchte ich nicht leicht zu befürchten, daß er bei Ertheilung der Strafe seine Schwester vertreten würde, und wenn ich es trotzdem vermied, eine Züchtigung zu verdienen, so geschah es lediglich aus Besorgnis, Fräulein Lambercier zu erzürnen; denn so große Gewalt übt die Zuneigung, selbst wenn sie nur ein Ausfluß der Sinnlichkeit ist, auf mich aus, daß sie letztere stets in Schranken hält.
Die Wiederholung der körperlichen Strafe, der ich, ohne sie zu fürchten, aus dem Wege ging, geschah ohne mein Verschulden, das heißt ohne daß ich sie absichtlich veranlaßt hätte, und ich kann sagen, daß ich sie getrost und nicht ohne einen geheimen Reiz über mich ergehen ließ. Aber dieses zweite Mal war auch das letzte, denn Fräulein Lambercier, die ohne Zweifel an irgend einem Zeichen gemerkt hatte, daß diese Züchtigung ihren Zweck nicht erfüllte, erklärte, daß sie mit einer solchen Bestrafung nichts mehr zu thun haben wollte, da dieselbe sie zu sehr ermüdete. Bis dahin hatten wir in ihrem Zimmer geschlafen und im Winter sogar hin und wieder in ihrem Bette. Zwei Tage später erhielten wir ein besonderes Schlafzimmer, und ich genoß von nun an die Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte, von ihr als erwachsener Knabe behandelt zu werden.
Wer sollte glauben, daß diese in einem Alter von acht Jahren von der Hand eines Mädchens von dreißig Jahren empfangene Züchtigung über meine Neigungen, meine Begierden, meine Leidenschaften, über mich selbst für meine ganze übrige Lebenszeit entschieden hat und noch dazu in einer Weise, daß gerade das Gegentheil der von ihr erwarteten Folgen hervorgerufen wurde? Von dem Augenblicke des Erwachens meiner Sinnlichkeit an verirrten sich meine Begierden dergestalt, daß sie, da sie sich auf das, was ich empfunden hatte, beschränkten, nie den Antrieb fühlten, etwas Anderes zu suchen. Trotz meines fast von meiner Geburt an sinnlich erhitzten Blutes hielt ich mich bis zu dem Alter, in dem sich auch der kältesten und am langsamsten heranreifenden Naturen entwickeln, von jeder Befleckung rein. Lange gepeinigt, ohne zu wissen wovon, verschlang ich mit brennenden Augen schöne Mädchenerscheinungen; unaufhörlich stellte meine Einbildungskraft mir ihr Bild wieder vor die Seele, einzig und allein um sie mir in der Ausübung des Strafakts zu zeigen, und eben so viele Fräulein Lambercier aus ihnen zu machen.
Selbst nach erreichter Mannbarkeit hat mir dieser eigenthümliche und verdorbene, ja an Verrücktheit streifende Geschmack, der sich nie verloren hat, die Sittenreinheit bewahrt, die er mir dem Anschein nach hätte rauben müssen. [...]
Mein alter kindlicher Geschmack verlor sich nicht etwa, sondern verschmolz im Gegentheile dergestalt mit dem andern, daß ich ihn nie aus meinen sinnlichen Begierden entfernen konnte; und diese Narrheit hat mich in Verbindung mit meiner angeborenen Schüchternheit bei den Frauen stets sehr wenig unternehmend gemacht, weil ich weder alles zu sagen wagte, noch alles zu thun vermochte, indem die Art von Genuß, wovon der andere in meinen Augen nur als das letzte Ziel galt, von dem, welcher ihn ersehnte, nicht verlangt, noch von derjenigen, von der die Erfüllung abhing, errathen werden konnte. So habe ich mein Leben lang trotz aller Gelüste den Personen gegenüber, die ich am meisten liebte, geschwiegen. Unfähig, meinen Geschmack einzugestehen, befriedigte ich ihn durch den Umgang mit Persönlichkeiten, die ihn in mir wach erhielten. Vor einer herrischen Geliebten auf den Knien liegen, ihrem leisesten Winke nachkommen, sie um Verzeihung anflehen, das waren für mich selige Genüsse, und je mehr meine lebhafte Einbildungskraft mir das Blut erhitzte, desto mehr hatte ich das Aussehen eines blöden Liebhabers. Eine derartige Liebeswerbung erzielt begreiflicherweise keine schnellen Erfolge und ist der Tugend der Frauen, denen man seine Huldigungen darbringt, nicht sehr gefährlich. Ich habe deshalb wenig besessen, allein dessenungeachtet auf meine Weise, das heißt in der Einbildung viele Genüsse gehabt. So hat mir gerade meine Sinnlichkeit, die meinem schüchternen Wesen und meinem schwärmerischen Geiste entsprach, die Unschuld meiner Gefühle und die Reinheit meiner Sitten bewahrt, und gerade mit Hilfe desselben Geschmacks, der mich, wenn ich ein wenig frecher aufgetreten wäre, vielleicht in die gemeinsten Wollüste hineingezogen hätte.
Ich habe den ersten Schritt, der mir am schwersten geworden ist, in das düstre und schmutzige Labyrinth meiner Bekenntnisse gethan. Nicht das Geständnis dessen, was verbrecherisch ist, kostet am meisten Ueberwindung, sondern die offene Einräumung dessen, was lächerlich und beschämend ist. Von nun an bin ich meiner sicher; nachdem ich den Muth gehabt habe, so viel zu sagen, kann mich nichts mehr zurückhalten. Wie schwer mir solche Geständnisse angekommen sind, kann man daraus schließen, daß ich es nie in meinem Leben habe über mich gewinnen können, meine Tollheit denen zu bekennen, die ich doch mit einer so rasenden Leidenschaft liebte, daß ich nicht zu sehen und zu hören vermochte, daß ich völlig außer mir gerieth und mein ganzer Körper von einem krampfhaften Zittern befallen wurde. Auch in den Stunden der innigsten Vertraulichkeit hatte ich nicht das Herz, sie um Gewährung der einzigen Gunsterweisung zu bitten, die mir zu den übrigen noch fehlte.[...]
