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Version vom 4. Juni 2005, 20:34 Uhr

Großbrand und Tsunami in Lissabon 1755

Das Erdbeben von Lissabon 1755

Immanuel Kant

Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat von Immanuel Kant. In: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Abt.1. Bd.1. Berlin 1910 S.434 ff

Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen. Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben. (...)
Das Erdbeben und die Wasserbewegung vom 1. November 1755.
Der Augenblick, in dem dieser Schlag geschah, scheint am richtigsten auf 9 Uhr 50 Minuten Vormittags zu Lissabon bestimmt zu sein, diese Zeit stimmt genau mit derjenigen, da es in Madrid wahrgenommen worden, nämlich 10 Uhr 17 bis 18 Minuten, wenn man den Unterschied der Länge beider Städte in den Unterschied der Zeit verwandelt. Zu derselben Zeit wurden die Gewässer in einem erstaunlichen Umfange, sowohl diejenige, die mit dem Weltmeere eine sichtbare Gemeinschaft haben, als auch welche darin auf eine verborgene Art stehen mögen, in Erschütterung gesetzt. Von Abo in Finnland an bis in den Archipelagus von Westindien sind wenig oder gar keine Küsten davon frei geblieben. Sie hat eine Strecke von 1500 Meilen fast in eben derselben Zeit beherrscht. Wenn man versichert wäre, daß die Zeit, darin sie zu Glückstadt an der Elbe verspürt worden, nach den öffentlichen Nachrichten ganz genau auf 11 Uhr 30 Minuten zu setzen wäre, so würde man daraus schließen, daß die Wasserbewegung 15 Minuten zugebracht habe, von Lissabon bis an die holsteinischen Küsten zu gelangen. In eben dieser Zeit wurde sie auch an allen Küsten des Mittelländischen Meeres verspürt, und man weiß noch nicht die ganze Weite ihrer Erstreckung.
Die Gewässer, die auf dem festen Lande von aller Gemeinschaft mit dem Meere scheinen abgeschnitten zu sein, die Brunnquellen, die Seen, wurden in vielen weit von einander entlegenen Ländern zu gleicher Zeit in außerordentliche Regung versetzt. Die meisten Seen in der Schweiz, der See bei Templin in der Mark, einige Seen in Norwegen und Schweden geriethen in eine wallende Bewegung, die weit ungestümer und unordentlicher war als bei einem Sturme, und die Luft war zugleich stille. Der See bei Neuchatel, wenn man sich auf die Nachrichten verlassen darf, verlief sich in verborgene Klüfte, und der bei Meiningen that dieses gleichfalls, kam aber bald wiederum zurück. In eben diesen Minuten blieb das mineralische Wasser zu Töplitz in Böhmen plötzlich aus und kam blutroth wieder. Die Gewalt, womit das Wasser hindurch getrieben war, hatte seine alte Gänge erweitert, und es bekam dadurch einen stärkern Zufluß. Die Einwohner dieser Stadt hatten gut te Deum laudamus zu singen, indessen daß die zu Lissabon ganz andere Töne anstimmten. So sind die Zufälle beschaffen, welche das menschliche Geschlecht betreffen. Die Freude der einen und das Unglück der andern haben oft eine gemeinschaftliche Ursache. Im Königreich Fez in Afrika spaltete eine unterirdische Gewalt einen Berg und goß blutrothe Ströme aus seinem Schlunde. Bei Angoulême in Frankreich hörte man ein unterirdisches Getöse, es öffnete sich eine tiefe Gruft auf der Ebene und hielt unergründliches Wasser in sich. Zu Gçmenos in Provence wurde eine Quelle plötzlich schlammicht und ergo sich darauf roth gefärbt. Die umliegende Gegenden berichteten gleiche Veränderungen an ihren Quellen. Alles dieses geschah in denselben Minuten, da das Erdbeben die Küsten von Portugal verheerte. Es wurden auch hin und wieder in eben diesem kurzen Zeitpunkte einige Erderschütterungen in weit entlegenen Ländern wahrgenommen. Allein sie geschahen fast alle dicht an der Seeküste. Zu Cork in Irland, imgleichen zu Glückstadt und an einigen andern Orten, die am Meere liegen, geschahen leichte Bebungen. Mailand ist vielleicht derjenige Ort, der noch in der weitesten Entfernung von dem Seeufer an eben demselben Tage erschüttert worden. Eben diesen Vormittag um 8 Uhr tobte der Vesuvius bei Neapolis und ward stille gegen die Zeit, da die Erschütterung zu Portugal geschah.

