Aeneis

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Die Aeneis ist ein Epos von Vergil, das zum römischen Nationalepos wurde. Es handelt auf der Grundlage früherer Darstellungen von der Flucht des Aeneas nach dem Fall Trojas und seiner Mission, in Italien ein neues Reich zu begründen. Sie hat mit Homers Odyssee die Irrfahrten des Helden gemeinsam, mit Homers Ilias die Kämpfe.

Das Epos von etwa 10 000 Hexamtern ist unvollendet geblieben. Vergil hat der Überlieferung nach sogar angeordnet, es deshalb zu vernichten (obwohl er 10 Jahre lang daran gearbeitet hatte). Auf Wunsch des Kaisers Augustus wurde es dann veröffentlicht, durfte jedoch nicht verändert oder vervollständigt werden.

Aeneis. Ausgabe von 1788

Inhalt

1. Gesang: Aeneas landet nach einem Seesturm, den er dem Zorn der Juno verdankt, an der Küste Karthagos. Dort wird er von Königin Dido gastlich aufgenommen.

2. Gesang: Aeneas erzählt Dido vom Untergang Trojas.

3. Gesang: Er berichtet von seinen Irrfahrten. Thrakien, Delos wo er das Orakel befragt und aufgefordert wird, die antiqua mater („alte Mutter“) aufzusuchen; dort werde er für seine Nachfahren die Grundlage zur Weltherrschaft legen. Aufgrund eines Missverständnisses fahren sie daher nach Kreta. Dort erhält er im Traum den Auftrag nach Italien zu fahren. Durch einen Sturm werden sie auf die Strophaden verschlagen, wo sie mit den Harpyien kämpfen müssen. Dann gelangen sie nach Actium, wo Aeneas Wettspiele veranstaltet.[1] In Buthrotum, wo der Trojaner Helenus, ein Sohn des Priamus, herrscht, treffen sie auch Andromache, die Witwe Hektors. Auch hier holt Aeneas den Rat des Gottes Apoll ein. Auf der Weiterfahrt geraten sie auf der Straße von Messina zwischen Scylla und Charybdis und von dort zu den Kyklopen. Schließlich erreichen sie Sizilien, wo Anchises, der Vater des Aeneas, stirbt. Bei der Weiterfahrt werden sie an die afrikanische Küste verschlagen, wo Dido herrscht.

4. Gesang: Dido verliebt sich in Aeneas. Von Venus und Juno kommt es zur Vereinigung mit Aeneas. Darauf leben beise zusammen, ohne jedoch verheiratet zu sein. Auf einen Auftrag Jupiters hin reist Aeneas ab und Dido gibt sich verzweifelt den Tod.

5. Gesang: Aeneas veranstaltet auf Sizilien Festspiele.

6. Gesang: Aeneas erreicht die Westküste Italiens, sucht die Sibylle von Cumae auf und besucht mit ihr die Unterwelt. Dort trifft er Anchises wieder, der ihm von den Leistungen seiner Nachfahren in Rom berichtet.

7. Gesang: Aeneas landet in Latium. Nach zunächst freundlicher Aufnahme muss er gegen Turnus, den Fürsten der Rutuler, kämpfen, der, von Juno aufgehetzt, zu seinem Rivalen um Lavinia, die Tochter des Latinuns wird.

8. Gesang: Aeneas sucht auf Ratschlag eines Gottes Verbündete und erhält von seiner Mutter Venus einen von Vulcanus gefertigten Schild, auf dem wichtige Ereignisse der römischen Geschichte dargestellt sind.

9. Gesang: Turnus greift die von Aeneas verlassenen Trojaner an und dringt allen voran ins trojanische Lager ein. Dort findet er sich aber allein und muss sich durch einen Sprung in den Tiber retten.

10. Gesang: Nach einer Götterversammlung entscheidet Jupiter, dass die Götter nicht mehr in die Kämpfe eingreifen, sondern dem Schicksal seinen Lauf lassen sollen. Jetzt sind die Trojaner erfolgreich, doch fällt der junge Pallas, den Aeneas sehr schätzt, im Kampf gegen Turnus.

11. Gesang: Nach einem Waffenstillstand greift die amazonenhafte Kriegerin Camilla auf der Seite der Rutuler ein.

12. Gesang: Noch einmal hilft Juno dem Turnus. Doch im entscheidenden Zweikampf siegt Aeneas. Er will schon Milde walten lassen, da erinnert er sich an den Tod von Pallas und tötet deshalb in einem Zornesanfall Turnus.

Textausschnitte

Göttergespräche

Venus und Jupiter

Nahte betrübt und genetzt die glänzenden Augen von Wehmut,
Venus und sprach: O der du, was Sterbliche schaffen und Götter,
Lenkst durch ewige Macht und mit donnerndem Strahle sie schreckest,
Was hat mein Äneas an dir so Großes zu freveln,
Was die Troer vermocht: daß, nach so viel Wehe den Duldern
Ganz noch der Erd' Umkreis Italias wegen gesperrt wird?
Dorther würden Romaner dereinst, mit den kreisenden Jahren,
Dorther Führer entstehn aus erneuetem Blute des Teucrus[2],
Welche mit Allherrschaft durch Meer und Länder geböten,
Sagtest du. Welch ein Entschluß hat dich, o Erzeuger, gewendet?
Hieraus, wann mich betrübte der Fall der gesunkenen Troja,
Schöpft' ich Trost, abwägend das Schicksal gegen das Schicksal.
Jetzo verfolgt die so lange mit Unglück ringenden Männer
Stets Unglück. Wann setzst du ein Ziel, Weltherrscher, dem Elend?
Konnte ja doch Antenor[3], dem Schwarm der Achiver[4] entronnen,
Tief zur illyrischen Bucht und dem innersten Reich der Liburner[5]
Eingehn ohne Gefahr und umlenken den Quell des Timavus[6], :
Wo er, mit dumpfem Getöse des Bergs, neun Schlünden entrollend,
Geht zu brechen das Meer und den Schwall an die Felder emporbraust.
Dennoch gründete jener Pataviums Stadt und der Teucrer[7],
Wohnungen dort, gab Namen dem Volk und weihete Trojas
Rüstungen; Friede nunmehr und behagliche Ruhe beglückt ihn.
Wir, dein eignes Geschlecht, die zur himmlischen Burg du erhöhn willst,
Werden der Schiff' (o entsetzlich!) beraubt und dem Zorne der Einen
Bloß gestellt und so weit von den Italerlanden entfernet.
Das ist der Frömmigkeit Lohn? so kehrt uns wieder die Herrschaft?