Bekenntnisse 1. Buch
Ein unschuldiges Mädchen beschuldigt
Aber wenn mein Seelenzustand auch anscheinend unverändert blieb, so verließ ich ihr Haus doch nicht, wie ich in dasselbe eingetreten war. Ich nahm aus ihm die unauslöschliche Erinnerung an ein Verbrechen und das unerträgliche Gewicht der Reue mit fort, die noch immer, am Ende von vierzig Jahren auf meinem Gewissen lastet und deren Bitterkeit, statt abzunehmen, sich mit dem zunehmenden Alter unaufhörlich steigert. Wer sollte meinen, daß der Fehler eines Kindes so grausame Folgen haben könnte! Und gerade über diese mehr als blos wahrscheinlichen Folgen wird mein Herz sich nie zu trösten im Stande sein. Ich bin vielleicht die Ursache gewesen, daß ein liebenswürdiges, sittsames, achtbares Mädchen, das sicherlich viel mehr werth war als ich, in Schande und Elend untergegangen ist.
Die Auflösung eines Haushaltes wird immer mit einiger Verwirrung und dem Verluste mancher Sachen verbunden sein. Gleichwohl war die Treue der Dienstleute und die Wachsamkeit des Herrn und der Frau Lorenzi so groß, daß von dem Inventarium nichts fortkam. Jungfer Pontal allein verlor ein kleines, schon altes, rosa- und silberfarbiges Band. Viele andere bessere Sachen waren mir zugänglich; dieses Band allein reizte mich, ich stahl es, und da ich es nicht sorgfältig verbarg, fand man es bald. Man wollte wissen, wo ich es genommen hatte. Ich werde verlegen, stottere und sage endlich erröthend, Marion habe es mir gegeben. Marion war ein junges, aus Maurienne stammendes Mädchen, das Frau von Vercellis zu ihrer Köchin erhoben hatte, als sie bei Verzicht auf alle Tafelfreuden ihre bisherige entließ, da sie mehr guter Suppen als feiner Ragouts bedurfte. Marion war [...] ein gutes, bescheidenes Mädchen und von erprobter Treue. Deshalb überraschte es, als ich sie angab. Da man mir nicht weniger Vertrauen schenkte als ihr, hielt man es für wichtig, festzustellen, wer von uns beiden der Dieb wäre. Man ließ sie kommen; die Versammlung war zahlreich, selbst der Graf della Rocca war zugegen. Sie erscheint, man zeigt ihr das Band; mit Frechheit klage ich sie an; sie wird betreten, schweigt und wirft mir einen Blick zu, der die Teufel würde entwaffnet haben, aber auf mein unmenschliches Herz ohne Eindruck bleibt. Sie läugnet endlich mit Festigkeit, aber ohne leidenschaftliche Heftigkeit, wendet sich an mich, ermahnt mich, in mich zu gehen, ein unschuldiges Mädchen, das mir nie etwas zu Leide gethan hat, nicht zu entehren, und ich, ich bestätige mit einer wahrhaft höllischen Schamlosigkeit meine Erklärung und behaupte ihr ins Gesicht, sie habe mir das Band gegeben. Das arme Mädchen brach in Thränen aus und sagte zu mir nur: »Ach, Rousseau, ich hielt dich für einen guten Menschen. Du machst mich sehr unglücklich, aber ich möchte nicht an deiner Stelle sein.« Dies war alles. Sie fuhr fort, sich mit eben so großer Einfachheit wie Festigkeit zu vertheidigen, aber ohne sich die geringste Schmähung gegen mich zu erlauben. Diese Mäßigung meinem bestimmten Tone gegenüber gab ihr Unrecht. Es schien gegen die Natur zu streiten, daß man auf der einen Seite eine so teuflische Unverschämtheit und auf der andern eine so engelgleiche Sanftmuth annehmen sollte. Man schien nicht zur völligen Entscheidung zu kommen, aber das Vorurtheil war für mich. In der Unruhe, in der man sich damals befand, nahm man sich nicht die Zeit, die Sache gründlich zu untersuchen, und der Graf de la Rocca beschränkte sich darauf, uns beide zu entlassen und zu sagen, daß das Gewissen des Schuldigen den Unschuldigen hinreichend rächen würde. Seine Voraussagung war nicht grundlos; sie erfüllt sich einen Tag wie den andern an mir.
[...] Ich betrachte das Elend und die Verlassenheit nicht einmal als die größte Gefahr, der ich sie ausgesetzt habe. Wer weiß, wohin die Mutlosigkeit, in die ihre mißhandelte Unschuld sie stürzen mußte, sie bei ihrem Alter hat bringen können? Ach, wenn die Reue darüber, daß ich sie unglücklich gemacht haben kann, schon unerträglich ist, dann möge man sich erst die vorstellen, daß ich sie vielleicht schlechter gemacht habe, als ich bin.
Diese bittere Erinnerung peinigt mich bisweilen und regt mich bis zu dem Grade auf, daß ich in Stunden der Schlaflosigkeit dieses arme Mädchen an mein Bett treten sehe, um mir mein Verbrechen vorzuwerfen, als wäre es erst gestern begangen. So lange ich ruhig lebte, hat es mich weniger gequält, aber inmitten eines stürmischen Lebens raubt es mir den süßen Trost der verfolgten Unschuld; es läßt mich tief empfinden, was ich in einem meiner Werke behauptet habe, daß die Reue während eines glücklichen Lebens nachläßt und im Unglück heftiger wird. Indessen habe ich mich nie dazu entschließen können, mein Herz durch ein Geständnis an einen Freund zu erleichtern. Bei der engsten Vertraulichkeit habe ich niemandem, nicht einmal der Frau von Warens, dieses Bekenntnis abgelegt. Alles, wozu ich mich habe überwinden können, ist das Eingeständnis gewesen, daß ich mir eine Schlechtigkeit vorzuwerfen hätte, aber nie habe ich gesagt, worin sie bestände. Diese Last ruht also noch bis auf den heutigen Tag ohne Erleichterung auf meinem Gewissen, und ich kann sagen, daß der Wunsch, sie einigermaßen von mir abzuwälzen, viel zu meinem Entschlüsse beigetragen hat, meine Bekenntnisse zu schreiben.