Quelle: http://www.ikp.uni-bonn.de/cgi-bin/Kant/lade.pl?1&/volltext/Ka01434.htm

J.W.Goethe

Johann Wolfgang Goethe
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.

Erstausgabe Tübingen, Cotta 1811, 1812, 1814. (Zitiert nach Hamburger Ausgabe Bd. IX S.30f)

Erster Teil, Erstes Buch

Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.
Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt, und die durch fremdes Unglück aufgeregten Gemüter wurden durch Sorgen für sich selbst und die Ihrigen um so mehr geängstigt, als über die weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer mehrere und umständlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.

Heinrich v. Kleist

Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili (1807/1810)

"Eben stand er ... an einem Wandpfeiler und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an eine Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefugt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub. Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte sterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte.
Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. Als Jeronimo das Tor erreicht, und einen Hügel jenseits desselben bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder."

Die Erzählung erschien 1807 in Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« unter dem Titel "Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben in Chili". Am 13. Mai 1647 zerstörte ein Erdbeben in Chile die Hauptstadt Santiago. Vermutlich wurde Kleist auch durch Kants Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens von 1755 angeregt.

Theodizee-Diskussion

Tobias Bott veröffentlicht auf den Seiten www.tobias-bott.de seine Zulassungsarbeit:

"Der Umsturz aller Verhältnisse? Kleists Erdbeben in Chili als Beitrag zur Theodizeediskussion nach dem Erdbeben von Lissabon."

Darin werden auch die wichtigsten Bilddokumente und Links zu den einschlägigen Forschungseinrichtungen aber auch zu neu erschienen Dissertationen, die sich mit dem Erdbeben von Lissabon beschäftigen, angeboten. Hier einige einleitende Sätze:

„Entsetzt, bestürzt, seiner Sinne nicht mächtig, über und über blutend und zitternd, 
sagte Candide sich: >Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, 
wie müssen dann erst die anderen sein?<“ 

"Dieses Zitat aus Voltaires beißender Satire auf die Optimismus-Philosophie ist bezeichnend für die literarische Diskussion, die sich nach dem Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 entwickelte. Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt wurde nun auch auf dem literarischen Feld ausgetragen und bekam nicht zuletzt durch diese öffentliche Diskussion den Rang eines "außerordentlichen Weltereignisses“ zugesprochen. Nahezu alle zeitgenössischen Dichter und Philosophen beteiligten sich in den folgenden Jahrzehnten an dieser teleologischen Diskussion, u.a. Gottsched, Lessing, Kant, Goethe, Rousseau und Voltaire. Das Erdbeben führte nicht nur zu einer Erschütterung der Erde, sondern das unerklärliche Leid bewirkte auch eine Erschütterung des allgemeinen Sinnzusammenhangs und führte zu einer ernsten Krise der Philosophie des metaphysischen Optimismus. "

Zeitgenössische Bilder

Das [http://nisee.berkeley.edu/lisbon/ National Information Service for Earthquake Engineering University of California, Berkeley] zeigt und kommentiert auf seinen Seiten zeitgenössische Bidler und Stiche vom Erdbeben

"The images presented here are taken from the NISEE Kozak Collection of Images of Historical Earthquakes.
Although not the strongest or most deadly earthquake in human history, the 1755 Lisbon earthquake's impact, not only on Portugal but on all of Europe, was profound and lasting. Depictions of the earthquake in art and literature can be found in several European countries, and these were produced and reproduced for centuries following the event, which came to be known as "The Great Lisbon Earthquake."
The earthquake began at 9:30 on November 1st, 1755, and was centered in the Atlantic Ocean, about 200 km WSW of Cape St. Vincent. The total duration of shaking lasted ten minutes and was comprised of three distinct jolts. Effects from the earthquake were far reaching. The worst damage occurred in the south-west of Portugal. Lisbon, the Portuguese capital, was the largest and the most important of the cities damaged. Severe shaking was felt in North Africa and there was heavy loss of life in Fez and Mequinez. Moderate damage was done in Algiers and in southwest Spain. Shaking was also felt in France, Switzerland, and Northern Italy. A devastating fire following the earthquake destroyed a large part of Lisbon, and a very strong tsunami caused heavy destruction along the coasts of Portugal, southwest Spain, and western Morocco.


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