Wandern in Gedichten: Unterschied zwischen den Versionen
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'''Fausts''' berühmter Osterspaziergang ist mehr als ein Lustwandeln, es ist eine Auferstehungsfeier: Nach dem langen Winter verlassen die Stadtbürger die enge Mauern ihrer Behausungen, um auch von Arbeit befreit sich der Natur und der Geselligkeit hinzugeben. Faust, der gerade erst vor dem Selbstmord bewahrt wurde, nimmt die Symbolik dieses Ereignisses im Gespräch mit seinem Assistenten ('Famulus') Wagner besondern intensiv wahr: | |||
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Version vom 4. März 2018, 16:59 Uhr
Das Wandern
Eine akademische Erfindung
"Die deutsche Literatur beginnt mit der intellektuellen Revolte der akademischen Jugend. Sämtliche poetischen Innovationen werden im I8. Jahrhundert von studentischen Freundschaftsgruppen eingeleitet: von den Anakreontikern in Halle, dem Klopstock verpflichteten »Hain« in Göttingen, den Stürmern und Drängern in Straßburg, der romantischen Generation von Jena, danach der von Heidelberg und Berlin. [...]
Fast bis in die Gegenwart dauert eine Erfindung der Studenten vom Ende des I8. Jahrhunderts, die für die deutsche Poesie und Lebensweise folgenreich war: das Wandern. ... Studien Heinrich Bosses (*) haben auf die merkwürdige Erscheinung aufmerksam gemacht, daß um I770 das traditionelle Wandern der Handwerksgesellen durch Polizeiverordnungen unterdrückt wurde, dafür aber bei den Intellektuellen in Mode kam. Der praktische Zweck der einen wandelt sich zum ästhetischen Vergnügen der anderen. Der Wanderer erschließt sich eine neue Landschaftserfahrung, die in der augenblicklichen Wahrnehmung - in Regen und Sturm auf dem »Schlammpfad« - wie im Ganzen - der gottgleichen Natur - die literarischen Konventionen der idyllischen und der heroischen Topographie hinter sich läßt. Von den wandernden Handwerkern übernehmen ihre Imitatoren, die Studenten, den Brauch, Lieder zu singen oder Lieder zu dichten, als wären sie beim Wandern entstanden. Goethe erinnert sich seiner jugendlichen Gewaltmärsche: »Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel >Wanderers Sturmlied<, übrig ist.« Viele deutsche Gedichte, von denen einige populäre Lieder geworden sind, bekunden bereits in der Überschrift oder in der ersten Zeile das Wandern als Anlaß und Hintergrund. [...] Schon Werther dehnte konventionelle Spaziergänge von überschaubarem Ausmaß zu spontanen Wanderungen mit unvorhersehbaren Erlebnissen aus. [...]
In der feudalen Gesellschaft waren Stile und Haltungen der höchsten, »tonangebenden« Schicht allmählich in vereinfachter Gestalt zu den unteren Schichten abgesunken. Im Fall des Wanderns zeigt sich - ganz im Sinne der romantischen Kulturrevolution - eine umgekehrte Stilentlehnung: Nun ahmten die Eliten Habitus und Kunstformen der Unterschicht nach. Die Verklärung des Schlichten erschien ihnen sublimer als der Genuß des Erlesenen. Was Herder in der Programmschrift „Von deutscher Art und Kunst“ am Ausdruck der Wilden lobte, »unvorbedachte Festigkeit, Sicherheit und Schönheit«, das fand er, mitten in der europäischen Zivilisation, in den Volksliedern wieder. Des Knaben Wunderhorn, von Arnim und Brentano gesammelte anonyme und daher dem Volk zugeschriebene Lieder, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm waren nachgereichte Belege für Herders These."
aus: Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (Hanser 2002 S. 67ff)(*) Heinrich Bosse und Harald Neumeyer: „Da blüht der Winter schön“. Musensohn und Wanderlied um 1800. Freiburg im Breisgau 1995}}
Der junge Goethe wandert
Johann Wolfgang Goethe schildert in seiner Autobiografie "Dichtung und Wahrheit" rückblickend die Eindrücke seiner ersten Wanderung in den Schweizer Alpen. Diese unternahm er zusammen mit dem Gefährten Passavant, mit dem er dem Geist des "Sturm und Drang" entsprechend einen 'brüderlichen' Umgang pflegte.