Bei dem eben abgelegten habe ich die Wahrheit rund heraus gesagt, und man wird sicherlich nicht finden, daß ich hierbei die Schwärze meiner Schandthat beschönigt habe. Allein ich würde den Zweck dieses Buches nicht erfüllen, wenn ich nicht zugleich meine innere Gesinnung erklärte, und wenn ich Scheu trüge, mich bei dem zu entschuldigen, was die volle Wahrheit ist. Nie war ich von einer wirklich boshaften Gesinnung freier als in jenem grausamen Augenblick, und so sonderbar es auch klingt, so ist es doch wahr, daß, als ich dieses unglückliche Mädchen anklagte, die Schuld in meiner Freundschaft für dasselbe lag. Meine Gedanken weilten bei ihm; ich schob die Schuld auf den ersten Gegenstand, der mir vorschwebte. Ich klagte es an, das, was ich thun wollte, gethan und mir das Band gegeben zu haben, weil meine Absicht war, es ihm zu geben. Als ich es darauf erscheinen sah, that es mir unendlich leid, aber die Anwesenheit so vieler Leute gewann die Oberhand über meine Reue. Vor der Strafe hatte ich wenig Furcht, ich fürchtete nur die Schande, aber ich fürchtete sie mehr als den Tod, mehr als das Verbrechen, mehr als alles auf der Welt. Ich hätte versinken, hätte mich umbringen mögen; das unbesiegliche Schamgefühl überwand alles; das Schamgefühl allein verlieh mir Frechheit, und je schuldiger ich wurde, desto kecker machte mich die Angst, meine Schuld eingestehen zu müssen. Mich erfüllte nur der grausenhafte Gedanke, überführt und in meinem Beisein öffentlich als Dieb, Lügner und Verleumder erklärt zu werden. Eine vollkommene Verwirrung raubte mir jedes andere Gefühl. Wenn man mich hätte zur Besinnung kommen lassen, würde ich unfehlbar alles bekannt haben. Hätte mich Herr de la Rocca bei Seite genommen, hätte er zu mir gesagt: »Richte dieses arme Mädchen nicht zu Grunde; gestehe es mir, wenn du schuldig bist,« würde ich mich ihm sofort zu Füßen geworfen haben, davon bin ich vollkommen überzeugt. Aber man suchte mich nur einzuschüchtern, während man mir hätte Muth einflößen sollen. Auch auf mein Alter muß man billigerweise Rücksicht nehmen; ich war kaum aus der Kindheit herausgetreten, oder ich stand vielmehr noch in ihr. In der Jugend sind die wahren Schlechtigkeiten noch strafbarer als im reifen Alter; was aber aus der Schwäche hervorgeht, ist es dafür weit weniger, und mein Fehler war im Grunde nichts anderes. Auch quält mich die Erinnerung daran weniger wegen des Bösen an sich selbst, als wegen der Folgen, die sich daran knüpfen. Für mich hat es sogar das Gute gehabt, mich für meine ganze übrige Lebenszeit vor jeder an das Verbrecherische streifenden Handlung zu bewahren. Dies habe ich dem furchtbaren Eindrucke zu verdanken, der mir von der einzigen Schlechtigkeit geblieben ist, welche ich je begangen habe; und ich glaube zu fühlen, daß mein Abscheu vor Lügen seine Quelle zum großen Theile in der Reue darüber hat, daß ich eine so schändliche habe aussprechen können. Wenn dieselbe ein Verbrechen ist, welches, wie ich zu hoffen wage, gesühnt werden kann, so muß es durch so viele Unglücksfälle, welche gegen das Ende meines Lebens auf mich eingestürmt sind, durch vierzig Jahre der Redlichkeit und Rechtschaffenheit in schwierigen Verhältnissen gesühnt sein. Die arme Marion findet so viele Rächer in dieser Welt, daß, wie groß auch die ihr von mir zugefügte Kränkung gewesen sein mag, ich nur geringe Furcht hege, mit ihr beschwert in die Ewigkeit hinüberzugehen. Das hatte ich über diesen Gegenstand zu sagen. Möge man mir erlauben, nie wieder darauf zurückzukommen. [...]
Bekenntnisse 2. Buch
Einen Gefährten in der Not verlassen
Zwei Tage nach unserer Ankunft in Lyon wurde Le Maître, als wir eben durch eine kleine Straße unweit unserer Herberge schritten, von einem seiner [epileptischen] Anfälle überrascht, und dieser war so heftig, daß ich darüber von Schrecken ergriffen wurde. Ich stieß einen Schrei aus, rief nach Hilfe, nannte seine Herberge und bat, ihn dorthin zu schaffen. Während sich nun um den mitten auf der Straße besinnungslos und schäumend umgesunkenen Mann viele Leute hilfsbereit sammelten, wurde er von dem einzigen Freunde, auf den er hätte zählen müssen, erbarmungslos verlassen. Ich benutzte den Augenblick, wo niemand auf mich achtete, lief um die Straßenecke und verschwand. Dem Himmel sei Dank, habe ich auch dieses dritte saure Geständnis abgelegt, hätte ich noch viel ähnliches zu gestehen übrig, würde ich die begonnene Arbeit nicht fortsetzen.
Bekenntnisse 3. Buch
Frau von Warens
Der Genfer Rousseau vom calvinistischer Bekenntnis zum katholischen konvertiert. Zum Lohn schickte man ihn zu einer adeligen Dame, die ebenfalls konvertiert war:
Endlich lange ich an; ich sehe Frau von Warens. Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden. Ich kann mich nicht entschließen, leicht darüber hinwegzugehen. [...]
Ich traf Frau von Warens nicht an; man sagte mir, sie wäre eben zur Kirche gegangen. Es war der Palmsonntag des Jahres 1728. Ich laufe um ihr zu folgen: Ich sehe sie, ich hole sie ein, ich rede sie an. Unaufhörlich schweifen meine Gedanken zu dieser Stelle hinüber, die ich seitdem oft mit meinen Thränen genetzt und mit meinen Küssen bedeckt habe. O daß ich diese glückselige Stätte mit einem goldenen Gitter umgeben, ihr die Huldigungen der ganzen Erde zulenken könnte! [...]