Ihr nun lächelte mild der Menschen und Ewigen Vater,
So wie sein Antlitz Himmel und Witterungen erheitert,
Und sanft naht' er der Tochter zum Kuß, dann redet er also:
Banne die Furcht, Cytherea[8]; dir bleibt der Deinigen Schicksal
Stets unverrückt; schaun wirst du die Stadt und Laviniums Mauern,
Die ich verhieß, und erheben den großgesinnten Äneas
Hoch zu dem Äthergestirn; nicht hat mein Entschluß sich geändert.
Er (denn ich kündige dir's, weil noch die Sorge dich naget,
Und aus der Fern' aufroll' ich die dunkelen Gänge des Schicksals)
Führt einst schrecklichen Krieg in Italia, trotzige Völker
Bändigt er und ordnet Gesetz und Mauern den Männern:
Bis drei Sommer den König in Latium walten gesehen,
Und dreimaliger Frost dem bezwungenen Rutuler[9] hinfloh.
Aber Ascanius[10] drauf, der jetzt den Namen Iulus
Führet, Ilus vordem, als machtvoll Ilios herrschte,
Wird durch dreißig Kreise der monatrollenden Jahre
Weit das Gebiet ausdehnen und weg vom Sitze Lavinums
Heben das Reich zur langen mit Kraft befestigten Alba.
Drei Jahrhunderte nun wird dort verwaltet die Herrschaft
Vom hectorischen Stamm, bis die Priesterin, Tochter des Königs,
Ilia, schwanger von Mars, ein Zwillingspaar auf die Welt bringt.
Froh mit gelblicher Hülle der säugenden Wölfin sich deckend,
Wird nun Romulus erben das Volk und mavortische Mauern
Aufbaun und die Romaner nach eigenem Namen benennen.
Deren Gewalt soll weder ein Ziel mir engen noch Zeitraum;
Endlos daure das Reich, das ich gab. Ja die eifernde Juno,
Die nun Meer und Länder mit Furcht und den Himmel beängstigt,
Wird zum Besseren wenden das Herz und begünstigen gleich mir
Romas Volk, die Gebieter der Welt, die Togaumwallten.
Also gefällt's. Einst kommt mit den schlüpfenden Zeiten das Alter,
Wann des Assaracus Haus der berühmten Mycen' und der Phthia
Knechtisches Joch auflegt und siegreich schaltet in Argos.
Dann aus schönem Geschlecht wird blühn der trojanische Cäsar,
Der zu den Sternen den Ruhm, zum Oceanus dehnet die Herrschaft.
Julius, also benannt vom edelen Ahnen Iulus.
Diesen mit östlicher Beute Beladenen wirst du gesichert
Einst im Himmel empfahn; dann rufen auch ihm die Gelübde.
Jetzt wird, ruhend vom Streit, das rauhere Alter sich mildern.
Vesta, die grauende Treu, und Remus vereint mit Quirinus,
Geben Gesetz. Doch gesperrt mit Eisen und zwängenden Klammern
Stehn die gräßlichen Pforten des Kriegs; wild drinnen auf Waffen
Sitzet die frevelnde Wut, wo in hundert ehernen Fesseln
Jen' auf den Rücken geschnürt, graunvoll knirscht blutigen Mundes.
Juppiter sprach's, und er sendet den Sohn der Maja vom Himmel,
Daß sich öffnen die Land' und die Burg der neuen Carthago
Gastlich dem teucrischen Volk, und nicht, unkundig des Schicksals,
Dido die Grenze verwehr'. Er entfleugt durch die luftigen Räume
Mit hinrudernder Schwing' und betritt schnell Libyas Ufer.

(Aeneis, erster Gesang)

Hier formuliert Vergil einen GründungsmythosWikipedia-logo.png für Rom, der vor die Gründungssage von Romulus und RemusWikipedia-logo.png zurückgeht.

Venus zu Amor

Neue List nun planet in sinnender Brust Cytherea,
Neuen Entwurf: daß Cupido, Gestalt umtauschend und Antlitz,
Statt des süßen Ascanius komm', und mit Gaben zu Wahnsinn

Zünde der Königin Herz und Glut ihrem Herzen entflamme.
Denn das schlüpfrige Haus, zweizüngige Tyrier scheut sie;
Qual ist die trotzige Juno; es kehrt mit den Nächten der Kummer.
Darum redet sie nun dies Wort zum geflügelten Amor:
Sohn, mir einzige Kraft, o allein du große Gewalt mir,

Sohn, der des oberen Zeus typhoische Blitze verachtet,
Dir nun nah' ich mit Flehn und bitt' um dein göttliches Wesen.
Wie dein Bruder Äneas im Meer um alle Gestade
Wogt und irrt, durch den Zorn der unbarmherzigen Juno,
Ist dir bekannt, nicht selten betrübte dich meine Betrübnis.

Den hält Dido nunmehr, die Phönicerin, fesselnd in holder
Schmeichelred', und mir graut, wohin sich wende der Juno
Gastfreundschaft; nicht säumt sie fürwahr in so großer Entscheidung.
Drum mit Listen zu fahn und rings zu umhegen mit Feuer
Denk' ich die Fürstin zuvor, daß keinerlei Macht sie verändre,

Sondern sie fest anhange mit mir dem geliebten Äneas.
Wie das schaffen du mögest, vernimm jetzt meine Gesinnung.
Zu der sidonischen Stadt, auf den Ruf des teueren Vaters,
Trachtet der fürstliche Knabe zu gehn, mein trautester Liebling,
Bringend Geschenk, das vom Meer und Trojas Flamme verschont ward.

Ihn, in betäubendem Schlaf zu Idalions oder Cytheras
Luftigen Höhen entführt, verberg' ich in heiliger Wohnung,
Daß nicht merken er könne die List, noch begegnen zur Unzeit.
Du, nur die einzige Nacht erkünstele seine Gestalt dir
Trüglich und schlüpfe vertraut als Knab' in des Knaben Geberde:

Daß, wenn dich auf dem Schoß sie empfängt, die fröhliche Dido,
Unter dem Königsmahl und dem feurigen Trank des Lyäus,
Wenn sie hold dich umarmt und zärtliche Küsse dir aufdrückt,
Du die verborgene Glut einhauchst, und dein Gift sie berücke.

(Aeneis, erster Gesang)

Juno und Venus

Juno bemerkt, dass Dido der Liebe zu Aeneas nicht widerstehen kann.

Als von solchem Verderb sie bewältiget sahe die Gattin
Juppiters, und daß sogar nicht Leumund störe den Wahnsinn;
Naht mit solcherlei Rede Saturnia jetzo der Venus:

Traun, ein herrliches Lob und herrliche Beute gewannt ihr,
Du und dein Junge mit dir! O groß und erhaben die Obmacht,
Wenn ein Weib durch den Trug zwei himmlischer Götter besiegt wird!
Auch nicht blieb mir verhehlt, daß, scheu vor unseren Mauern,
Du in Verdacht die Häuser gehabt der hohen Karthago.
Doch wo endlich das Ziel? und wozu noch solche Beeifrung?
Mög' uns ewiger Friede vielmehr und ehliches Bündnis
Einigen. Was du gesucht mit ganzer Seele, das hast du.
Dido flammet in Lieb', und im Innersten tobt ihr der Wahnsinn.
Drum mit gleicher Gewalt laß uns und gemeinsamer Obhut
Lenken das Volk. Gern mag sie dem Phrygiergatten sich fesseln,
Gern die tyrischen Männer zum Brautschatz bringen dir selber!