"Ein besonderes, zwar nicht unerwartetes, aber höchst erwünschtes Vergnügen empfing mich in Zürich, als ich meinen jungen Freund Passavant daselbst antraf. Sohn eines angesehenen reformierten Hauses meiner Vaterstadt, lebte er in der Schweiz, an der Quelle derjenigen Lehre, die er dereinst als Prediger verkündigen sollte. Nicht von großer, aber gewandter Gestalt, versprach sein Gesicht und sein ganzes Wesen eine anmutige rasche Entschlossenheit. Schwarzes Haar und Bart, lebhafte Augen. Im Ganzen eine teilnehmende mäßige Geschäftigkeit.
Kaum hatten wir, uns umarmend, die ersten Grüße gewechselt, als er mir gleich den Vorschlag tat, die kleinen Kantone zu besuchen, die er schon mit großem Entzücken durchwandert habe und mit deren Anblick er mich nun ergetzen und entzücken wolle. [...]
Am 16. Juni 1775, denn hier find' ich zuerst das Datum verzeichnet, traten wir einen beschwerlichen Weg an; wilde steinige Höhen mußten überstiegen werden, und zwar in vollkommener Einsamkeit und Öde. Abends drei Viertel auf Achte standen wir den Schwyzer Hacken gegenüber, zweien Berggipfeln, die neben einander mächtig in die Luft ragen. Wir fanden auf unsern Wegen zum erstenmal Schnee, und an jenen zackigen Felsgipfeln hing er noch vom Winter her. Ernsthaft und fürchterlich füllte ein uralter Fichtenwald die unabsehlichen Schluchten, in die wir hinab sollten. Nach kurzer Rast, frisch und mit mutwilliger Behendigkeit, sprangen wir den von Klippe zu Klippe, von Platte zu Platte in die Tiefe sich stürzenden Fußpfad hinab und gelangten um zehn Uhr nach Schwyz. Wir waren zugleich müde und munter geworden, hinfällig und aufgeregt; wir löschten gähling unsern heftigen Durst und fühlten uns noch mehr begeistert. Man denke sich den jungen Mann, der etwa vor zwei Jahren den »Werther« schrieb, einen jüngern Freund, der sich schon an dem Manuskript jenes wunderbaren Werks entzündet hatte, beide ohne Wissen und Wollen gewissermaßen in einen Naturzustand versetzt, lebhaft gedenkend vorübergegangener Leidenschaften, nachhängend den gegenwärtigen, folgelose Plane bildend, im Gefühl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie durchschwelgend – dann nähert man sich der Vorstellung jenes Zustandes, den ich nicht zu schildern wüßte, stünde nicht im Tagebuche: »Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht.«
aus J.W.Goethe: „Dichtung und Wahrheit“, Vierter Teil 18. Buch Hamburger Ausgabe Bd. 10 S. 139 und 143- Lies diesen Reise-Bericht genau durch und arbeite die Stimmungen heraus, die darin ausgedrückt werden.
- Versuche sie in eigenen Worten wiederzugeben.
Das Wanderlied: Aufbruch und Heimatlosigkeit
In der ständischen Gesellschaft wurden Wanderlieder traditionell bei den Versammlungen oder Verabschiedungen von Handwerksgesellen gesungen. "Der Geselle bricht in diesen Liedern nicht von zu Hause auf, sondern von einer Station seiner Wanderschaft, wo er überwintert hat, also an den Arbeitsplatz gebunden war." (H. Bosse / H. Neumeyer: „Da blüht der Winter schön“. Musensohn und Wanderlied um 1800. Freiburg im Breisgau 1995, S. 10) Der Aufbruch im Frühling bedeutete somit soziale Ungebundenheit und Aussicht auf neue Arbeit.
In der Romantik wird nicht nur das Wandern standesübergreifend, sondern auch das Wanderlied. Auch in den Liedern der "akademisch Gebildeten" bricht der Wanderer üblicherweise im Frühjahr mit positiven Erwartungen auf, z.B. bei
- J.v.Eichendorff: Die zwei Gesellen
Es zogen zwei rüstge Gesellen
zum erstenmal von Haus,
so jubelnd recht in die hellen,
klingenden, singenden Wellen
des vollen Frühlings hinaus.
Die strebten nach hohen Dingen,
die wollten, trotz Lust und Schmerz,
was Rechts in der Welt vollbringen,
und wem sie vorübergingen,
dem lachten Sinnen und Herz. -
[...]
In Wilhelm Müllers (1794-1827) Winterreise ist diese Aufbruchsituation dagegen verkehrt: Schon im ersten Lied dieses Zaklus entlässt der Dichter seinen Wanderer in den Winter und damit in eine Zeit der Heimatlosigkeit und Kälte.
Gute Nacht
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh' -
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.
Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such ich des Wildes Tritt.
Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb' hinaus?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern,
Gott hat sie so gemacht -
Von einem zu dem andern -
Fein Liebchen, gute Nacht!
Will dich im Traum nicht stören,
Wär' schad' um deine Ruh',
Sollst meinen Tritt nicht hören -
Sacht, sacht die Türe zu!
Ich schreibe nur im Gehen
An's Tor dir gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
Ich hab' an dich gedacht.
J.v.Eichendorff
Der Taugenichts bricht auf in die Welt:
"Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: «Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.» – «Nun», sagte ich, «wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.» Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: «Bauer, miet mich, Bauer, miet mich!» nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: «Bauer, behalt deinen Dienst!»
- "Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend:
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.
Die Trägen, die zu Hause liegen,
Erquicket nicht das Morgenrot,
Sie wissen nur vom Kinderwiegen,
Von Sorgen, Last und Not um Brot.
Die Bächlein von den Bergen springen,
Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
Was sollt ich nicht mit ihnen singen
Aus voller Kehl und frischer Brust?
Den lieben Gott laß ich nur walten;
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd und Himmel will erhalten,
Hat auch mein Sach aufs best bestellt!"
- aus: Joseph Freiherr von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts - Kapitel 1, in Anthologien wird dieses Gedicht "Der frohe Wandersmann" betitelt (z.B. "Deutsche Naturlyrik", hrsg. von Dietrich Bode, Reclam 2012 S. 63)
- Noch mehr von J.v. Eichendorff: Dreifache Sehnsucht!
Ein einsames, alterndes Ich hört (oder stellt sich vor), wie zwei nächtlich wandernde Gesellen in ihrem Wanderlied eine andere Welt voll zauberhafter Landschaften entstehen lassen, in denen Mädchen sehnsuchtsvoll am Fenster stehen:
Sehnsucht
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht. -
1834
Spazierengehen: Hobby des Bürgertums
Vom Lustwandeln
"Der Ursprung des Spaziergangs ist das aristokratische „Lustwandeln“ in Gärten und Barockparks, später kam eine soziale Komponente hinzu (Kontakte knüpfen, ungestört Gespräche führen). Die Entwicklung von Parks oder Promenaden hängt unmittelbar mit dem Spaziergang zusammen. Unter Bürgerlichen ist er im 18. Jahrhundert in Mode gekommen. Als Brauch war er zu bestimmten Zeiten in Deutschland sehr verbreitet – so der Osterspaziergang (vgl. dazu Goethes Faust I) oder Pfingstspaziergang. Beim sonntäglichen ‚Familienspaziergang‘ konnte dessen Gemächlichkeit für Kinder recht quälend sein."
Spaziergang (Wikipedia)Fausts berühmter Osterspaziergang ist mehr als ein Lustwandeln, es ist eine Auferstehungsfeier: Nach dem langen Winter verlassen die Stadtbürger die enge Mauern ihrer Behausungen, um auch von Arbeit befreit sich der Natur und der Geselligkeit hinzugeben. Faust, der gerade erst vor dem Selbstmord bewahrt wurde, nimmt die Symbolik dieses Ereignisses im Gespräch mit seinem Assistenten ('Famulus') Wagner besondern intensiv wahr:
Kehre Dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen, finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern,
Sie feiern die Auferstehung des Herrn;
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks-und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
(V. 916 - 928)
- Der Spaziergang in der Literatur - Exemplarische Untersuchung Hausarbeit von Sebastian Polmans und Ana-Marija Pasic. Definition:
- "Spaziergänger gehen immer wieder die gleichen Wege in gewohntem Terrain und versuchen nicht in unbekannte Umgebung vorzudringen. Diese Eigenart lässt den Wiederholungscharakter eines Spaziergangs erkennen, der somit eine Art Ritual darstellt. Auch wenn der Weg auf ein Ziel, beispielsweise einen Lieblingsplatz oder ein Rasthaus, hinausläuft, so ist die Funktion eines Spaziergangs nicht das Ankommen an einem vorherbestimmten Ziel, sondern die Aktion des Gehens, der Bewegung selber, die das damit häufig verbundene Beobachten der Umgebung, der Natur oder das Gespräch während des Spaziergangs mit dem Freund oder dem Passanten am Wegesrand mit einschließt."
Heinrich v. Kleist in Paris
Heinrich v. Kleist schildert in einem Brief an Luise von Zenge, die Schwester seiner Verlobten, Wilhelmine, die Vergnügungen vieler (?) Einwohner von Paris 1801:
"Überdrüssig aller ... Feuerwerke und Illuminationen und Schauspiele und Possenreißereien hat ein Franzose den Einfall gehabt, den Einwohnern von Paris ein Vergnügen von einer ganzen neuen Art zu bereiten, nämlich das Vergnügen an der Natur. […] Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die - Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im Hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubnis, einen Tag in patriarchalischer Simplizität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt - dann kehrt man wieder um. Gegen die Mittagszeit (das heißt um 5 Uhr) sucht jeder sich eine Hütte, der eine die Hütte eines Fischers, der andere die eines Jägers, Schiffers, Schäfers etc. etc., jede mit den Insignien der Arbeit und einem Namen bezeichnet, welchen der Bewohner führt, so lange er sich darin aufhält. Funfzig Lakaien, aber ganz natürlich gekleidet, springen umher, die Schäfer- oder die Fischerfamilie zu bedienen. Die raffiniertesten Speisen und die feinsten Weine werden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen und in irdenen Gefäßen; und damit nichts der Täuschung fehle, so ißt man mit Löffeln von Zinn. Gegen Abend schifft man sich zu zwei und zwei ein, und fährt, unter ländlicher Musik, eine Stunde lang spazieren auf einem See, welcher 20 Schritte im Durchmesser hat. Dann ist es Nacht, ein Ball unter freiem Himmel beschließt das romantische Fest, und jeder eilt nun aus der Natur wieder in die Unnatur hinein -
Große, stille, feierliche Natur, du, die Kathedrale der Gottheit, deren Gewölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter die Sterne, deren Chorknaben die Jahrszeiten sind, welche Düfte schwingen in den Rauchfässern der Blumen, gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe lieset und Freuden austeilt zum Abendmahl unter der Kirchenmusik, welche die Ströme und die Gewitter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze der Erinnerung zählen - so spielt man mit dir -?
H.v.Kleist, Brief vom 16. August 1801, zit. nach Sämtliche Werke und Briefe Band II, Hrsg. Helmut Sembdner, Hanser 1985 S. 689fHeinrich Heines Philister-Spott
Wie immer hat Heinrich Heine seine eigene Sicht auf dieses moderne bürgerliche Vergnügen:
XXXVII
Philister in Sonntagsröcklein
Spazieren durch Wald und Flur;
Sie jauchzen, sie hüpfen wie Böcklein,
Begrüßen die schöne Natur.
Betrachten mit blinzelnden Augen,
Wie alles romantisch blüht;
Mit langen Ohren saugen
Sie ein der Spatzen Lied.
Ich aber verhänge die Fenster
Des Zimmers mit schwarzem Tuch;
Es machen mir meine Gespenster
Sogar einen Tagesbesuch.
Die alte Liebe erscheinet,
Sie stieg aus dem Totenreich,
Sie setzt sich zu mir und weinet,
Und macht das Herz mir weich.
aus: Buch der Lieder. Lyrisches Intermezzo (v. 1824)
- Zum Thema "Philister" und "Spießer" in der deutschen Literatur siehe Spießer oder Genie? Auch eine Literaturgeschichte (von K.Dautel)