Louise Eleonore von Warens war ein geborenes Fräulein de la Tour de Pil; ihre alte adlige Familie wohnte in Vevay, einer Stadt im Canton Waadt. Noch sehr jung hatte sie Herrn von Warens aus dem Hause Loys, ältesten Sohn des Herrn von Villardin von Lausanne geheirathet. Da diese Ehe, aus der keine Kinder hervorgingen, nicht allzu glücklich war, ergriff Frau von Warens, von häuslichem Kummer getrieben, die sich ihr durch die Anwesenheit des Königs Victor Amadeus in Evian darbietende Gelegenheit und fuhr über den See, um sich diesem Fürsten zu Füßen zu werfen, und riß sich so durch eine der meinigen sehr ähnliche Unbesonnenheit, die sie ebenfalls immerdar hat beweinen müssen, von ihrem Gatten, ihrer Familie und ihrer Heimat los. Der König, der gern den eifrigen Katholiken spielte, nahm sie unter seinen Schutz, bewilligte ihr eine Pension von fünfzehnhundert piemontesischen Livres, was für einen im Allgemeinen wenig freigebigen Fürsten eine bedeutende Summe war, und sandte sie, als er wahrnahm, daß man ihn um deswillen für verliebt in sie hielt, von einer Abtheilung seiner Garden geleitet, nach Annecy, wo sie unter der Gewissensleitung des Titularbischofes von Genf, Michael Gabriel von Bernex, im Kloster der Heimsuchung Mariä ihren Glauben abschwor.
Als ich in Annecy eintraf, war sie schon sechs Jahre daselbst und zählte damals achtundzwanzig Jahre, da sie am Anfange des Jahrhunderts geboren war. Ihre Schönheit gehörte zu jenen, die lange Dauer haben, weil sie sich weniger in den Zügen als in dem Gesichtsausdrucke ausprägt; auch war die ihrige noch in ihrem ersten Glanze.[...]
Bekenntnisse 2. Buch
Rousseau war nach Turin geschickt worden, um in die katholische Religion eingeführt zu werden, und kehrte nach einigen aufregenden Erlebnissen zur Frau Warens zurück:
Kaum zeigte ich mich den Augen der Frau von Warens, als ihre Miene mich sofort beruhigte. Ich erbebe beim ersten Tone ihrer Stimme, stürze mich ihr zu Füßen und drücke im Entzücken der lebhaftesten Freude meinen Mund auf ihre Hand. Ich weiß nicht, ob sie bereits über mich benachrichtigt war, doch drückte sich wenig Ueberraschung und noch weniger Verdruß in ihren Zügen aus. »Armer Kleiner,« sagte sie in liebkosendem Tone zu mir, »so bist du also wieder da. Ich wußte wohl, daß du für eine derartige Reise zu jung warst; ich bin recht zufrieden, daß sie nicht einen so üblen Ausgang genommen, wie ich befürchtet hatte.« [...]
Vom ersten Tage an entwickelte sich zwischen uns die innigste Vertraulichkeit, welche während ihrer ganzen übrigen Lebenszeit in gleichem Grade fortgedauert hat. »Kleiner« wurde ich genannt, »Mama« redete ich sie an, und beständig blieben wir Kleiner und Mama, selbst dann noch, als die Zahl der Jahre den Unterschied zwischen uns beinahe völlig verwischt hatte. Ich finde, daß diese beiden Benennungen unsern Umgangston, die Harmlosigkeit unseres gegenseitigen Verhaltens und namentlich das Verhältnis unserer Herzen zu einander treffend bezeichnen. Sie war für mich die zärtlichste der Mütter, die nie ihr Vergnügen, sondern lediglich mein Wohl im Auge hatte, und wenn bei meiner Zuneigung zu ihr die Sinnlichkeit mit in das Spiel kam, so veränderte sie gleichwohl nicht den Charakter derselben, sondern verlieh ihr nur einen höheren Reiz und machte mich vor Entzücken trunken, eine junge und hübsche Mama zu haben, die zu liebkosen meine Lust war. Ich sage liebkosen buchstäblich genommen, denn nie kam es ihr in den Sinn, sich der Küsse und der zärtlichsten mütterlichen Liebkosungen gegen mich zu enthalten, und nie stieg der Gedanke in mir auf, davon Mißbrauch zu machen. Man wird behaupten, daß wir im Laufe der Zeit doch wohl ein Verhältnis anderer Art werden zu einander gehabt haben; ich gebe es zu, aber man muß es abwarten, ich kann nicht alles auf einmal sagen.
Die wenigen Minuten unseres ersten Zusammentreffens waren der einzige wirklich leidenschaftliche Augenblick, den sie mich je hat fühlen lassen, und noch dazu war dieser Augenblick ein Werk der Ueberraschung. Nie suchten meine Blicke unbescheiden unter ihr Halstuch zu dringen, obgleich eine darunter schlecht verhüllte Fülle sie recht wohl hätte dorthin ziehen können. Ich fühlte in ihrer Nähe weder Wonneschauer noch Verlangen; ich befand mich in einer entzückenden Ruhe und einem süßem Genusse, ohne zu wissen, was ich genoß. Ich hätte auf diese Weise mein ganzes Leben und selbst die Ewigkeit zubringen können, ohne mich einen Augenblick zu langweilen. Sie ist die einzige Person, bei der ich nie jene Trockenheit der Unterhaltung gefühlt habe, die mir die Pflicht, sie fortzuführen, zur Marter macht. Unsere Unterhaltung bei unseren Zusammenkünften bestand nicht sowohl in einem regelrechten Gespräche, als vielmehr in einem unerschöpflichen Geplauder, welches unterbrochen werden mußte, wenn es ein Ende haben sollte. Sie mußte mir eher Schweigen gebieten, als mich zum Reden auffordern. Da sie unaufhörlich über ihre Projecte grübelte, verfiel sie oft in Träumerei. Ruhig ließ ich sie dann träumen; ich schwieg, betrachtete sie und war der glücklichste der Menschen. Noch eine sonderbare Wunderlichkeit war mir eigen. Ohne die Gunst des Alleinseins mit ihr zu beanspruchen, suchte ich es unaufhörlich und hatte eine leidenschaftliche Freude daran, die in Wuth ausartete, wenn zudringliche Menschen es störten. Sobald jemand kam, mochte es nun Mann oder Frau sein, ging ich murrend fort, da ich es nicht zu Dritt bei ihr auszuhalten vermochte. Ich zählte in ihrem Vorzimmer die Minuten, während ich tausendmal diese ewigen Besucher verfluchte und nicht begreifen konnte, was sie so viel zu sagen hatten, weil ich noch mehr zu sagen hatte.