Wiederum (denn sie merkte, wie heuchlerisch jene geredet,
Daß sie der Italer Reich ablenkt' auf libysche Küsten)
Redete Venus darauf: O sinnlos wäre, wer solches
Weigerte, oder sich wählte, mit dir im Kampfe zu eifern.
Wenn nur, so wie du sagst, das Geschehene Segen begleitet.
Aber mich halt das Geschick unstät, ob Juppiter eine
Stadt für die Tyrier will und die Ausgewanderten Trojas,
Ob er der Völker Verein und geschlossenes Bündnis genehmigt.
Dir, der Gattin, gebührt, sein Herz durch Flehn zu versuchen.
Frisch nur; ich folg'. – Ihr drauf antwortet die Königin Juno:
Mein sei jenes Geschäft. Doch welcherlei Weg, was bevorsteht,
Auszuführen sich bahne, vernimm mit wenigem jetzo.
Morgen gedenkt mit Äneas die unglückselige Dido
Jagen zu gehn in den Forst, sobald aus tagender Dämmrung
Neu sich Titan erhebt und mit Glanz umstrahlet den Erdkreis.
Dann ein schwarzes Gewölk, mit Hagelschauer belastet,
Weil die geschäftigen Rotten die Thal' umstellen mit Fanggarn,
Schütt' ich hinab und errege mit hallendem Donner den Himmel.
Rings sich zu bergen entfliehn in den dunkelen Wald die Begleiter.
Dann zur selbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter
Trojas ein. Selbst komm' ich, und ist dein Wille mir sicher,
Sei sie in Ehe gesellt, als eigene Ehegenossin.
Dies sei das Hochzeitsfest. – Nicht abgeneigt dem Gesuche
Nickt' und lächelte schlau der gefundenen List Cytherea.

(Vierter Gesang)

Götterversammlung

Aufgetan wurde indes der Palast des Olympus, wo Allmacht
waltet. Zur Ratssitzung lud der Vater der Götter und Menschen
hoch zu dem Sternenthron, wo er die Welt überschaut und zur Stunde
auch das dardanische Lager erblickte und Latiums Völker.
Nunmehr begann er im beiderseits offenen Saale zu sprechen:
»Warum, ihr mächtigen Himmelsbewohner, wurdet ihr wieder
anderen Sinnes und streitet euch derart erbittert? Ich wünschte,
daß ihr am Kriege Italiens gegen die Troer nicht teilnehmt!
Warum jetzt Zwietracht entgegen der Weisung? Welche Befürchtung
riet euch, Partei zu ergreifen und blutige Kämpfe zu schüren?
Kämpfen schon wird man zur richtigen Zeit – ihr bleibt aus dem Spiele!
Wenn einst Karthago den römischen Burgen in wütendem Grolle
tödliches Unheil bringt und über die Alpen sie angreift,
gilt es, zu streiten voll Haß und in glühendem Eifer zu kämpfen.
Heute beruhigt euch, schließt zu eurer Freude das Bündnis!«

Jupiters knapper Erklärung entgegnete wortreich die goldne Venus:
»Vater, in Ewigkeit Herrscher der Welt und des Menschengeschlechtes –
keine Gewalt sonst gäbe es, die wir noch anflehen könnten! –,
siehst du die Rutuler höhnisch sich tummeln und Turnus inmitten
seiner Gefährten auf stolzem Gespann voranpreschen, voller
Übermut durch den Erfolg? Kein Festungsbau schützt mehr die Teukrer,
sondern im Innern des Lagers sogar und zwischen den Schanzen
toben die Kämpfe, die Gräben triefen vom Blute. Aeneas
weilt in der Ferne, er ahnt nichts. Gönnst du den Troern denn niemals
Ruhe vor harter Belagerung? Wieder bedrohen schon Feinde
Mauern des künftigen Troja, ein Heer umringt sie schon wieder.
Wiederum rückt, vom ätolischen Arpi, der Held Diomedes
gegen die Teukrer. Vielleicht verwundet er mich noch zum zweiten
Male, ich soll wohl, dein Kind, die Waffen von Menschen verspüren!
Zogen die Troer ohne dein Wohlwollen, gegen dein Streben
bis nach Italien, sollen sie büßen dafür, du verweigre
ihnen die Hilfe. Doch folgten sie derart vielen Orakeln
seitens der Götter und Manen – weswegen dürfte dann einer
deine Befehle jetzt umstoßen, neue Geschicke verhängen?
[...] Vater: Lasse Ascanius wohlbehalten den schweren
Krieg überstehen, lasse doch meinen Enkel am Leben!
[...] Lasse Karthago
über Ausonien[11] gewaltsam herrschen, es droht ja von dorther
tyrischen Städten kein Widerstand. Wozu entrannen die Teukrer
feindlichen Schwertern, entgingen dem Brand, den die Griechen gestiftet,
mußten zu Wasser, zu Lande auch weithin so viele Gefahren
ausstehen auf der Suche nach Latium, einem ganz neuen
Pergamon? [...]«

Da rief die Herrscherin Juno,
rasend vor Wut: »Du zwingst mich, mein tiefes Schweigen zu brechen,
kaum erst vernarbte Wunden aufs neue bluten zu lassen!
Nötigte wirklich ein Sterblicher oder ein Gott den Aeneas,
Kriege zu führen und feindlich zu handeln an König Latinus?
›Doch nach Italien zog er auf Weisung des Schicksals‹ – natürlich,
fügsam dem Wahnsinnsgeschwätz der Kassandra! Veranlaßte etwa
ich ihn, sich ferne dem Lager den Sturmwinden anzuvertrauen?
[...] Führte ich etwa den Troer nach Sparta, die Ehe zu schänden,
lieferte Waffen und schürte den Kampf durch Einsatz Cupidos?
Hättest du dich doch damals gesorgt um die Deinen – zu Unrecht
führst du jetzt Klage, nichts richtest du aus mit deinem Gezeter!«

Derart verteidigte Juno ihr Handeln. Die Himmlischen alle
äußerten teilweise Beifall, teils Ablehnung, so wie ein Windhauch
anfangs in Bäumen sich fängt und zu rauschen beginnt, dann zu dumpfem
Grollen sich steigert, für Seeleute Anzeichen nahenden Sturmes.

Jupiter erklärt sich als unparteiisch

Doch der allmächtige Vater, der höchste Beherrscher des Weltalls,
gab die Entscheidung bekannt – da versanken in Schweigen der hohe
Götterpalast, die erschütterte Erde, hoch droben der Äther,
legte der Zephyr sich, brachte das Meer die Wogen zur Ruhe:
»Nehmt jetzt zur Kenntnis mein Wort und prägt es euch tief ins Gedächtnis!
Da sich Ausonier und Teukrer noch nicht in friedlichem Bündnis
einigen dürfen und euer erbittertes Streiten nicht aufhört,
handle heut jeder nach seinem Schicksal und seiner Erwartung,
Troer wie Rutuler, keinerlei Unterschied lasse ich gelten,
ist nun die Festung bedrängt, weil das Schicksal Italien begünstigt,
oder weil Troja zum Unglück sich irrt und Orakel mißdeutet.
Auch für die Rutuler gilt das. Schaffe ein jeder sich Kummer
oder Erfolg auch. Jupiter herrscht gleichmäßig für alle.
Bahne das Schicksal die Wege!« Beim Strome des stygischen Bruders,
der mit pechschwarzen Wirbeln zwischen den Ufern dahinbraust,
leistete nickend den Schwur er und ließ den Olympus erzittern.
Damit schloß die Beratung. Der Vater erhob sich vom goldnen
Thron, ihn umringten die Götter und gaben Geleit ihm zum Ausgang.

(Zehnter Gesang, S.381-84)

Der Bericht des Aeneas

Jetzo fürwahr schien ganz mir hinabzusinken in Feuer
Ilium, und aus dem Grunde gewühlt die neptunische Troja:
Wie, wenn hoch in Gebirgen die stattlichste Orne der Vorzeit
Rings mit Eisen umhaun und schmetternden Äxten, und eifernd
Jetzt aus der Erd' aufwühlen die Ackerer, wie sie beständig
Droht und erbebt an den Ästen, und schwankt mit taumelndem Wipfel;
Bis, von entwurzelnden Wunden besiegt allmählich, noch einmal
Laut sie erseufzt und schmetternd, den Höhn entrottet, hinabkracht.
(Zweiter Gesang)

Didos Liebe zu Aeneas

Von Amor mit einseitiger Liebe zu Aeneas verzaubert, wird Dido 'unsinnig'.

Brennend ihr Herz, durchschweift sie, die unglückselige Dido,
Hastig die Stadt, gleichwie von geschnelletem Pfeile die Hindin,
 
Welche von fern unvermutet ein Hirt in den cretischen Wäldern
Traf mit verfolgendem Pfeil, und das fliegende Eisen zurückließ,
Ohn' es zu schaun; die Gehölz' in der Flucht und die Thale des Dicte
Rennt sie hindurch; fest haftet das tödliche Rohr in der Seite.
Jetzo führt sie gesellt durch die Gassen einher den Äneas,
Zeigt die sidonische Pracht und zeigt die bereitete Stadt ihm;
Auszusprechen beginnt sie und stockt in der Mitte des Wortes.
Jetzo, sobald sich neiget der Tag, sucht jene das Gastmahl;
Dann die ilischen Kämpf', – Unsinnige! – wieder zu hören,
Fordert sie, ach und hängt an dem Mund des Erzählenden wieder.
[...]
Nicht mehr steigt den Türmen der Bau; nicht übet die Jugend
Waffen hinfort; nicht Hafen, noch sichere Wehren des Anfalls
Schaffen sie; mitten gehemmt ruht jegliches Werk, und der Mauern
Hoch aufstrebender Trotz und die himmelhohen Basteien.
 
Als von solchem Verderb sie bewältiget sahe die Gattin
Juppiters, und daß sogar nicht Leumund störe den Wahnsinn [...]

Von zwei Göttinnen vorbereitet kommt es zu Vereinigung.

Dann zur selbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter
Trojas ein. Gleich sandte die Erd' und die schleiernde Juno
Zeichen: die flammenden Blitz', und, des Bunds mitkundig, der Äther,
Leuchteten: hoch von dem Scheitel erscholl Wehklage der Nymphen.
Jener Tag war des Todes Beginn, ach jener des Unglücks
Erster Beginn. Es rühret nicht Ruf sie ferner, noch Anstand;
Und nicht heimliche Freuden ersinnt die schmachtende Dido:
Ehe nennt sie es; so wird Schuld durch Namen beschönigt.

Ohne Verzug geht Fama [die Göttin des Gerüchts] durch Libyas mächtige Städte:
Fama, behende von Schwung, wie sonst kein anderes Scheusal.
[...]

Jupiter erhört ein Gebet

Wer einem Gott opfert, kann von ihm auch erwarten, dass der sich dann seiner Wünsche annimmt.

Stracks nun lenkt sie [Fama] den Lauf zum herrschenden König Iarbas,
Und sie entflammt durch Reden das Herz und stachelt den Zorn ihm.
Ammons Sohn und der Nymphe, die jener geraubt, Garamantis,
Hatt' er im weiten Gebiet dem Juppiter zahlreiche Tempel,
Viele Altäre gebaut, und ewige Flammen geheiligt,
Und nie rastende Wache der Himmlischen, immer von Blut auch
Feisten Grund, und in schönem Geflecht stets blühende Schwellen.
Dieser, das Herz sinnlos, und entbrannt von dem herben Gerüchte,
Betete vor den Altären, im Anschaun waltender Götter,
Viel zu Juppiter flehend mit rückwärts ragenden Händen:
 
Juppiter, mächtiger Gott, dem schmausend auf farbigen Polstern
Jetzt maurusisches Volk abträuft den lenäischen Festwein,
Schauest du dies? Was? Vater, vor dir, wenn du Strahlen herabschwingst,
Schaudern umsonst wir in Angst? Blind fliegende Glut in den Wolken
Schreckt der Sterblichen Sinn, und verrollt mit nichtigem Murmeln?
Jene, das Weib, die verirrt an unseren Grenzen ein Städtlein,
Arm und gering', aufbaute für Preis, der zu pflügen den Meerstrand,
Der wir Beding des Ortes verliehn, stößt unsre Vermählung
Weg und empfängt in das Reich den Oberherrscher Äneas!
Und der Paris nunmehr, von dem Trupp Halbmänner begleitet,
Mit mäonischer Haube das Kinn und das triefende Haupthaar
Untergeknüpft, der genießet des Raubs. Wir tragen ja billig
Dir in die Tempel Geschenk und pflegen des eitelen Rufes!

Jupiters Auftrag an Aeneas

[...] Du legst der hohen Karthago
Jetzo den Grund, und herrlich empor, Weibsüchtiger bauest
Hier du die Stadt, dein Reich und die eigene Macht so vergessend?
Selbst er sendet mich dir aus olympischem Glanze, der Götter
Oberster Fürst, der Himmel und Erd' umdrehet mit Allmacht;
Selbst er heißt mich tragen sein Wort windschnell durch die Lüfte.
Was doch beginnst, was hoffst du, und säumst in Libyerlanden?
Wenn dich selbst nicht rühret die Herrlichkeit solcher Vollendung,
Und du um eigenen Ruhm nicht selbst anstrengest die Arbeit;
Schau, wie Ascanius blüht, o schau des Erben Iulus
Hoffnungen, dem ein Romanergefild' und Italias Herrschaft
Gab das Geschick. [...]

Aenaeas folgt dem göttlichen Auftrag, allen Beschwörungen der ihn liebenden Dido zum Trotz

Didos Fluch

Dass die Aeneis als Nationalepos geplant war, kann man nicht nur der Ausgestaltung des Gründungsmythos entnehmen, sondern auch der nachträglichen Rechtfertigung der Vernichtung Karthagos; denn aufgrund dieses Fluchs habe die Erbfeindschaft zu Karthago schon vor der Gründung Roms bestanden und sei als nimmenendend angelegt. Zusätzlich wird der karthagische Herrschaftsanspruch als Ausdruck enttäuschter Liebe erklärt und der römische dagegen als Auftrag des Göttervaters Jupiter verstanden.