Ich empfand erst die ganze Stärke meiner Zuneigung zu ihr, wenn ich sie nicht sah. Wenn ich sie sah, erfüllte mich nur ein Gefühl der Befriedigung; aber in ihrer Abwesenheit steigerte sich meine Unruhe bis zur Pein. Das Bedürfnis des Zusammenseins mit ihr gab mir Aufwallungen von Rührung, die bis zu Thränen gingen. Ich werde nie vergessen, wie ich an einem hohen Feiertage, während sie in dem Nachmittagsgottesdienste war, vor der Stadt lustwandelte, das Herz voll von ihrem Bilde und dem glühenden Wunsche, meine Tage an ihrer Seite zu verleben. Ich hatte Verstand genug, um einzusehen, daß es gegenwärtig nicht möglich war, und daß ein Glück, wie es mir jetzt in so hohem Grade zu Theil wurde, nur kurz sein könnte. Dies verlieh meiner Träumerei eine Schwermuth, die gleichwohl nichts Düstres hatte und von einer schmeichelhaften Hoffnung gemildert wurde. Der Glockenklang, der mich stets eigenthümlich gerührt hat, der Gesang der Vögel, die Schönheit des Tages, die Anmuth der Gegend, die zerstreuten Landhäuser, die ich in meiner Phantasie zu unserm gemeinsamen Asyle ausersah, das alles brachte auf mich einen so lebhaften, zarten, schwermüthigen und rührenden Eindruck hervor, daß ich mich wie in schwärmerischer Verzückung schon in diese glückliche Zeit und in diese beglückende Heimstätte versetzt sah, wo mein Herz im Besitze jeder Seligkeit, die das Ziel seines Sehnens war, sie in unbeschreiblichen Entzückungen empfand, ohne dabei auch nur an die Sinneslust zu denken. Ich erinnere mich nicht, mich je mit größerer Kraft und Illusion in die Zukunft versenkt zu haben als damals, und was mich bei der Erinnerung an diese Träumerei nach ihrer endlichen Verwirklichung am meisten überrascht hat, ist das Auffallende, daß ich die Gegenstände genau so, wie ich sie mir vorgestellt, wiedergefunden habe. Wenn je die Träumerei eines Menschen im wachen Zustande an eine prophetische Vision streifte, so war es sicherlich die eben erzählte. Nur in ihrer eingebildeten Dauer unterlag ich einer Täuschung, denn die Tage und die Jahre und das ganze Leben verflossen darin in unveränderlicher friedlicher Ruhe, während in Wirklichkeit das alles nur einen Augenblick gedauert hat. Ach, mein dauerndstes Glück hat nur ein Traum mir vorgegaukelt; auf seine Erfüllung folgte fast unmittelbar das Erwachen.Ich fände kein Ende, ließe ich mich auf eine ausführliche Aufzählung aller Thorheiten ein, welche mich der Gedanke an die liebe Mama, sobald ich nicht unter ihren Augen weilte, begehen ließ. Wie oft habe ich mein Bett geküßt, weil ich mir vorstellte, daß sie darin gelegen, wie oft meine Vorhänge, alle Möbel meines Zimmers, bei dem Gedanken, daß sie ihr gehörten, daß ihre schöne Hand sie berührt hatte, ja selbst den Fußboden, auf den ich mich in der Vorstellung, daß sie darüber hingeschritten, niederstürzte! Mitunter ließ ich mich sogar in ihrer Gegenwart zu Thorheiten hinreißen, zu welchen dem Anscheine nach nur die heftigste Liebe den Antrieb geben konnte. Eines Tages rufe ich bei Tische in dem Augenblicke, als sie eben einen Bissen in den Mund gesteckt, daß ich ein Haar an ihm gesehen hätte; kaum hat sie ihn auf ihren Teller zurückgeworfen, so erhasche ich ihn gierig und verschlinge ihn. Mit einem Worte, zwischen mir und dem leidenschaftlichsten Liebhaber gab es nur einen einzigen, aber höchst wesentlichen Unterschied, der meinen Zustand für die Vernunft beinahe unbegreiflich macht.
Ich war von Italien nicht völlig so, wie ich hingegangen, zurückgekehrt, wie man jedoch in meinem Alter vielleicht noch nie von dort zurückgekehrt ist. Ich hatte nicht meine Jungfräulichkeit zurückgebracht, mich aber doch körperlich unbefleckt erhalten. Die mit den Jahren fortschreitende Reife hatte sich mir fühlbar gemacht; meine Sinnlichkeit hatte sich endlich offenbart, und ihr erster, sehr unabsichtlicher Ausbruch hatte mich hinsichtlich meiner Gesundheit in eine Unruhe versetzt, die besser als alles andere die Unschuld zu erkennen giebt, in der ich bis dahin gelebt hatte. Bald wieder beruhigt, lernte ich jenen gefährlichen Ausweg kennen, welcher die Natur irreführt und junge Leute meiner Natur auf Kosten ihrer Gesundheit, ihrer Kraft und zuweilen ihres Lebens vor vielen Ausschweifungen bewahrt. Dieses Laster, welches die Scham und die Schüchternheit so bequem finden, hat für lebhafte Phantasien noch einen großen Reiz mehr, den, gleichsam über das ganze Geschlecht nach eigenem Belieben zu verfügen und jede Schönheit, die sie mit Begierde erfüllt, ihrer Lust dienstbar zu machen, ohne erst ihre Einwilligung nöthig zu haben. Von diesem traurigen Vortheile verführt, war ich damit beschäftigt, den gesunden Körper zu zerrütten, den mir die Natur geschenkt und dem ich Zeit gegeben hatte, kräftig zu gedeihen. Denke man sich zu diesem bösen Hange noch den Schauplatz, auf dem ich mich bewegte, im Hause einer schönen Frau, während ich ihr Bild in der Tiefe meines Herzens trug, sie am Tage unaufhörlich sah, am Abende von Gegenständen, die mich an sie erinnerten, umgeben war, und in einem Bette schlief, in welchem, wie ich wußte, auch sie gelegen hatte. Welche Reizungen! Mancher Leser, der sie sich vergegenwärtigt, wird mich schon als halbtodt betrachten. Ganz im Gegentheile, was mich hätte ins Verderben stürzen sollen, rettete mich auf einige Zeit. Berauscht von der Wonne, an ihrer Seite leben zu können, von dem glühenden Verlangen, alle meine Tage bei ihr zuzubringen, erblickte ich, ob ich bei ihr weilte oder fern von ihr war, in ihr stets eine zärtliche Mutter, eine geliebte Schwester, eine liebenswürdige Freundin und nichts weiter. Ich sah sie stets so, stets die nämliche, und sah nichts als sie. Ihr Bild, das meinem Herzen immerdar gegenwärtig war, gönnte keinem anderen darin Platz. Sie war für mich die einzige Frau, die es auf Erden gab, und da die ungemeine Süßigkeit der Gefühle, die sie mir einflößte, meiner Sinnlichkeit nicht die Zeit ließ, sich für Andere zu erregen, schützte sie mich vor ihr selber und ihrem ganzen Geschlechte. Kurz, ich war keusch, weil ich sie liebte. Möge nach diesen Wirkungen, die ich nur flüchtig andeute, wer es im Stande ist, sagen, welcher Art mein Verhältnis zu ihr war. Alles, was ich für meine Person darüber sagen kann, ist, daß wenn es jetzt schon sehr außergewöhnlich zu sein scheint, es später diesen Anschein noch weit mehr erhalten wird.
Bekenntnisse 3. Buch
Bekenntnisse Buch 2 und 3 bei Gutenberg.de
Zulietta oder »Zanetto, lascia le donne, et studia la matematica.«
Wenn es in meinem Leben einen Umstand giebt, der als ein treues Bild meines Charakters dienen kann, so ist es der, welchen ich zu erzählen im Begriff stehe. Die Klarheit, mit der ich mir in diesem Augenblicke den Zweck meines Buches vergegenwärtige, wird mich hier über alles falsche Schicklichkeitsgefühl hinwegsetzen, das mich von der Erfüllung desselben zurückhalten könnte. Wer ihr auch sein möget, die ihr einen Menschen vollkommen kennen lernen wollt, leset dreist die folgenden zwei oder drei Seiten; ihr werdet einen genauen Einblick in Jean Jacques Rousseau's Charakter gewinnen.
Ich trat in das Zimmer einer Courtisane wie in das Heiligthum der Liebe und der Schönheit; ich glaubte deren Gottheit in ihrer Person zu erblicken. Nie hätte ich geglaubt, daß man ohne Ehrfurcht und Achtung solche Empfindungen, wie sie sie mir einflößte, haben könnte. Kaum hatte ich bei den ersten Vertraulichkeiten den Werth ihrer Reize und Liebkosungen erkannt, als ich mich aus Furcht, ihre Frucht schon vorher zu verlieren, beeilen wollte, sie zu pflücken. Aber anstatt der Flammen, die mich verzehrten, fühle ich plötzlich eine tödtliche Kälte durch meine Adern fließen, meine Beine beginnen zu zittern, und, krankhaft erregt, setze ich mich nieder und weine wie ein Kind.
Wer würde wohl die Ursache meiner Thränen und das, was mir in diesem Augenblicke durch den Kopf ging, errathen können? Ich sagte mir: dieses Mädchen, das sich mir willenlos hingiebt, ist das Meisterwerk der Natur und der Liebe; Geist, Körper, alles in ihm ist vollendet; es ist eben so gut und edelmüthig, wie es liebenswürdig und schön ist; die Großen, die Fürsten müßten seine Sklaven sein; die Scepter müßten zu seinen Füßen liegen. Und trotzdem ist es eine elende liederliche Dirne, für jeden käuflich; der Kapitän eines Kauffahrteischiffes verfügt über dasselbe; es wirft sich mir an den Kopf, mir, der, wie es weiß, nichts besitzt, mir, dessen Werth, den es nicht zu erkennen vermag, in seinen Augen nichtig sein muß. Es liegt darin etwas Unbegreifliches. Entweder täuscht mich mein Herz, bezaubert meine Sinne und überliefert mich den Fallstricken einer unwürdigen Vettel, oder irgend ein geheimer mir unbekannter Fehler muß die Wirkung der Reize des Mädchens zerstören und diejenigen mit Widerwillen gegen dasselbe erfüllen, welche es sich streitig machen müßten. Mit einer merkwürdigen Anstrengung des Geistes begann ich nun diesen Fehler zu suchen, und es kam mir nicht einmal in den Sinn, daß er in einer venerischen Krankheit liegen könnte. Die Frische ihrer Haut, der rosige Anhauch ihrer Gesichtsfarbe, das blendende Weiß ihrer Zähne, die Reinheit ihres Odems, die über ihre ganze Person gebreitete Sauberkeit hielten mir diesen Gedanken so fern, daß ich, seit der Padoana noch immer im Zweifel über meinen Gesundheitszustand, eher darüber unruhig war, ob auch ich für sie gesund genug wäre; und ich bin völlig überzeugt, daß mich mein Vertrauen in dieser Hinsicht nicht täuschte.