Sol, der du jegliches Thun wahrnimmst im strahlenden Umlauf,
Du auch, Mittlerin dieses Vereins, mitkundige Juno,
Hekate du, der heulen die Städt' auf nächtlichem Dreiweg,
Und ihr, rächende Diren, und Götter der sterbenden Dido:
Dieses vernehmt und übet Gewalt, wie verdienet die Bosheit,
Und, o hört dies unser Gebet! Wenn kommen zum Hafen
Muß das verworfene Haupt, und ans Land zu schwimmen sein Los ist,
Und so Juppiters Rat es verlangt, dies Ziel unverrückt steht:
Doch mit Streit und Waffen vom mutigen Volke geängstigt,
Über die Grenz' auswandernd, getrennt vom teuren Iulus,
Müss' er um Hilf' anflehen, und schaun unwürdige Tode
Seiner Freund'; auch wann er Bedingungen lästigen Friedens
Eingeht, weder des Reichs, noch erfreulichen Lichtes genieß' er,
Sondern er fall' unzeitig, und lieg' unbestattet im Sande!
So mein Gebet; dies seufz' ich, wann Stimm' und Blut mir entschwindet!
Dann, o Tyrier, hegt dem Geschlecht und dem spätesten Abstamm,
Hegt ihm ewigen Haß, und bringt dies Opfer der Sühnung
Unserer Gruft! Nicht Liebe sei je, noch Bündnis den Völkern!
Mög aus meinem Gebein sich einst ein Rächer erheben,
Welcher mit Brand sie verfolget und Stahl, die dardanischen Pflanzer,
Jetzt und dereinst und zu jeglicher Zeit, wenn die Macht es gestattet!
Möge sich Strand mit Strand, so fleh' ich, und Woge mit Woge,
Heer sich befehden mit Heer: sie selbst und die spätesten Enkel!

(Vierter Gesang)

Wettkämpfe

Aeneas hat aus Troja so viele Schätze gerettet, dass er selbst nach halbem Schiffbruch an Karthagos Strand in Sizilien, im Reich des Königs Acestes, für Wettkämpfe königliche Siegespreise aussetzen kann.

Im Laufwettbewerb wirft ein Läufer, "schneller als der Blitz", einen anderen zu Boden, damit sein Freund den Sieg erhält. Reklmationen bleiben fruchtlos, weil der Sieger so schön ist.

Die Handschuhe des berühmten Faustkämpfers Eryx sind mit Blei und Eisen versehen, Blut und verspritztes Gehirn kleben noch daran. Der alte, schwerfällige, dem das Knie wankt, wird Sieger und erschlägt am Schluss - nach vorzeitiger Beendigung des Kampfes - nicht den Gegner, sondern den Stier, der sein Siegespreis ist, mit einem Faustschlag.

Sieger beim Bogenschießen wird König Acestes, dessen Pfeil wegen der hohen Geschwindigkeit in der Luft zerglüht. (Fünfter Gesang)

Sibylle und der Weg in die Unterwelt

Bei Cumä sucht Aeneas die Sibbylle auf, um von ihr etwas über die Zukunft zu erfahren und herauszufinden, wie er seinen Vater Anchises in der Unterwelt besuchen kann.

Aber von Phöbus Gewalt ungebeugt noch, tobt die Prophetin
Ungestüm in der Höhl', ob etwa der Brust sie entschütteln
Könne den mächtigen Gott: um so heftiger zerrt er des Mundes
Rasen, und zähmt der Empörten das Herz, und ein Bändiger zwängt er.
Schnell sind geöffnet die hundert gewaltigen Gänge der Wohnung,
Alle von selbst, und tragen zur Luft der Seherin Antwort:
O der du endlich des Meers graunvolle Gefahren erschöpft hast!
Doch graunvollere drohet das Land! In die Gauen Lavinums
Kommt der Dardaner Volk; laß fahren die Sorg' aus dem Herzen;
Doch nicht wünscht es gekommen zu sein! Krieg', schaurige Kriege
Schau' ich, und tief gerötet mit Blut aufschäumen den Thybris. [...]
Nicht nachgeben dem Leid, nein noch kühnherziger angehn,
Wo nur Bahn dein Los dir vergönnt! Des Heiles Beginn wird,
Was du am wenigsten träumst, [...]

Auf dem Weg in die Unterwelt müssen sie Charon und Cerberus besänftigen.

Charon, Sibylle und Aeneas am Ufer des Styx

Cerberus vorn, machtvoll dreistündiges Bellen erhebend,
Hallt umher, ausdehnend den gräßlichen Wuchs in der Felskluft;
Dem, da er schon voll Schlangen die Häls' aufsträubt, die Prophetin
Einen betäubenden Kloß mit würzigen Säften und Honig
Vorwirft. Er, drei Rachen in rasendem Hunger eröffnend,
Schnappt den geworfnen hinweg, und den ungeheueren Rücken
Löst er gestreckt, und ruht langhin durch die Höhle gebreitet. [...]
(Sechster Gesang)

Anchises Bericht über die Vorbereitung der Verstorbenen für eine Rückkehr aus der Unterwelt:

Erst den Himmel umher und Land' und flüssige Ebnen,
 Auch die leuchtende Kugel des Monds und die Feuer der Sonne
Nährt von innen ein Geist; und ganz durchströmet die Glieder
Seel', und reget das All, dem großen Leibe vereinigt.
Dorther Menschengeschlecht und Tier' und muntere Vöglein,
Auch so viel Meerwunder die wogende Tiefe durchtaumeln.
Feurige Lebenskraft ist entflammt und himmlischer Ursprung
Jeglichem Keim, sofern nicht schädliche Stoffe sie zögern,
Nicht sie des Staubes Gelenk abstumpft und verwesliche Glieder.
Deshalb Furcht und Begier, auch Schmerz und Freude; zur Luft nicht
Schaun sie hervor, umschlossen von Nacht und dunklem Gefängnis.
Ja wenn das Leben sogar mit erloschenem Licht sie verlassen,
Doch nicht alles Verderb, nicht weicht den Armen von Grund' aus
Alles verpestende Übel des Leibs; an dem Innersten hängt noch
Vieles, das lang' anwuchs und haftet in zäher Vereinung.
Drum wird marternde Strafe geübt, und das alte Verderbnis
Abgebüßet durch Pein. Denn Andere schweben gebreitet
Gegen der Wind' Anhauch, und anderen spület der Strudel
Haftende Sünden hinweg, noch anderen brennt sie die Flamm' aus,
[Alle wir dulden im Tode für uns. Durch Elysiums Räume
Schweben wir dann, und bewohnen, wir Wenige, Fluren des Heiles:]
Bis langwieriger Tag, nach vollendetem Ringe der Zeiten,
All' anklebende Makel getilgt und völlig gekläret
Stellt den ätherischen Sinn, und die Glut urlauterer Heitre.
Diese, nachdem sie den Kreis durch tausende Jahre gerollet,
Ruft zum lethäischen Fluß ein Gott in großem Gewimmel:
Daß sie erinnerungslos die obere Wölbung des Äthers
Wieder schaun und willig in andere Leiber zurückgehn.
[...]
Hinweis Auf den kommenden Augustus und seine Leistungen:
Dort, o dorthin wende den Blick! Schau jenes Geschlecht dort,
Deine Romaner hinab! Dort Cäsar und des Iulus
Sämtlicher Stamm, der hoch zu dem Pol aufsteiget des Himmels.
Dort der Mann, dort ist er, den oft dir verheißen du hörest,
Cäsar Augustus, der Sohn des Vergötterten, welcher des Goldes
Tage verjüngt ausbreitet in Latium durch die Gefilde,
Einst von Saturnus beherrscht. Jenseits Garamanten und Indern
Dehnt er das Reich; fern liegt selbst außer den Sternen der Erdrand,
Außer des Jahrs und der Sonn' Umlauf, wo der ragende Atlas
Dreht auf der Schulter den Pol, mit brennenden Sternen besäet.
Seines Herannahns harrt schon jetzt auch die Caspierherrschaft,
Durch Orakel der Götter geschreckt, und das Land der Mäotis,
Bang' auch stürmen die Pforten des siebenströmigen Nilus.
Nicht fürwahr der Alcid' hat so viel Länder betreten,
Ob erzfüßiges Wild er durchbohrete, ob Erymanthus
Hainen er Ruhe gebracht, ob Lerna geschreckt mit dem Bogen:
Nicht, der dem Joch im Triumph weinlaubige Zügel gestrenget,
Liber, herab von des Nysa Gebirghöhn lenkend die Tiger.
Und wir säumen annoch durch That zu verbreiten die Tugend?
Oder es wehret die Furcht im Ausonierlande zu siedeln?
[...]
Die geschichtliche Aufgabe der Römer:
Andere mögen das Erz viel lebensvoller beseelen,
Sei's – und lebendiger Züge Gestalt abringen dem Marmor,
Besser zu reden verstehn vor Gericht, mit dem Zirkel die Bahnen
Zeichnen des kreisenden Runds und das Nahn der Gestirne verkünden:
Du sollst, Römer, beherrschen des Erdreichs Völker mit Obmacht,
(Dies sei'n Künste für dich) und Zucht anordnen des Friedens,
Mild dem Ergebenen sein und niederducken den Trotzer.

excudent alii spirantia mollius aera
- credo equidem -, vivos ducent de marmore vultus,
orabunt causas melius, caelique meatus
describent radio et surgentia sidera dicent:
tu regere imperio populos, Romane, memento
- hae tibi erunt artes -, pacique imponere morem,
parcere subiectis et debellare superbos.

Gottwein: Vergil: Aeneis, Liber VI, Zeile 847-853

Römische Bräuche und Geschichte in die Aeneis eingearbeitet

Kämpfe

Der letzte Kampf

Verhandlungen der Götter

Aber der Herr des Olympus, der Stätte der Allmacht, befragte
nunmehr Juno, die hoch von schimmernder Wolke dem Zweikampf
zuschaute: »Worauf läuft es hinaus? Was bleibt jetzt noch übrig?
Weißt du doch schon, nach eigenem Zeugnis: Aeneas, als Heros,
ist für den Himmel bestimmt, zu den Sternen erhebt ihn das Schicksal.
Was noch bezweckst, was erhoffst du, daß du in eiskalten Wolken
still dich verbirgst? Darf etwa der Mensch verwunden die Gottheit?
Darf denn ein Turnus – Juturna vermag nichts ohne dein Zutun! –
wiederbekommen sein Schwert, ein Besiegter noch Kräfte gewinnen?
Halte doch endlich Ruhe und füge dich meinem Ersuchen!
Aufreiben soll dich nicht länger solch bitterer Schmerz, auch nicht länger
qualvoller Gram mich aus deinem lieblichen Munde betrüben.
Stehen wir jetzt doch am Ziel! Du konntest zu Land und zu Wasser
hetzen die Troer und einen entsetzlichen Kriegsbrand entfachen,
eine Familie entehren, durch Trauer die Hochzeit vergällen.
Mache jetzt Schluß, ich befehle es dir!«

Auf Jupiters Mahnung
gab, mit niedergeschlagenem Blick, die Saturnierin Antwort:
»Weil mir dein Streben bekannt ist, erhabener Jupiter, mußte,
wider Willen, ich Turnus und seine Heimat verlassen.
Andernfalls sähest du mich nicht im Himmel jetzt sitzen und alle
möglichen Kränkungen hinnehmen, nein, von Flammen umlodert,
stünde ich mitten im Schlachtgewühl, peitschte die Troer zu harten
Kämpfen! Juturna riet ich, jawohl, dem Bruder in seinen
Nöten zu helfen, und billigte, daß sie sein Leben noch stärker
schützte, nicht freilich durch Einsatz von Waffen, durch Schießen mit Pfeilen,
was ich beschwöre beim Strome der Styx, der niemals versöhnten,
die auch für Götter als einzigartige Schwurzeugin waltet!
Abtreten will ich nunmehr, verlasse voll Abscheu den Kampfplatz.
Eins noch gewähre mir, bitte – es wird nicht vom Schicksal verboten –,
so zu Latiums Gunsten wie auch zur Ehre der Deinen:
Schließen sie, meinetwegen, jetzt Frieden bei glücklicher Hochzeit,
gründen die Einheit gemäß den Bedingungen ihres Vertrages,
laß nicht die Landeskinder den uralten Namen ›Latiner‹
wechseln, sie Troer nicht werden, mit Namen gar ›Teukrer‹ noch heißen,
auch nicht die Muttersprache verlieren, die Volkstracht nicht ändern!
Latium lebe, auch Albas Königtum zahllose Jahre,
unverwandt herrsche das Römergeschlecht dank italischer Tatkraft!
Troja sank, so lasse versunken es sein samt dem Namen!«

Lächelnd entgegnete ihr der Schöpfer der Welt und der Menschen:
»Jupiters wirkliche Schwester bist du, ein Kind des Saturnus:
Derart gewaltig vermagst du, ganz unversöhnlich, zu grollen!
Laß jetzt verrauchen die Wut, du hast sie nicht weiterhin nötig;
deine Wünsche erfülle ich, lasse den Sieg dir, freiwillig.
Muttersprache wie Denkart soll den Ausoniern bleiben,
bleiben der Name auch. Nur als ein Teil des latinischen Volkes
sollen die Teukrer sich ansiedeln. Bräuche und Gottesdienst werde
selber ich stiften, der Sprache nach sie zu Latinern nur machen.
Nachkommen dieser Verbindung mit echt ausonischem Blute
wirst du an Pflichtgefühl Menschen wie Götter einst weit übertreffen
sehen; kein anderes Volk wird Ehren dir zollen wie dieses!«
Zustimmend nickte Juno. Befriedigt wurde sie andern
Sinnes, verließ die Wolke, verschwand vom Himmelsgewölbe.

Jupiter greift in den Kampf ein.
Anderen Plänen widmete jetzt sich der Vater der Götter,
wollte Juturna[12] trennen von ihrem kämpfenden Bruder.
»Gräßliche« heißen zwei furchtbare Zwillingsschwestern; zusammen
mit dem Unterweltsscheusal Megaera hatte die finstre
Nacht sie geboren; sie waren genauso wie jene mit eklen
Knäueln von Schlangen umwunden und trugen auch windschnelle Flügel.
Dienstbereit warten sie stets an Jupiters Thron, in des harten
Herrschers Palast, und steigern die Angst der elenden Menschen,
falls der Beherrscher der Götter Seuchen und schreckliches Sterben
androht, auch Städte zur Strafe heimsucht mit Schrecken des Krieges.
Jupiter schickte jetzt eine der Schwestern geschwind von dem hohen
Himmel herab, der Juturna vor Augen als Botin von Unheil.
Eilig entflog sie und schoß mit wirbelnden Schwingen zur Erde.
Ebenso gleitet, geschnellt von der Sehne, ein Pfeil durch die Wolken,
den ein Parther oder Kydone mit tödlichem Gifte
tränkte, bevor er ihn abschoß zum Schlagen unheilbarer Wunden;
schwirrend durchsaust er, von keinem gesehen, die flüchtigen Schatten:
derartig flog die Tochter der Nacht und erreichte die Erde.
Als sie das troische Heer und die Scharen des Turnus erblickte,
ließ sie geschwind sich zusammenschrumpfen zur Eule, dem Vogel,
der zuweilen auf Grabstätten hockt und verödeten Dächern,
dabei die nächtlichen Schatten durchgellt mit leidigen Schreien.
Turnus vor Augen, schwirrte das Scheusal bald hierhin, bald dorthin,
streifte dabei auch mit seinen flatternden Schwingen den Schutzschild.
Starres Entsetzen lähmte, wie niemals früher, den Helden,
sträubte die Haare vor Schrecken und ließ die Stimme ihm stocken.
Aber Juturna erkannte von fern schon am Schwirren der Flügel
deutlich die Gräßliche, raufte, in schmerzlichem Mitleid, die Haare,
riß mit den Nägeln ihr Antlitz sich blutig und schlug mit den Fäusten
trommelnd die Brüste. »Wie kann dir, mein Turnus, die Schwester noch helfen?
Was bleibt übrig mir noch, der Geschlagenen? Kann ich dein Leben
irgend verlängern? Kämpfen mit einem so schrecklichen Untier?
Aufgeben muß ich den Widerstand. Steigert, ihr greulichen Vögel,
nicht mein Entsetzen! Ich kenne genau das Rauschen der Schwingen,
diesen todbringenden Laut; die grausame Weisung des edlen
Jupiter höre ich. Lohnt er mir so, was ich preisgab als Mädchen?
Wozu verlieh er mir ewiges Leben? Entzog mich dem Zugriff
lindernden Todes? Ich könnte mich sonst ja vom bitteren Kummer
lösen, ins Reich der Schatten den armen Bruder begleiten!
Ich – unsterblich! Vermag mir mein Leben noch Freuden zu bieten
ohne dich, Bruder? Kann nicht das Erdreich zu hilfreichem Abgrund
aufklaffen, mich, die Göttin, hinab zu den Manen entführen?«
Bitterlich weinend verhüllte die Nymphe ihr Haupt mit dem bläulich
schimmernden Schleier und tauchte hinein in die Tiefe des Stromes.

Das Ende des Kampfes
Aber Aeneas schwang schon die wuchtige, baumlange Lanze
drohend dem Feinde entgegen und rief voll wütenden Hasses:
»Warum noch zögerst du? Willst du dem Zweikampf ausweichen, Turnus?
Nicht mehr im Wettlauf, nein, tödlich mit Waffen gilt es zu streiten.
Schlüpf nur in jede Gestalt und raffe alles zusammen,
was du an Mut noch und Kniffen vermagst – wünsch Flügel dir, steige
hoch zu den Sternen oder versteck dich im Schoße des Erdreichs!«
Turnus erwiderte kopfschüttelnd: »Nicht dein hitziges Schimpfen
schreckt mich, du Rohling, nein, göttliches Walten und Jupiters Feindschaft.«
[...]
Wie wir im Traum, wenn uns einschläfernd nächtliche Ruhe die Augen
schloß, uns einbilden, eifrig, doch zwecklos längere Strecken
laufen zu wollen und trotz erhöhter Anstrengung kraftlos
niederzusinken, die Zunge uns stockt, die genau uns bekannten
Kräfte des Körpers versagen, kein Laut uns gelingt, nicht ein Wörtchen:
derart vereitelte jetzt die gräßliche Göttin dem Turnus
jegliche noch so wackre Bemühung. Seine Gedanken
kreuzten sich wirr, er blickte zur Stadt, zu den Rutulern, schwankte
furchtsam, erzitterte vor dem Drohen der Lanze, erspähte
keinerlei Fluchtweg, auch keinerlei Bahn zu kraftvollem Angriff,
sah auch den Kampfwagen nicht, nicht die Schwester, die sicher ihn lenkte.
Aber da hatte Aeneas bereits den günstigen Zielpunkt
scharf im Visier und schleuderte, unter dem Einsatz des ganzen
Körpers, den tödlichen Speer auf den zaudernden Gegner. So schwirrten
niemals die Blöcke des Mauergeschützes, zischten auch niemals
zuckende Blitze. Die Lanze, Trägerin grausamen Unheils,
flog, vergleichbar der finsteren Sturmbö, durchschlug erst den untren
Rand an dem siebenschichtigen Schutzschild, darauf den verstärkten
Saum des gepanzerten Hemdes und bohrte sich tief in den Schenkel.
Turnus, bezwungen vom wuchtigen Aufprall, sank in die Knie.
Aufschreiend fuhren die Rutuler hoch, rings dröhnten die Berge
alle, und weithin hallten vom Hochwald die Wehklagen wider.

Turnus, am Boden, demütigen Blickes, streckte die Rechte
bittend nach vorn: »Ich verdiene mein Los, erflehe nicht Gnade.
Nutze dein Glück! Und vermag dich das Schicksal meines geprüften
Vaters zu rühren, bitte – du hattest ja selber solch einen
Vater, Anchises –: Erbarm dich des alten Daunus, den Meinen
gib mich zurück jetzt oder, sofern du das vorziehst, den toten
Körper. Du siegtest, mich sehen die Völker Italiens die Hände
heben als völlig Geschlagenen. Dein ist Lavinia. Treibe
aber den Haß nicht zu weit!«

Aeneas stand mit gezücktem
Schwerte, erbittert, mit rollenden Augen. Noch hemmte er seine
Rechte, er schwankte. Schon wollten die Worte zur Milde ihn stimmen.
Aber da glänzte zum Unglück, hoch auf des Geschlagenen Schulter,
prächtig das Wehrgehenk mit den goldenen Buckeln, der Schwertgurt
früher des jungen Pallas, den Turnus besiegt und erschlagen
hatte. Jetzt trug er das herrliche Schmuckstück sich selbst zum Verderben.
Starrte Aeneas doch wie gebannt auf die Beute, ein Mahnmal
wütenden Schmerzes. Dann rief er mit schrecklicher Stimme, von wilder
Rachgier entflammt: »Du willst mir entschlüpfen – und trägst noch die Beute,
die du den Meinen entrissest? Pallas erschlägt dich jetzt, Pallas
sühnt jetzt mit deinem Blut die Verbrechen, die du begingest!«
Damit stieß er, glühend vor Zorn, in die Brust ihm die Klinge.
Unter der Kälte des Todes erschlafften die Glieder des Turnus,
unwillig stöhnend entwich sein Geist hinab zu den Schatten.

Vergil: Werke in einem Band. Berlin 1987, Übersetzung von Wilhelm Hertzberg, S. 444-477

Zum Unterricht

Fragen

  1. Welche Rolle spielen die Menschen für die Götter?[13]
  2. Welche Rolle spielen die Götter für die Menschen?
  3. Welche Aufgabe(n) erfüllt Aeneas für den Erzähler?
  4. Was ist Vergils Aussageabsicht?
  5. Welche Funktion hat Aeneas für die Aussageabsicht Vergils?
  6. Welche Funktion haben Dido, Anchises, Turnus oder weitere Personen innerhalb des Epos?
  7. Welche Funktion erfüllen die Götter für Vergil?
  8. Wie unterscheidet sich dieses Epos von einem Roman mit ähnlich umfassendem Gegenstand?

Gestaltungsaufgaben

  1. Dido macht Aeneas einen Heiratsantrag, er begründet seine Ablehnung.
  2. Streit zwischen Venus und Juno über Aeneas. Juno wirft ihm vor, dass er Dido verlassen und Turnus getötet hat.
  3. Aeneas denkt am Ende seines Lebens darüber nach, warum er mit keiner seiner Frauen glücklich geworden ist.
  4. Venus und Jupiter sprechen darüber, welche Pläne sie mit Aeneas verfolgen und weshalb sie so schwer umzusetzen sind.
  5. Die Rolle, die die Götter im Leben der Menschen haben: Jupiter für König Iarbas; Venus, Juno und Jupiter für Aeneas.
  6. Innerer Monolog Vergils auf seiner Reise von Griechenland nach Italien im Jahr seines Todes.
Dabei könnte angesprochen werden:
- Aeneas als Vertreter der pietas oder als gemischter Charakter?
- Probleme mit dem Schluss des Epos[14]
(Hermann Brochs Der Tod des VergilWikipedia-logo.png sollte möglichst nicht bekannt sein, damit mehr Gestaltungsfreiheit besteht.)

Zur Interpretation

Meinung

Venus rettet ihren Sohn Aeneas trotz seiner Kampfeslust aus dem zusammenbrechenden Troja. Hilfreich ist für ihre Zielsetzung, dass Aeneas sich verpflichtet fühlt, seinen Vater zu retten. Ist's die göttliche Mutter oder ist es der Egoismus von Aeneas' Genen? Der Held entzieht sich dem Kampf, und Vergil hat viel zu tun, uns glaubhaft zu machen, dass er es nicht aus Feigheit tut, also dadurch nicht seine Ehre verliert. Aeneas macht mit seiner Schönheit und dem Bericht von seinen Abenteuern Eindruck auf Dido (Nach Vergil leistet die Hauptarbeit freilich Aeneas' Halbbruder Amor, der Dido zur Liebe zwingt, so wie er das sogar bei Göttern kann.) Weshalb hat Venus darauf gedrängt? Um Aeneas in Karthago eine gute Aufnahme zu sichern, um ihn vor dem Risiko eines Kampfes zu sichern? Jedenfalls scheint ihr die Liebe (sicher die von Dido, wohl aber auch die von Aeneas) - obwohl sie doch ihr Spezialgebiet sein sollte - wenig zu bedeuten gegenüber Hoffnung, dass Aeneas' Sohn Julus ein großes Reich begründet. Warum soll es aber unbedingt in Italien sein, warum nicht in Nordafrika?

Vergil gehörte zum Kreis um Maecenas, dessen Name heute die Bedeutung von Förderer der Kunst angenommen hat. Es liegt nahe, dass er Kunstförderung zur Imagepflege von Oktavian/Augustus betrieben hat, dass er also Vergil nahegelegt hat, einen Gründungsmythos des römischen Reiches zu stiften, der Augustus besser in den Mittelpunkt stellte als die Sage von Romulus und Remus. "Nationalepos" ist auf das Reich zur Zeit des Augustus bezogen an sich zu eng. Aber die Konzentration auf die Stadt Rom als Ausgangspunkt hatte schon lange vorher und noch lange danach identitätsstiftende Wirkung. Die Verengung auf die Sippe der Julier und deren angeblich göttliche Abstammung brachte nicht nur Augustus einen Zuwachs an Legitimität. Dass Roms Gründung als Projekt Jupiters dargestellt wurde, ließ das gesamte Reich als Ergebnis eines göttlichen Heilsplanes erscheinen. Ist die Aeneis also lediglich ein besonders ausgedehntes Beispiel für Panegyrik?

Es könnte auch sein, dass Vergil in bewusster Konkurrenz zu Ilias und Odyssee und ihrem - vermuteten - Schöpfer Homer einen würdigeren Gegenstand als nur einen dauernden Streit und ständige Irrfahrten gesucht hat und in Aeneas den dafür idealen Helden gefunden hat: Irrfahrten, aber nicht mit der Heimat, sondern Vergils Gegenwart als Zielpunkt, auch Streit, aber Streit, der zu einem Friedensreich führt. Vergil ein Prophet, der Prophetien verkündet, die von seiner Gegenwart handeln.

Immerhin ist Vergil so für viele Christen zum christlichen Prophet geworden und für Dante zum Führer durchs Jenseits.

Ausgaben

Linkliste

  1. Actium wird als Schauplatz der Entscheidungsschlacht Oktavians gegen Augustus hervorgehoben.
  2. http://de.wikipedia.org/wiki/Teukros_(Troja)
  3. http://de.wikipedia.org/wiki/Antenor
  4. gebräuchlicher: Argiver: Griechen
  5. http://de.wikipedia.org/wiki/Liburner
  6. http://de.wikipedia.org/wiki/Timavo
  7. http://de.wikipedia.org/wiki/Teukros_(Troja)
  8. griechischer Beiname der Liebesgöttin - Unterschiedliche Namen für dieselbe Person (vgl. auch Zeus für Jupiter) erklären sich aus Erfordernissen des Metrums.
  9. http://de.wikipedia.org/wiki/Rutuler
  10. http://de.wikipedia.org/wiki/Iulus Iulus
  11. das spätere Rom
  12. http://de.wikipedia.org/wiki/Iuturna
  13. Inwiefern lassen sich die Menschen in ihrer Funktion für die Götter mit heutigen Fußballstars (für die Zuschauer) und mit Jagdhunden (für die russische Aristokratie) vergleichen? (Als Hintergrund für die Frage kann man diesen Ausschnitt aus Tolstois Krieg und Frieden heranziehen.
  14. Die Ilias schließt mit dem Sieg der List, die Odyssee mit der Heimkehr und dem Triumph über die Freier. Welches Schlussbild soll am Ende des Epos stehen, wenn die Gründung Roms der eigentliche Zielpunkt ist?