Diese so rechtzeitig angebrachten Ueberlegungen regten mich dergestalt auf, daß mir die Thränen aus den Augen strömten. Zulietta, welcher dies sicherlich ein in dieser Lage ganz neues Schauspiel war, wurde einen Augenblick betreten. Aber nachdem sie einmal einen Gang durch das Zimmer gemacht und dabei an ihrem Spiegel vorübergeschritten war, begriff sie, und meine Augen bestätigten es ihr, daß Widerwille an dieser Grille keinen Antheil hätte. Es wurde ihr nicht schwer, dieselbe zu verscheuchen und diese kleine Beschämung zu vergessen; aber als ich eben in Begriff stand, ermattet auf diesen Busen zu sinken, der zum ersten Male den Mund und die Hand eines Mannes zu dulden schien, gewahrte ich, daß ihre eine Brust keine Warze hatte. Ich erschrecke, sehe genau hin und glaube zu bemerken, daß diese Brust nicht wie die andere gebildet ist. Sofort sinne ich nach, wie man eine Brust ohne Warze haben könne, und überzeugt, daß es von irgend einem bedeutenden Naturfehler herrühren müßte, hänge ich diesem Gedanken so lange nach, bis es mir klar wie der Tag wird, daß ich in der reizendsten Person, die ich mir vorzustellen vermochte, nur eine Art Ungeheuer in meinen Armen hielt, den Abschaum der Natur, der Menschen und der Liebe. Ich trieb die Dummheit so weit, von dieser warzenlosen Brust mit ihr zu reden. Anfangs nahm sie die Sache scherzhaft auf, und in ihrer muthwilligen Laune sagte und that sie Dinge, daß mich die Liebe hätte tödten müssen; da aber noch immer ein Rest von Unruhe in mir zurückgeblieben war, den ich ihr nicht verheimlichen konnte, sah ich, wie sie endlich erröthete, ihre Kleider wieder in Ordnung brachte, sich erhob und sich, ohne ein einziges Wort zu sagen, an das Fenster setzte. Ich wollte mich an ihre Seite setzen, sie entfernte sich, ließ sich auf einem Ruhebette nieder, stand schon den nächsten Augenblick wieder auf, und indem sie sich Luft zufächelnd im Zimmer auf und ab ging, sagte sie zu mir mit kaltem und verächtlichem Tone: »Zanetto, lascia le donne, et studia la matematica.«
Ehe ich sie verließ, bat ich sie um eine Zusammenkunft am nächsten Tage, die sie auf den dritten Tag verschob, indem sie mit einem ironischen Lächeln hinzufügte, Ruhe müßte mir ja ein Bedürfnis sein. Ich verbrachte diese Zeit in großer Unruhe, das Herz voll von ihren Reizen und ihrer Anmuth. Ich war mir meiner Albernheit bewußt und machte sie mir zum Vorwurfe, bedauerte die so übel angewandten Augenblicke, die ich zu den süßesten meines Lebens hätte machen können und sehnte mit lebhaftester Ungeduld die Stunde herbei, wo ich das Verlorene wieder gut machen könnte, und nichtsdestoweniger noch immer unruhig, wie sich die unvergleichlichen Eigenschaften dieses anbetungswürdigen Mädchens mit der Unwürdigkeit ihres Gewerbes in Einklang bringen ließen. Ich lief, ich flog zu der verabredeten Stunde zu ihr. Ich weiß nicht, ob ihr feuriges Temperament mit diesem Besuche zufriedener gewesen wäre, ihr Stolz wenigstens zuverlässig, und ich fand schon im voraus einen köstlichen Genuß darin, ihr auf alle Weise zu zeigen, wie ich mein Unrecht wieder gut zu machen wüßte. Sie ersparte mir diesen Beweis. Der Gondolier, den ich nach der Landung zu ihr hinaufschickte, berichtete mir, sie wäre schon den Tag vorher nach Florenz zurückgereist. Wenn ich meine ganze Liebe zu ihr nicht bei ihrem Besitz empfunden hatte, so fühlte ich sie gar schmerzlich jetzt bei ihrem Verlust. Mein unverständiges Bedauern hat mich nie verlassen. So liebenswürdig und reizend sie in meinen Augen auch war, konnte ich mich über ihren Verlust zwar trösten; worüber ich mich indessen nicht beruhigen konnte, das ist, wie ich gestehe, das quälende Gefühl, daß sie nur eine verächtliche Erinnerung meiner mit fortgenommen hat.
Bekenntnisse 2. Buch 1743 – 1744
Bekenntnisse Buch 2 (1743-1744) bei Gutenberg.de
Musik
Rousseau stellt seine Notenschreibweise mit Zahlen der Akademie der Wissenschaften vor:
Bei diesem Vorfalle hatte ich Gelegenheit wahrzunehmen, wie die alleinige, aber gründliche Kenntnis einer Sache selbst einem beschränkten Kopfe eine größere Fähigkeit zu einer richtigen Beurtheilung derselben verleiht, als alle Einsicht, welche die Pflege der Wissenschaften gewährt, wenn man nicht gleichzeitig das besondere Studium, um welches es sich handelt, betreibt. [...]
Bekenntnisse 7. Buch
Er schreibt eine Oper:
Diese Gedanken an Musik und Opern tauchten während meiner Krankheit von neuem in mir auf, und in der Fieberhitze componirte ich Lieder, Duette und Chöre. Ich bin sicher, zwei oder drei Stücke di prima intenzione gemacht zu haben, vielleicht würdig der Bewunderung von Meistern, wenn sie die Aufführung derselben hätten hören können. Ach, wenn man die Träume eines Fieberkranken aufzeichnen könnte, welche große und erhabene Sachen würde man dann bisweilen aus seiner Raserei hervorgehen sehen! Diese Gedanken an Musik und Opern beschäftigten mich noch während meiner Genesung, wenn auch ruhiger. [...] Ehe ich diesmal die Hand ans Werk legte, nahm ich mir die Zeit, über meinen Plan nachzudenken. Ich entwarf den Plan zu einem heroischen Ballet, in dem ich drei verschiedene Gegenstände in drei nur lose zusammenhängenden Aufzügen, deren jeder einen besonderen musikalischen Charakter erhalten sollte, durchzuführen gedachte; und da ich zum Gegenstande eines jeden die Liebeshändel eines Dichters gewählt, so nannte ich diese Oper »Die galanten Musen.« In meinem ersten Aufzug, in kräftiger Musik gehalten, bildete Tasso den Mittelpunkt; in dem zweiten, in welchem zärtliche Melodien vorherrschten, Ovid; während der dritte, Anakreon mit Namen, die Heiterkeit des Dithyrambus athmen sollte.
Bekenntnisse 7. Buch
Gesandtschaftssekretär
Er arbeitet als Gesandtschaftssekretär des französischen Gesandten in Venedig, den er als völlig unfähig darstellt (wofür er das Urteil vieler Diplomaten zur Bestätigung anführen kann).
Ich fand Haufen von Depeschen sowohl vom Hofe wie von anderen Gesandten, von denen er die chiffrirten Theile nicht hatte lesen können, obgleich er alle dazu nöthige Schlüssel besaß. Da ich nie auf einem Bureau gearbeitet und in meinem ganzen Leben keine von dem Minister angewandten Chifferschriften gesehen hatte, fürchtete ich anfangs in Verlegenheit zu kommen. Allein ich überzeugte mich, daß nichts einfacher war, und in weniger als acht Tagen hatte ich das Ganze dechiffrirt, was wahrhaftig nicht der Mühe werth war; denn abgesehen davon, daß die Gesandtschaft in Venedig schon überhaupt nicht viel zu thun hat, war er auch nicht der Mann dazu, daß man ihm auch nur die geringste Unterhandlung hätte anvertrauen mögen. [...]
Eifersüchtig darauf, daß ein anderer seine Geschäfte verrichtete, zu denen er sich doch unfähig fühlte, warf er [der Gesandte, F44] doch seinen ganzen Groll auf den Consul, und unmittelbar nach meiner Ankunft nahm er ihm die Secretariatsgeschäfte der Gesandtschaft ab und übertrug sie mir. Sie waren von dem Titel unzertrennlich, und deshalb forderte er mich auf, ihn anzunehmen. So lange ich bei ihm war, sandte er unter diesem Titel stets nur mich an den Senat und andere Interessenten, und im Grunde war es sehr natürlich, daß er zum Gesandtschaftssecretär lieber jemand haben wollte, der von ihm allein abhängig war, als einen Consul oder einen vom Hof ernannten Bureaubeamten.[...] Alle Welt stimmte mir darin bei, daß ich gekränkt, verkürzt, um das Meine gebracht wäre, daß der Gesandte überspannt, böse und ungerecht sein müßte und ihn diese Geschichte für immer entehrte. Aber was half mir das? Er war der Gesandte und ich nur der Secretär. Die einmal bestehende Ordnung, oder was man so nennt, brachte es mit sich, daß ich keine Gerechtigkeit erlangen durfte, und ich erlangte keine. [...]Man ließ mich schreien, man ermuthigte mich sogar dazu, man stimmte ein, aber die Geschichte blieb immer auf dem nämlichen Flecke, bis ich endlich, überdrüssig immer nur Recht und nie Gerechtigkeit zu bekommen, den Muth verlor und alles aufgab. [...]
Beenden wir, um nicht mehr darauf zurückzukommen, was mir noch von Herrn Montaigu zu erzählen bleibt. Ich hatte ihm bei unsern Zwistigkeiten einmal gesagt, er hätte keinen Secretär, sondern einen Advokatenschreiber nöthig. Diesem Rathe folgte er und gab mir wirklich einen echten Advokaten, der ihn in weniger als einem Jahre um zwanzig- oder dreißigtausend Franken bestahl, zum Nachfolger. Er jagte ihn fort, ließ ihn ins Gefängnis sperren, jagte mit Lärm und Aufsehen seine Edelleute fort, gerieth überall in Zänkereien, mußte Beschimpfungen hinnehmen, die sich kein Knecht hätte gefallen lassen und mußte schließlich in Folge seiner Narrheiten abberufen werden. Man schickte ihn auf seine Güter, um seinen Kohl zu pflanzen.
Bekenntnisse 7. Buch
Lebensgefährtin
Rousseau fand seine Lebensgefährtin in Therese:
Dieses Mädchen, welches Therese Le Vasseur hieß, war von guter Familie, der Vater war Beamter an der Münze zu Orléans, die Mutter hatte ein Kaufmannsgeschäft. [...]
Als ich diese junge Dame zum ersten Male bei Tische erscheinen sah, fiel mir ihr sittsames Benehmen und noch mehr ihr lebhafter und sanfter Blick auf, wie ich nie einen ähnlichen gesehen habe. [...] Unsere gegenseitige Zuneigung nahm bald den gewöhnlichen Verlauf. Sie glaubte in mir einen redlichen Mann zu erkennen; sie täuschte sich nicht. Ich meinerseits glaubte in ihr ein gefühlvolles und einfaches Mädchen, welches frei von Gefallsucht war, zu erkennen und täuschte mich eben so wenig. Ich erklärte ihr von vorn herein, ich würde sie nie verlassen, aber auch nie heirathen. [...] Anfangs hatte ich mir nur einen Genuß zu verschaffen gesucht. Ich sah, daß ich mehr als dies, daß ich eine Lebensgefährtin in ihr gefunden hatte. [...]
Anfangs beabsichtigte ich, ihren Geist zu bilden: meine Mühe war verloren. Ihr Geist ist, wie ihn die Natur gemacht hat; Bildung und Pflege wurden ihm nie zu Theil. [...] Dieses Verhältnis machte mir jede andere Zerstreuung überflüssig und werthlos. Ich ging nur noch aus, um Therese zu besuchen; ihre Wohnung wurde fast die meinige. Dieses zurückgezogene Leben war für meine Arbeit so förderlich, daß meine ganze Oper, Text wie Musik, in weniger als drei Monaten fertig war.
Bekenntnisse 7. Buch
weitere Ausschnitte
- Abhandlung über die Wissenschaften und Künste
- Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen
- Julie oder die neue Héloise
- Gesellschaftsvertrag
- Emile
Freunde/Feinde:
Selbstreflexionen Rousseaus:
- Erklärung seiner Darstellungsweise
- Denk- und Arbeitsweise
- Ungeschick im Gespräch
- Fußreisen beleben die Gedanken
- Sein Verhältnis zu Frauen
Text
Meinung
Anmerkungen
Linkliste
Weitere Textausschnitte:
- Blogartikel mit themenbezogenen Ausschnitten aus den "Bekenntnissen" (Werke, Personen, Rousseaus Weise zu denken und zu schreiben)
Texte über Die Bekenntnisse: