Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft''' von {{wpde|Herfried Münkler}} und {{wpde|Marina Münkler}} entwirft ein politisches Programm, wie Deutschland mit der hohen Zahl von [[Migration|Flüchtlinge]]n, die seit [https://wiki.zum.de/wiki/Fl%C3%BCchtlingskrise_in_Europa_ab_2015 ab Sommer 2015] eingetroffen sind, umgehen soll. Dies fasst er in 11 Imperative für eine gelingende Flüchtlingsintegration. Außerdem nennt er fünf Kriterien ("Identitätsmarker"), die, wenn sie erfüllt sind, jeden Migranten außer Zweifel setzen sollten, dass er ein geeigneter deutscher Staatsbürger wäre. Auch wenn er sie auch als "Merkmale des Deutschseins" bezeichnet, stellt er klar, dass sie ''nicht'' Minimalvoraussetzungen des Deutschen beschreiben. Deutscher könne man auch sein, ohne diese Kriterien zu erfüllen. Aber bei Vorhandensein dieser Identitätsmarker gebe es trotz aller anderen Eigenschaften einer Person, die sie von anderen Kulturen und Ethnien mitbringe, keine Rechtfertigung, sie nicht als deutsch anzuerkennen.<ref>"Eine solche normative Identitätszuschreibung ändert nichts daran, dass diejenigen, die qua Geburt Deutsche sind, dies auch bleiben, wenn sie den Vorgaben dieser Zuschreibung nicht genügen. Aber sie haben dann keine Möglichkeiten mehr, diejenigen, die dieser Zuschreibung genügen und Deutsche werden wollen beziehungsweise es geworden sind, von der Zugehörigkeit auszuschließen"</ref> Dies ist offenbar der Versuch, Kriterien zu finden, die an die Stelle der umstrittenen {{wpde|Leitkultur#Der_Begriff_der_.E2.80.9Edeutschen_Leitkultur.E2.80.9C_in_der_politischen_Diskussion|"deutschen Leitkultur"}} treten können.  
'''Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft''' von {{wpde|Herfried Münkler}} und {{wpde|Marina Münkler}} entwirft ein politisches Programm, wie Deutschland mit der hohen Zahl von [[Migration|Flüchtlinge]]n, die seit [https://wiki.zum.de/wiki/Fl%C3%BCchtlingskrise_in_Europa_ab_2015 Sommer 2015] eingetroffen sind, umgehen soll. Dies fasst er in 11 Imperative für eine gelingende Flüchtlingsintegration. Außerdem nennt er fünf Kriterien ("Identitätsmarker"), die, wenn sie erfüllt sind, jeden Migranten außer Zweifel setzen sollten, dass er ein geeigneter deutscher Staatsbürger wäre. Auch wenn er sie auch als "Merkmale des Deutschseins" bezeichnet, stellt er klar, dass sie ''nicht'' Minimalvoraussetzungen des Deutschen beschreiben. Deutscher könne man auch sein, ohne diese Kriterien zu erfüllen. Aber bei Vorhandensein dieser Identitätsmarker gebe es trotz aller anderen Eigenschaften einer Person, die sie von anderen Kulturen und Ethnien mitbringe, keine Rechtfertigung, sie nicht als deutsch anzuerkennen.<ref>"Eine solche normative Identitätszuschreibung ändert nichts daran, dass diejenigen, die qua Geburt Deutsche sind, dies auch bleiben, wenn sie den Vorgaben dieser Zuschreibung nicht genügen. Aber sie haben dann keine Möglichkeiten mehr, diejenigen, die dieser Zuschreibung genügen und Deutsche werden wollen beziehungsweise es geworden sind, von der Zugehörigkeit auszuschließen"</ref> Dies ist offenbar der Versuch, Kriterien zu finden, die an die Stelle der umstrittenen {{wpde|Leitkultur#Der_Begriff_der_.E2.80.9Edeutschen_Leitkultur.E2.80.9C_in_der_politischen_Diskussion|"deutschen Leitkultur"}} treten können.  


== Kurzfassung der Imperative und Identitätsmarker ==
== Kurzfassung der Imperative und Identitätsmarker ==

Version vom 16. Juni 2020, 09:03 Uhr

Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft von Herfried MünklerWikipedia-logo.png und Marina MünklerWikipedia-logo.png entwirft ein politisches Programm, wie Deutschland mit der hohen Zahl von Flüchtlingen, die seit Sommer 2015 eingetroffen sind, umgehen soll. Dies fasst er in 11 Imperative für eine gelingende Flüchtlingsintegration. Außerdem nennt er fünf Kriterien ("Identitätsmarker"), die, wenn sie erfüllt sind, jeden Migranten außer Zweifel setzen sollten, dass er ein geeigneter deutscher Staatsbürger wäre. Auch wenn er sie auch als "Merkmale des Deutschseins" bezeichnet, stellt er klar, dass sie nicht Minimalvoraussetzungen des Deutschen beschreiben. Deutscher könne man auch sein, ohne diese Kriterien zu erfüllen. Aber bei Vorhandensein dieser Identitätsmarker gebe es trotz aller anderen Eigenschaften einer Person, die sie von anderen Kulturen und Ethnien mitbringe, keine Rechtfertigung, sie nicht als deutsch anzuerkennen.[1] Dies ist offenbar der Versuch, Kriterien zu finden, die an die Stelle der umstrittenen "deutschen Leitkultur"Wikipedia-logo.png treten können.

Kurzfassung der Imperative und Identitätsmarker

Imperative

1. Verhindern, dass Migranten das Gefühl entwickeln, überflüssig zu sein

2. Frauen der Migranten einbeziehen, wenn sie nicht über Arbeit integriert sind

3. Die Verschleierung von Frauen, die aus ländlichen Räumen kommen, muss anders bewertet werden als die von Frauen aus urbanen Räumen. Dafür brauchen Betreuer weite Entscheidungsspielräume.

4. Schulen und ihr Umfeld sind so zu gestalten, dass sie der Integration dienen. Das heißt: Schulen mit einem Migrantenanteil deutlich über 40% sind zu vermeiden.

5. Jugendlichen muss eine langfristige Lebensplanung attraktiv gemacht werden.

6. Man muss berücksichtigen, dass die Gründe für Verhaltensweisen oft nicht in der Religion, sondern in sozialen Faktoren liegen.

7. Schulen müssen als Hebel zur Öffnung von Parallelgesellschaften genutzt werden.

8. Neuankömmlinge dürfen nicht durch unveränderbare Arbeitsmarktregeln benachteiligt werden.

9. Schon ausländische Namen können zu Diskriminierung führen. Dennoch muss sichergestellt werden, dass Diskriminierung eine Ausnahme bleibt.

10. Arbeitspolitische Maßnahmen müssen immer auf zivilgesellschaftliche Folgen geprüft werden, damit nicht wieder die Abkehr von Integration staatlich subventioniert wird, wie es bei türkischen Einwandererfamilien geschah.

11. Es muss verhindert werden, dass Flüchtlinge so lange vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, dass sie "eine Mentalität des Passiven" entwickeln.

Identitätsmarker

1. Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen

2. Vertrauen in die Solidargemeinschaft

3. Überzeugung, dass Religion eine Privatsache ist

4. Überzeugung, dass Berufswahl, Lebensweise und Wahl eines Ehepartners individuell und nicht von der Familie entschieden werden sollen

5. Bekenntnis zum Grundgesetz

Zitate

Einleitung: Pascals Wette

"Wer auf das Scheitern der Integration setzt, verliert in jedem Fall, und nur wer auf den Erfolg setzt, hat eine Gewinnchance."

"Durch die Neuankömmlinge ist eine Situation entstanden, die, unabhängig von allem Abwägen, einen Gewinn für unsere Gesellschaft darstellt. Das ist schon aufgrund des Erfordernisses der Fall, über die eigene Kollektividentität neu nachzudenken und dabei zu klären, was für sie elementar und unverzichtbar ist und was eher einer vergangenen geschichtlichen Etappe angehört. Eine derartige kollektive Selbstreflexion hat, wenn sie nicht auf eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft hinausläuft, die Wirkung eines Jungbrunnens, in dem sich eine politische Ordnung ihrer selbst vergewissert und sich so erneuert. Solche Selbsterneuerungen sind sonst zumeist mit Krisen und Katastrophen verbunden, im deutschen Fall etwa mit verlorenen Kriegen. Es ist die Herausforderung durch das Fremde, die gegenwärtig an deren Stelle tritt, die Beschäftigung mit dem Anderen, aus der die Vergewisserung des Eigenen erwächst. Die Katastrophe der Anderen, von der die Flüchtlinge, die «Boten des Unglücks», künden, ersetzt die Erfahrung der eigenen Katastrophe – jedenfalls dann, wenn man der Botschaft der Flüchtlinge nicht mit mürrischer Gleichgültigkeit begegnet."

1. Grenzen, Ströme, Kreisläufe – wie ordnet sich eine Gesellschaft?

Eine Welt in Bewegung: die jüngsten Flüchtlingsströme

"Je länger der Weg ist, den man hinter sich gebracht hat, desto schwerer fällt der Entschluss zurückzukehren. Das muss eine Politik bedenken, die Flüchtlingsrouten sperrt und mit Appellen versucht, die Flüchtlinge zur Umkehr zu bewegen."[2]

Wohlstandszentren, Arbeitskräftewanderung und Bevölkerungsentwicklung

"Es sind nicht nur die Einwanderungsländer, wie man zurzeit meinen könnte, sondern auch die «abgebenden» Länder, die sich um eine Begrenzung, zumindest eine Kontrolle der Migration bemühen."

"Politische Ordnung beginnt mit der Unterteilung des Raums in Räume, und das erfolgt durch Grenzziehung. Ein Raum ohne Grenzen ist ein Raum ohne politische Ordnung."

"Während sich die USA, Kanada und Australien durch eine entsprechende Einwanderungspolitik die Zuwanderer aussuchen, die sie brauchen und die zu ihnen passen, tun die Europäer das genaue Gegenteil; in der Konkurrenz zwischen Nordamerika und Europa wird das über kurz oder lang Auswirkungen haben."

Grenzregime und Strömelenkung in der Geschichte

Zur Entwicklung in Europa:

"Die Grenze wurde zu einer dreifachen Codierung des Raumes: Sie markierte den Geltungsbereich einer Rechtsordnung mit politischen Loyalitätserwartungen, den einer Wirtschaftsordnung und den der nationalen Zugehörigkeit. Sie war das bedeutsamste Element im europäischen Staatensystem. [...] Das Europaprojekt, dessen schrittweises Vorankommen die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Anspruch genommen hat, kann als Rücknahme beziehungsweise Überwindung des Staatensystems angesehen werden; [...] Die Flüchtlingsströme nach Europa, vor allem aber die stark durch nationalstaatliche Vorstellungen geprägten Reaktionen darauf, haben jedoch das Niveau der europäischen Integration inzwischen wieder in Frage gestellt, und es ist nicht auszuschließen, dass auf das halbe Jahrhundert zunehmender Verflechtung des europäischen Raumes nun eine Periode nationalstaatlicher Abschottung folgt."

Das Migrationssystem von Stadt und Land: eine Ordnung ausgleichender Stabilisierung

"«Zuwanderung ist konstitutiver Bestandteil von Stadtentwicklung. Ohne Zuwanderung gibt es nicht nur kein Bevölkerungswachstum, selbst Stabilität der Bevölkerung würde es in den Großstädten ohne Zuwanderung nicht geben. [...] Stadt und Land bildeten ein sich gegenseitig stabilisierendes System des Bevölkerungsausgleichs, in dem beide voneinander profitierten: [...] Das Stadt-Land-Modell, das sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts als System der ausgleichenden Stabilisierung im regionalen Rahmen bewährt hat, ist heute auf großräumliche, wenn nicht globale Zusammenhänge zu übertragen. In globaler Hinsicht hat der reiche Norden – die USA und Kanada sowie einige Länder der EU – die Rolle der Stadt übernommen, während der Süden die frühere Rolle des Landes innehat: auf der einen Seite die Organisation der wirtschaftlichen Prozesse und die Industrieproduktion, auf der anderen Seite die demographische Reserve, die der Norden braucht, [...] Der Norden ist im Unterschied zur klassischen Stadt nicht von der Versorgung mit Lebensmitteln abhängig. Der Süden ist seinerseits nicht mehr ländlich strukturiert, sondern weist eine Reihe von «Megacities» auf, die eine weitaus größere Bevölkerungszahl haben als die Städte des reichen Nordens. Die klassische Stadt-Land-Beziehung ist dadurch aus dem Gleichgewicht geraten: Der Süden bringt einen größeren Bevölkerungsüberschuss hervor, als der Norden aufnehmen kann und für seine soziale Reproduktion braucht, was die Konflikte um knappe Ressourcen im Süden schürt; und der Norden exportiert seine Überschüsse, auch solche an Lebensmitteln, zu Billigpreisen in den Süden und zerstört damit die dortigen Produktionsstrukturen, was die Überlebenskriege des Südens weiter verschärft."

Philosophien des Nomadismus und der Sesshaftigkeit

"Die Imaginationen von Heimat, seien sie nun Erinnerung oder Projektion, naiv oder philosophisch elaboriert, auf den Raum der Herkunft bezogen oder als ein Unternehmen der Ankunft entworfen, kreisen um den bestimmten Ort, die stete Bleibe, und stellen damit die Sesshaftigkeit als Realisierung des menschlichen Lebenstraums heraus. Dem stehen Konzeptionen eines neuen Nomadismus gegenüber, in denen der stete Wechsel und die permanente Ortsveränderung als Königsweg menschlicher Selbstverwirklichung beschrieben werden."

"Die Anhänger einer radikal liberalen Bewegungsfreiheit und eines Rechts auf freie Wohnortwahl haben schlichtweg die Dialektik zwischen Offenheit und Geschlossenheit einer Gesellschaft übersehen: Nicht immer nämlich führt eine weitere Öffnung der Räume zu mehr Offenheit, und mitunter muss Offenheit durch eine Politik der Schließung verteidigt werden."

"Nicht die physischen Kapazitäten einer Gesellschaft entscheiden danach über ihre Fähigkeit, Fremde aufzunehmen, sondern die Belastbarkeit des Vertrauens im Sinne einer Voraussetzung gesellschaftspolitischer Identität."

Die Begegnung mit dem Fremden: Zwei Typen der Stadt

"Die Stadt, die Großstadt jedenfalls, ist der Raum, wo der Fremde und das Fremde dauerhaft fremd bleiben können, wenn sie dies wollen; der Ort der Multiethnizität, der Vielsprachigkeit und der unterschiedlichen religiösen Bekenntnisse. Die deutsche Bevölkerungsstatistik zeigt am Ende des 20. Jahrhunderts, dass 80 Prozent der Ausländer, aber nur 58 Prozent der Deutschen in Städten mit über 100000 Einwohnern leben; «die Ballungsräume im Westen Deutschlands haben einen doppelt so hohen Migrantenanteil wie die ländlichen Räume, die Kernstädte sogar einen dreifach so hohen Anteil». Es ist darum auch nicht verwunderlich, dass die meisten Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland kommen, in größeren Städten und nicht auf dem Land, in Kleinstädten oder Dörfern, leben wollen. Im kleinstädtisch-dörflichen Bereich ist aber die Integrationschance vergleichsweise größer als in der Großstadt, weil die Fremden hier zu sozialen Kontakten mit den Eingesessenen gezwungen sind."

"Die Megalopolis des Vorderen Orients war wohl zu begrenzter Selbstverwaltung, nicht jedoch zur Selbstregierung fähig, und das hatte auch mit der Vielfalt des Fremden in ihrem Raum zu tun."

"Die Frage, ob gesellschaftliche Veränderungen und der Wandel in der Lebensführung der Menschen stärker durch strukturelle Modernisierung oder durch den Einfluss neuer Ideen bestimmt werden, kann hier zunächst offenbleiben; sie wird im weiteren Fortgang der Überlegungen aber immer wiederauftauchen, weil sie von entscheidender Bedeutung für die Erfahrung des Fremden ist."

"Kompensationsmechanismen einer unterbestimmten, also für persönliche Wahlentscheidungen offenen Lebensführung [...] Kindertagesstätten eine kompensatorische Voraussetzung dafür, dass Frauen ihre Berufstätigkeit mit der Geburt von Kindern nicht mehr aufgeben. Und der Aufbau einer gesetzlichen Pflegeversicherung kompensiert, dass die Pflege der Alten nicht mehr selbstverständlich von den Töchtern oder Schwiegertöchtern erwartet werden kann."

2. Der moderne Wohlfahrtsstaat, die offene Gesellschaft und der Umgang mit Migranten

Staatliche Kontrolle und rechtliche Selbstbindung

"Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie – im Unterschied zu traditionalen Gesellschaften – die Lebensführung der Menschen weitgehend unbestimmt lassen: Wie ein Lebensweg verläuft, ist durch Geschlecht und Herkunft nicht mehr definitiv festgelegt."

"Die Frage, ob gesellschaftliche Veränderungen und der Wandel in der Lebensführung der Menschen stärker durch strukturelle Modernisierung oder durch den Einfluss neuer Ideen bestimmt werden, kann hier zunächst offenbleiben; sie wird im weiteren Fortgang der Überlegungen aber immer wiederauftauchen, weil sie von entscheidender Bedeutung für die Erfahrung des Fremden ist."

Um ein Leben zu ermöglichen, das dem einzelnen erlaubt, freie persönliche Entscheidungen zu treffen, muss die moderne Gesellschfat Kompensationsmechanismen bieten, die die Absicherung durch den familiären Zusammenhang in der traditionalen Gesellschaft ersetzen. So sind "Kindertagesstätten eine kompensatorische Voraussetzung dafür, dass Frauen ihre Berufstätigkeit mit der Geburt von Kindern nicht mehr aufgeben. Und der Aufbau einer gesetzlichen Pflegeversicherung kompensiert, dass die Pflege der Alten nicht mehr selbstverständlich von den Töchtern oder Schwiegertöchtern erwartet werden kann."

Die doppelte Verwundbarkeit des Sozialstaats

"Man kann die für die Befähigung der Flüchtlinge anfallenden Kosten im Unterschied dazu auch als Investition ansehen, die erforderlich ist, um die aufgrund der biologischen Reproduktionsdefizite notwendig gewordene soziale Reproduktion auf einen dem deutschen Arbeitsmarkt entsprechenden Stand zu bringen. Das ist die Sicht derer, die um die große Verwundbarkeit des Sozialstaats wissen und nach Möglichkeiten suchen, dieses Problem zu lösen. Sie sind sich, sofern sie nicht romantischen Illusionen anhängen, darüber im Klaren, dass es ein Weg ist, auf dem man auch scheitern kann: an der notorischen Ablehnung der Neuankömmlinge durch die deutsche Gesellschaft, die deren Integration verweigert; an den unzulänglichen Bildungsvoraussetzungen der Migranten, die keine hinreichende Befähigung mehr zulassen; an deren mangelnder Sozialdisziplin oder einer unüberbrückbaren kulturellen Fremdheit; und schließlich daran, dass gerade die erfolgreich Ausgebildeten nicht in Deutschland bleiben, sondern in andere Länder weiterziehen oder in ihre Heimat zurückkehren. Es sind die Verwundbarkeiten des Sozialstaats, die den Deutschen nahelegen, nicht nur aus begründeten humanitären Verpflichtungen zu helfen, sondern auch sorgsam und klug mit den Neuankömmlingen umzugehen, weil diese nicht nur auf die Hilfsbereitschaft der Deutschen, sondern die Deutschen auch auf die Integrationsbereitschaft der jetzt Angekommenen angewiesen sind."

Ressentiment gegen Flüchtlinge versus Befähigung der Neuankömmlinge

Das Ressentiment gegen Migranten, das ihnen "eine absichtliche Schädigung des deutschen Steuerzahlers unterstellt, liefert die «moralische» Begründung dafür, sie zurückzuweisen". Dabei wird geflissentlich übersehen, dass sie des öfteren "von ihren Bildungs- und Ausbildungsvoraussetzungen her den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarkts nicht genügen oder dass das Asylrecht in Deutschland sie zunächst an der Arbeitssuche hindert".

"Es ist die erzwungene Passivität, die ihnen von jenen, die voller Ressentiments sind, anschließend als Faulheit ausgelegt wird. Befähigung ist also das im Vorgriff auf die Zukunft erteilte Zugeständnis von Selbstbestimmtheit – in Verbindung mit der nachgelagerten Möglichkeit der Selbsterhaltung."

"Neben der Befähigung, sich erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren, geht es um die Teilhabe am «kulturellen Kapital», und erst wenn diese Teilhabe ermöglicht ist, kann von einer umfassend gelungenen Integration der Neuankömmlinge in die Aufnahmegesellschaft die Rede sein."

"So sind von den 14 Millionen Personen, die zwischen 1959 und 1973 (dem Jahr des Anwerbestopps) als Arbeitskräfte nach Deutschland kamen, 11 Millionen in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt.[2] Überschlägig 20 Prozent sind geblieben, während 80 Prozent wieder gegangen sind – was im Übrigen seitens der deutschen Politik auch so gewollt war.[3] Es handelte sich also um eine Arbeitsmigration, [...]"

"Eine Alternative zur temporären oder zirkulären Migration, die nach geraumer Zeit in die Herkunftsgebiete zurückführt, ist die Entstehung von Diasporagemeinden im Ankunftsland. Diese dienen als Brückenköpfe einer Kettenwanderung, durch die immer weitere Migranten ins Zielland gelangen. Migranten gehen fast immer dorthin, wo sich Diasporagemeinden aus ihren Herkunftsländern gebildet haben, weil ihnen dort geholfen wird, sich in dem fremden Land zu orientieren."

Allerdings "resultieren aus solchen Migrantennetzwerken soziale Verpflichtungen, denen die mit Hilfe dieser Netzwerke Migrierenden nachkommen müssen. Das gilt erst recht für die Netzwerke der Schlepper und Schleuser, die bei den jüngsten Migrationsströmen eine zentrale Rolle spielen. Teilweise werden die Verpflichtungen von den Migranten mit Geld abgegolten,[5] teilweise entstehen dabei aber auch sklavenähnliche Abhängigkeiten, wie sie vor allem bei jungen Schwarzen zu beobachten sind, die als «Ticker» in der Drogenszene die Beträge «abverdienen» müssen, die ihre Einschleusung nach Europa angeblich gekostet hat.[6] Diese Drogen- oder auch Sexsklaven bestimmen im Vergleich zu anderen Migranten zweifellos nicht mehr über sich selbst."

Der "zentrale Unterschied zwischen Arbeitsmigranten und Bürgerkriegsflüchtlingen" lässt sich nicht recht bestimmen, weil der Bürgerkrieg oft eine unerträgliche wirtschaftliche Notlage herbeiführt.

3. Migrantenströme und Flüchtlingswellen: alte Werte, neue Normen, viele Erwartungen

Alles fließt: die Metaphorik des Fluiden

"Die Kritik ist im Übrigen verstummt, als klar wurde, dass gerade diese Metaphern die Vergeblichkeit des Vorhabens herausstellen, Migration durch die Errichtung von Mauern und Grenzzäunen zu blockieren: Ströme suchen sich, wenn sie auf physische Barrieren treffen, andere Wege, oder sie stauen sich so [...]

"Metaphern haben ihre eigenen Suggestionen, und die Metaphorik des Fluiden verweist darauf, dass Kanalisieren und Dämmen effektivere Reaktionsformen sind als Blockieren und Absperren."

Über Push- und Pullfaktoren und den Einfluss, den die Fernsehbilder von der Willkommenskultur in Afghanistan hervorriefen:

«O Scheiße, dachte ich», kommentiert Kermani das Gespräch, «so war das mit der Willkommenskultur nicht gemeint.»[8]

"Bei den Push-Faktoren sind relativ eindeutige Verbindungslinien zwischen den Ursachen und den eingetretenen Effekten zu identifizieren, während dies bei den Pull-Faktoren keineswegs der Fall ist. Hier spielen Kommunikationsverzerrungen und Missverständnisse eine sehr viel größere Rolle."

"Für den Populismus ist charakteristisch, dass er stets eine eindeutige Kausalität zwischen Ursache und Wirkung behauptet."

Das Leben im Exil und die Suche nach einer neuen Heimat: Fluchtursachen und der Faktor Zeit

„Über die längste Zeit der Geschichte war Migration von der Suche der Menschen nach wirtschaftlichen Subsistenzmöglichkeiten bestimmt; politischen Faktoren kam bei der Entstehung von Migrationsbewegungen so gut wie keine Bedeutung zu. Genuin politische Fluchtursachen hat es zwar immer gegeben, aber sie fielen zahlenmäßig nicht weiter ins Gewicht.[1] Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein war es nämlich immer nur ein Teil der gesellschaftlich-politischen Elite, der nach einem Umsturz oder einem gescheiterten Aufstand ins Exil gehen musste und anschließend von dort aus versuchte, die Macht zurückzuerobern und wieder in die Heimat zurückzukehren."

„Das Exil wurde so als eine zeitlich begrenzte Etappe im Machtkampf der politischen Eliten verstanden. Exil war eine Zwischenphase und sollte nicht zu einem Dauerzustand werden – auch wenn es das für manche dann tatsächlich wurde. Doch das lange währende Exil und der Tod in der Fremde wurden eher als das individuelle Schicksal eines Gescheiterten denn als eine Möglichkeit angesehen, auf die man sich einstellen sollte. Die Vorstellung von der Zeitweiligkeit des Exils galt noch für die meisten politischen Flüchtlinge des 19. Jahrhunderts, unter denen sich zunehmend auch Literaten, Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler befanden. Das trug erheblich zur wachsenden Flüchtlingszahl bei. Aber sie alle, auch die Polen, die im 19. Jahrhundert die Hauptgruppe der politischen Flüchtlinge stellten, sahen sich als Exilierte auf Zeit und hatten nicht die Absicht, den Ort des Exils zu ihrer neuen Heimat zu machen.[3]"

„Nicht machtpolitische Konflikte, sondern religiöse Gegensätze haben in der europäischen Geschichte Flucht und Vertreibung in ein Massenschicksal verwandelt und dafür gesorgt, dass die Erwartung, bald zurückzukehren, durch die Suche nach einer neuen Heimat in der Fremde abgelöst wurde. [...] Berlin zumal, wo die Hugenotten zeitweilig bis zu vierzig Prozent der Bevölkerung zählten, wurde nicht als Ort des Exils, sondern als neue Heimat angesehen."

"Arbeitsmigration kann, wie gezeigt, durchaus gesellschaftskonservierende Effekte haben; Flüchtlingswellen dagegen revolutionieren die sozialen Strukturen der Ausgangs- wie der Ankunftsländer [...] «Der Flüchtling hat die traditionellen und eher konservativen Milieus in Deutschland zersetzt und entschieden die ‹Entbäuerlichung› und die ‹Verstädterung› beschleunigt.»"

"Zurzeit ist noch nicht ausgemacht, ob es sich bei den Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak im klassischen Sinn um Exilanten auf Zeit handelt, wie es die Flüchtlinge waren, die im Verlauf der jugoslawischen Zerfallskriege nach Deutschland kamen. Sie kehrten nach dem Ende der Kriege zum überwiegenden Teil wieder in ihre Heimat zurück. [...] Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Afghanen, die nach Deutschland gekommen sind, bleiben wollen. Nach dreißig Jahren innergesellschaftlichem Krieg sehen sie für sich in Afghanistan keine Perspektive mehr und wollen das Land auf «Nimmerwiedersehen» verlassen. Sie sind Wirtschaftsmigranten und politische Flüchtlinge zugleich, und man darf bezweifeln, dass ein deutscher Entscheider im Rahmen des Asylverfahrens dies sauber auseinanderhalten kann, um am Ende zu sagen, die eine Person sei ein politischer Flüchtling mit begründetem Asylanspruch und die andere ein Wirtschaftsmigrant ohne genuin politischen Schutzanspruch. Das Problem dieser Menschen ist, dass sie zumeist selbst nicht wissen, was sie sind, politischer Flüchtling oder Arbeitsmigrant; und das Problem der deutschen Entscheider ist, dass sie auseinanderdividieren müssen, was aufgrund der bestehenden Konstellationen nicht auseinanderzudividieren ist."

Die Organisation der Flucht: Schlepper, Schleuser, Menschenschmuggler

"Ein junger Mann etwa, der seine Reise gründlich vorbereiten und sich ohne Anhang auf den Weg machen kann, hat eine bessere Ausgangslage als ein junger Mann, der unter dem Druck sich rapide verschlechternder Bedingungen überstürzt den Entschluss fasst zu fliehen und sich dabei um seine ganze Familie zu kümmern hat. Arbeitsmigranten haben entsprechend eine sehr viel bessere Risikobilanz als Bürgerkriegsflüchtlinge. Zudem bewegen sie sich häufig innerhalb seit längerem bestehender Netzwerke, während Bürgerkriegsflüchtlinge darauf angewiesen sind, sich in Netzwerke «einzukaufen», zu denen sie keine Vertrauensbeziehungen haben. Sie müssen, technisch gesprochen, ihr Defizit an sozialem Kapital durch den Einsatz von ökonomischem Kapital, also Bargeld, wettmachen."

"Die Routen gleichen den Heerstraßen früherer Jahrhunderte, am Wegesrand das, was die durchziehenden Menschenmassen zurückgelassen haben: Müll, zumal Plastikmüll, oder auch Rettungswesten und in sich zusammengefallene Schlauchboote an den Uferstreifen der griechischen Ägäisinseln. Und schließlich gehören auch die schnell wachsenden Friedhöfe dazu, auf denen diejenigen beigesetzt werden, die vor Erschöpfung gestorben oder im Meer ertrunken sind und an Land gespült wurden. [...] Was im 20. Jahrhundert das Grab des unbekannten Soldaten war, ist im 21. Jahrhundert zum Grab des unbekannten Flüchtlings geworden."

Über die Situation in Mossul unter der Herrschaft des Islamischen Staates:

"Da ist Tag für Tag Terror. Die einen üben ihn aus, die anderen werden terrorisiert. Was glauben Sie denn, warum ich hier bin? Ich hatte dort alles, Familie, ein Haus, zwei Autos, ich war jemand. Jetzt bin ich niemand."

"Will man es zuspitzen, so agieren die Staaten de facto zumindest als Preistreiber, wenn nicht als unbeholfene Helfershelfer der am stärksten kriminellen Elemente in der Schleuser- und Schlepperszene."

"Wer der Bundeskanzlerin vorwirft, ein doppeltes Spiel zu spielen, weil sie einerseits für die Willkommenskultur stehe und andererseits auf eine Stärkung der EU-Außengrenzen setze, hat das Problem, um das es geht, nicht verstanden." (sieh unten)

Der Fremde als Gast: Gastmetaphoriken in einer ungastlichen Welt

"Es ist frappierend, wie oft im Zusammenhang mit den Flüchtlingen vom Gastrecht die Rede ist, obwohl bereits mit der Entstehung des institutionellen Flächenstaats im Europa der Frühen Neuzeit das Fremdenrecht an die Stelle des Gastrechts getreten ist. Flüchtlinge und Migranten, die nach Deutschland kommen, werden gemäß den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention, des Asylrechts oder des Ausländerrechts behandelt."

Die Verfasser erläutern am Beispiel von Siegmunds Begegnung mit Hunding in Wagners WalküreWikipedia-logo.png und LotsWikipedia-logo.png Verteidigung seiner Gäste gegen die Einwohner Sodoms den Doppelcharakter des Fremden, den das Gastrecht einer vorrechtsstaatlichen Ordnung schützen und zugleich an Übergriffen auf die häusliche Ordnung hindern soll. Der Gott - Wotan bzw. der Gott des Alten Testaments - schützt das Gastrecht vor Übergriffen.

"In der Rede vom Fremden als einem Gast steckt die Selbstverpflichtung einer Gesellschaft, die Bereitschaft, ihn aufzunehmen, zu beherbergen und zu versorgen – und ihn nicht abzuweisen und vor der verschlossenen Tür stehenzulassen. Die Semantik der Gastlichkeit ist ein Sich-Einrichten darauf, dass man das auch will und kann. Politisch operativ hat die Gastsemantik jedoch keine Relevanz, und hinsichtlich der rechtlichen Regelungen bei der Aufnahme von Migranten ist sie eher irreführend. Aber für die Problemwahrnehmung einer Gesellschaft ist sie von allergrößter Bedeutung. Das hat sich selten so deutlich gezeigt wie in der jüngsten Flüchtlingskrise."

Normative Selbstbindungen im Umgang mit Bürgerkriegsflüchtlingen

"Wenn wir Montaigne und der an ihn anschließenden Judith Shklar folgen und Grausamkeit als das größte Laster ansehen – ein Laster, das im Übrigen nur den Menschen eigen ist, denn Tiere kennen es nicht –, so genügt es nicht, selbst nicht grausam zu sein. Vielmehr ergibt sich daraus eine für alle Menschen geltende Verpflichtung, Grausamkeit entschieden entgegenzutreten und den jeweiligen Möglichkeiten entsprechend alles zu tun, damit sie verhindert beziehungsweise beendigt wird. Sieht man sich nicht imstande, unmittelbar gegen die Grausamkeit einzuschreiten, dann impliziert das zumindest, dass man die Verpflichtung hat, die Folgen dieser Grausamkeit zu lindern. Gleichgültigkeit gegenüber Grausamkeit und ihren Folgen ist danach moralisch prinzipiell unzulässig."

"Und weil sich «der Westen» als eine solche Wertegemeinschaft versteht, als solche agiert und daraus auch Vorteile hat, obliegt ihm eine besondere Verpflichtung, sich für die Menschenrechte zu engagieren und dort einzugreifen, wo eine Politik der Grausamkeit über längere Zeit verfolgt wird. Diese Selbstverpflichtung ist zwar nicht einklagbar und insofern keine rechtliche, sondern eine politisch-moralische, aber sie ist auch nicht völlig willkürlich und dem Belieben der politischen Akteure überlassen."

"Auf der politischen Agenda der Europäischen Union stand die Syrienfrage jedenfalls nicht – bis der massenhafte Zustrom syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge auf der Balkanroute begann und das russische Militär in den syrischen Bürgerkrieg eingriff, um das Assad-Regime zu stützen."

"Angesichts dieses durchaus nachvollziehbaren Verzichts auf eine Intervention gab es eine erhöhte Verpflichtung der Europäer, den Flüchtlingen humanitär zu helfen."

"Ergänzt wird das Mitleid durch einen anderen zentralen Aspekt, der von denen negiert wird, die mit Blick auf die Flüchtlingshilfe von «naivem Gutmenschentum» sprechen: die Verantwortung für das Gemeinwesen, in das die Flüchtlinge aufgenommen werden. Diese Verantwortung wird keineswegs von denen übernommen, die sich vorgeblich um das Gemeinwesen sorgen, und schon gar nicht von denen, die für sich reklamieren, das «Volk» zu sein. Verantwortungsbewusst zeigen sich vielmehr diejenigen, die sich der Integration der Flüchtlinge, zumal in so großer Zahl, als einer auch an sie gerichteten Herausforderung stellen."

4. Deutschland, Europa und die Herausforderung durch die Flüchtlinge

Was ist eine Nation? Die deutsche Debatte über das kulturelle Selbstverständnis des Landes und die politische Spaltung der Gesellschaft

Die fortwährende Eurokrise, bei der es im Kern um die Überschuldung der südlichen EU-Länder geht, und der anhaltende Druck von Migrantenströmen nach Europa dürften dafür sorgen, dass die beiden Kernthemen der neuen Partei auf lange Zeit die politische Agenda bestimmen. Es ist also damit zu rechnen, dass sich die AfD längerfristig im bundesdeutschen Parteienspektrum ansiedeln wird. Und solange Angela Merkel Kanzlerin und CDU-Vorsitzende ist, werden die Christdemokraten die konservativen und rechtsnationalen Themen nicht wieder besetzen können; auch danach wird es ihnen schwerfallen, ihre alten Positionen zurückzuerobern. [...]

Das Integrationskonzept des Konvivialismus beruht nicht auf einer einseitigen Integration der Migranten in eine bestehende, in sich homogene Gesellschaft, sondern auf einer wechselseitigen Integration aller in eine Einwanderungsgesellschaft, in der die Bürger ein gemeinsames Leitbild haben. Der Konvivialismus ist die Kerntheorie der postmigrantischen Gesellschaft, in der Zusammenleben als ein symmetrischer Lernprozess begriffen wird. [...]

Damit wird greifbar, worum es bei der Flüchtlingsdebatte im Kern geht: Es geht um das Selbstbild der deutschen Gesellschaft, um ihre kulturellen, aber auch ihre politischen Leitvorstellungen, also letzten Endes um die Frage von Identität oder Diversität. Formuliert man das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft in dieser Zuspitzung, so wird auch klar, wogegen dessen Kritiker sich wenden: gegen das Ende des Hegemonialanspruchs, den die deutsche Kultur und Geschichte als Hüter der nationalen Identität bislang geltend gemacht hat.

Das schon von Immanuel Kant in die Debatte eingeführte Recht auf Hospitalität, das Fremde geltend machen können, wenn sie in ein anderes Land kommen, verlangt umgekehrt den Gästen nicht nur Respekt vor den bestehenden Eigentumsverhältnissen ab, sondern auch vor der dort angetroffenen Kultur und deren Gepflogenheiten, weil deren Hospitalität (Gastfreundschaft) sonst in Hostilität (Feindseligkeit) umschlagen würde. Dieser Respektanspruch gilt auch für das kollektive Gedächtnis der aufnehmenden Gesellschaft, in dem die zentralen Wendepunkte in deren Geschichte identitätsbestimmend festgehalten sind.[14] Weniger auf die Präsenz der Vergangenheit in der Erinnerungskultur einer Gesellschaft als auf die politische Handlungsfähigkeit in der Gegenwart bedacht ist dagegen der Einwand, dass gerade ethnisch und religiös heterogene Gesellschaften auf eine orientierende, also identitätsstiftende und handlungsleitende Großerzählung angewiesen sind, in der ein Selbstbild entworfen wird, das über die bloße Konstatierung von Heterogenität hinausgeht. Eine solche Großerzählung, so die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, die dieses Bedenken gegen eine auf permanenten Aushandlungsprozessen beruhende postmigrantische Diversität formuliert,[15] darf jedoch weder exklusiv noch homogenisierend sein. [...]

Die alte Bundesrepublik war in der Lage, eine Einheit zu schaffen, ohne dabei die vorhandene Vielfalt in einer homogenen Nationalkultur einzuebnen. Das hat sich seit dem Zusammenbruch der DDR und dem Beitritt der neuen Bundesländer geändert – nicht nur, weil im Osten eine gründlichere nationale Imprägnierung der politischen Vorstellungswelt anzutreffen war, sondern auch, weil die Republik angesichts ihrer gewachsenen Heterogenität sehr viel stärker auf eine vereinheitlichende Großerzählung angewiesen ist, als das in der Ära der Blockkonfrontation mit der verbreiteten – freilich wenig präzisen – Vorstellung der Fall war, dem «Westen» anzugehören. Nicht zuletzt die Krise der Europäischen Union und deren schwindende Akzeptanz in der Bevölkerung haben das Bedürfnis nach einer solchen Großerzählung wieder deutlich anwachsen lassen. [...]

Oder spielt die Idee des Nationalen auch in Zukunft eine größere Rolle bei der Formung politischer Ordnungen? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie das Nationale definiert wird: ethnisch oder soziokulturell? Als Exklusions- oder als Inklusionskategorie? [...]

Auch sind im Osten bei der Bestimmung von Identität viel mehr ethnische Vorstellungen im Spiel als im Westen, wo Identität vorwiegend kulturell bestimmt ist. Gleichzeitig gibt es im Osten eine größere Gewaltbereitschaft gegenüber Migranten und Flüchtlingen, und das, obwohl der Anteil von Fremden dort deutlich niedriger ist als im Westen. [...]

Die politische Spaltung der deutschen Gesellschaft ist demnach regional geprägt, und mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Proteste gegen Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünfte sich auch gegen eine Politik richten, die als vom Westen vorgeschrieben wahrgenommen wird. Das hat eine bittere Pointe, wenn man bedenkt, dass sowohl das Amt des Bundeskanzlers als auch das des Bundespräsidenten mit Personen besetzt ist, die aus Ostdeutschland stammen; [...]

Hinzu kommt der deutlich höhere Anteil von Arbeitslosen und prekären Beschäftigungsverhältnissen im Osten, womit die Sorge um soziale Sicherheit bei der Entwicklung von fremdenfeindlichen Dispositionen eine sehr viel stärkere Rolle spielt als im Westen – zumal sich nach den Massenentlassungen der 1990er Jahre und den damit verbundenen Abstiegserfahrungen kein vergleichbares Vertrauen in die Stabilität von Beschäftigungsverhältnissen entwickelt hat. [...]

Der vigilantistische Terror und die demonstrative Willkommenskultur

"Um die Rolle der Brandstiftungen zu begreifen, ist es erforderlich, einen kurzen Blick auf Struktur und Ziele des vigilantistischen Terrors zu werfen.[1] Der Begriff leitet sich ab vom lateinischen Wort vigiles, Nachtwachen. Er bezeichnet diejenigen, die sich selbst als Wächter und Hüter einer Gemeinschaft verstehen und sie mit Gewalt gegen vermeintliche Feinde verteidigen. Der amerikanische Ku-Klux-Klan ist ein typischer Vertreter dieser Art von Terror."

"Die Brandstiftungen gegen Flüchtlingsunterkünfte hatten allerdings einen weiteren paradoxen Effekt. Es gab für die Bundesregierung, als sich Ende August/Anfang September 2015 auf dem Budapester Bahnhof Keleti Tausende Flüchtlinge stauten, während sich gleichzeitig einige zehntausend Menschen auf der Balkanroute in Richtung Österreich und Deutschland bewegten, gar keine andere Wahl: Wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, vor dem rechtsextremistischen Terror eingeknickt zu sein oder gar die von den Rechtsextremisten eröffnete terroristische Abschreckungskampagne mit anderen Mitteln fortzusetzen, musste sie eine konsequente Politik der Grenzöffnung (also auch des Verzichts auf jedwede Obergrenze) verfolgen."

"Die grundlegende Entscheidung war gefallen, und der rechte Terror gegen Flüchtlingsunterkünfte hatte daran letzten Endes seinen ungewollten Anteil."

Die Angst vor Überfremdung und die Furcht vor muslimischen Parallelgesellschaften

"In der Verwandlung der Eigen-Fremd-Unterscheidung zu einer politischen Leitdifferenz zeigt sich zugleich ein zutiefst antiurbaner Affekt."

"Bürgertugend ist der Antipode des puren Eigeninteresses, und sie steht dafür, dass viele Bürger in ihrem Denken und Handeln stets das Gemeinwohl des Gesamtverbands im Auge behalten, dass sie, mit anderen Worten, bereit sind, ihren persönlichen Vorteil gegenüber dem Nutzen der Gemeinschaft hintanzustellen. [...] Deren Schwinden wurde mit dem Ende einer demokratisch-partizipatorischen Ordnung und ihrer Verwandlung in eine Oligarchie in eins gesetzt. Es kam danach alles darauf an, den Verlust der Bürgertugend abzuwenden, und nicht wenige Politiktheoretiker haben dafür Kriege und Krisen als geeignet angesehen. Das lässt sich auf die Flüchtlingskrise vom Spätsommer/Herbst 2015 übertragen: Tatsächlich hat der schier endlos scheinende Zustrom von Flüchtlingen in Deutschland die Zivilgesellschaft mobilisiert; bürgerschaftliches Engagement und Bürgertugend haben sich in einem Ausmaß gezeigt, wie man das zuvor nicht für möglich gehalten hätte."

"Doch der Rückzug von Teilgruppen in eine Gemeinschaft, die Distanz zu der sie umgebenden Gesellschaft hält, bleibt für die liberale Gesellschaft nicht folgenlos: Gerade weil sie zwecks Ermöglichung ihrer pluralen Offenheit auf die Ausbildung starker Kollektividentitäten verzichtet, fühlt sie sich durch die Entstehung einer geschlossenen Gemeinschaft in ihrer Mitte bedroht. Was beide Seiten verbindet, ist die Furcht voreinander, und das ist eine denkbar schlechte Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben. Die Vorstellung von einer multikulturellen Gesellschaft hat dieses Problem nicht wahrgenommen oder es zumindest unterschätzt. Für dieses Phänomen hat der Soziologe Wilhelm Heitmeyer den Begriff der ParallelgesellschaftWikipedia-logo.png geprägt; als empirischer Befund steht er für das Scheitern des Multikulti-Konzepts an der sozioökonomischen Realität der europäischen Länder. Parallelgesellschaft heißt, dass sich eine ethnisch oder religiös homogene Gruppe räumlich, sozial und kulturell von der Mehrheitsgesellschaft abschließt und gegen diese abschottet."

Die EU in der Flüchtlingskrise und der Versuch, den Schengenraum zu retten

"Doch diesmal scheint die alte Devise, wonach das Europaprojekt aus allen Krisen gestärkt hervorgegangen sei, nicht mehr zuzutreffen. Entgegen der Erwartung, dass Herausforderungen von außen zu größerer Geschlossenheit im Innern führen, zeigt sich die Europäische Union in jüngster Zeit zerrissener denn je; [...] Und in der Flüchtlingskrise schließlich war eine Dreiteilung der EU zu beobachten: Die Staaten auf der Balkanroute betrieben eine Politik der Grenzschließung und setzten darauf, dass ein Rückstau der Flüchtlinge die griechische Regierung nötigen werde, die EU-Außengrenze rigider zu sichern – und zwar mit Mitteln und Methoden, die sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch den gemeinsamen europäischen Werten widersprechen."

Die zweite Gruppe - und zwar die Mehrheit - erklärte sich für nicht zuständig. Die dritte Gruppe (Deutschland "und zeitweise auch Schweden und Österreich") versuchte das Problem zu lösen:

"Es ging nicht darum, Grenzen generell abzuschaffen, und keineswegs war in Vergessenheit geraten, dass politische Räume erst durch das Ziehen von Grenzen entstehen. Das ist in der Kritik an der Entscheidung der Bundesregierung [...] regelmäßig übersehen worden: Sie wollte nicht die Grenzen aufheben, sondern den SchengenraumWikipedia-logo.png aufrechterhalten, in dem sich die Flüchtlinge vom Bahnhof Keteli, um die es zu diesem Zeitpunkt konkret ging, ja bereits befanden."

5. Aus Fremden "Deutsche" machen

Vorüberlegungen zu einer erfolgversprechenden Integrationspolitik

[...] Es sind nämlich vor allem die «Illegalen», die abgelehnten und nicht abgeschobenen Asylbewerber, sowie die in den Großstädten in die Kleinkriminellenszene (und in einigen Fällen auch in die Schwerkriminalität) abgerutschten «Ausländer», die bei vielen in Deutschland das Bild der ins Land gekommenen Flüchtlinge prägen; das hat eine Stimmung hervorgerufen, die von Ablehnung bis Feindseligkeit reicht. Diese Stimmungslage wiederum vermindert die Chancen für eine erfolgreiche Integration aller anderen Neuankömmlinge, und so ist nicht auszuschließen, dass das, was zunächst lediglich ein Problem der Aufnahme und juristischen Einstufung der Flüchtlinge ist, das gesamte Integrationsprojekt misslingen lässt. Es ist darum angezeigt, das faktische Hineinzwingen der Flüchtlinge in Illegalität und Kriminalität so schnell wie möglich zu beenden. Eine vorausschauende Integrationspolitik, die zudem von dem Ziel angeleitet wird, die politische Spaltung Deutschlands in der Flüchtlingsfrage zu überwinden, muss hier den Hebel ansetzen. [...]

Flüchtlings- und Migrationspolitik auf der einen und Integrationspolitik auf der anderen Seite sind also nicht länger getrennt zu behandeln, sondern im Zusammenhang zu sehen, da keine von ihnen ohne die andere längerfristig erfolgreich sein kann. [...]

Entgegen der bestehenden Praxis, die Integrationsmaßnahmen nach den Vorgaben der juristischen Einstufungsmaschine selektiv zu vergeben, ist es darum sinnvoll, sämtliche in Deutschland angekommenen Migranten (allenfalls mit Ausnahme derer, bei denen feststeht, dass sie innerhalb weniger Wochen Deutschland wieder verlassen werden) so zu behandeln, als ob sie auf Dauer bleiben würden. Und wenn dann einige von denen, in deren Sprachkompetenz und berufliche Ausbildung investiert worden ist, in ihre Heimat zurückkehren, so lässt sich das als deutsche Aufbauhilfe für ein zerstörtes Land rubrizieren – wobei nicht auszuschließen ist, dass sich diese «Aufbauhilfe» für Deutschland durchaus bezahlt macht. Dieses Plädoyer für ein generelles «Empowerment», für eine generelle Befähigung der Neuankömmlinge, gründet sich nicht auf eine humanitäre Argumentation, sondern auf die Abwägung von Kosten- und Nutzenaspekten, wenn es darum geht, Ressourcen zum Zwecke der Integration einzusetzen. [...]

Parallelgesellschaften: Durchgangsschleusen der Integration oder Räume dauerhafter Trennung?

"Aber ein allgemeines Misstrauen, das sogleich mit Sanktionen droht, ist eher ein Integrationshindernis, als dass es geeignet wäre, Integrationserfolge wahrscheinlicher zu machen. [...]

Das Empfinden der eigenen Überflüssigkeit [...] hat hier «sinnlose Gewalt» hervorgebracht; sie ist ein verzweifeltes Lebenszeichen derer, die offenkundig für nichts gebraucht werden. Der erste Imperativ einer jeden Integrationspolitik ist, darauf zu achten, dass eine solche Situation gar nicht erst entsteht. Die wichtigste Maßnahme, um eine solche Erfahrung des Überflüssigseins zu verhindern, ist die Integration der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt und der Versuch, sie dort dauerhaft in Beschäftigungsverhältnissen zu halten. [...]

Das Problem des relativen Ausschlusses der Frauen von der Integrationsinstanz Arbeitsplatz hat zweifellos dazu beigetragen, Parallelgesellschaften zu stabilisieren. Als Faustregel formuliert: Wo die Frauen über längere Zeit auf dem Arbeitsmarkt präsent sind und nur zeitweilig wegen Geburt und Kinderbetreuung pausieren, funktioniert die Parallelgesellschaft eher als Durchgangsschleuse zur Mehrheitsgesellschaft; während sie dort, wo die Frauen dauerhaft vom Erwerbsleben ausgeschlossen, somit in den Strukturen der Parallelgesellschaft eingeschlossen sind, einer Abschottung gleichkommt. Das ist der zweite Imperativ einer erfolgversprechenden Integrationspolitik: dass sie aufmerksam ist für die Frauen der Arbeitsmigranten und Bürgerkriegsflüchtlinge und diese, wenn sie nicht auf Arbeitssuche gehen und auch kein Beschäftigungsförderungsprogramm in Anspruch nehmen, sich nicht selbst überlässt.

Eine kluge Integrationspolitik, so der dritte Imperativ, weiß um diese Unterschiede und stellt sich auf sie ein. Damit freilich geht sie an die Grenzen dessen, was in einem bürokratischen Verfahren regelbar ist, [...]

Wer in Deutschland Kopftuch trägt, gehört zu der am wenigsten in die deutsche Gesellschaft integrierten Gruppe. Das Kopftuch ist ein Indiz für Integrationsprobleme, aber nicht ihre Ursache, und selbst als Indiz ist es keineswegs untrüglich. Das Kopftuch ist ein mehrdeutiger Gegenstand. Einerseits kann es ein religiöses Bekenntnis sein, und als solches ist es nicht zu beanstanden; andererseits steht es für eine Grenzziehung zwischen innen und außen, die Mädchen und Frauen den Innenraum des Hauses zuweist. Dieser Innenraum ist Schutz- und Einschränkungsraum zugleich. Er macht die Frauen zu Objekten der Ehre ihrer Familien, weil an ihnen die Verletzung eines beschützenden und geschützten Innenraums als eine Verletzung der Ehre erscheint. Das Kopftuch, sehr viel mehr noch der Niqab und die Burka, sorgt dafür, dass sie diesen Innenraum stets mit sich tragen, wenn sie sich im Außenraum bewegen. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es für die Frauen oft schwierig ist, das Kopftuch abzulegen, und das keineswegs nur deswegen, weil sie gezwungen würden, es zu tragen. Das Ablegen des Kopftuchs ist vielmehr häufig mit intensiver Scham verbunden. Scham ist kulturell bedingt: Das, wofür man sich schämt, ist nicht in allen Kulturen gleich. Für eine Frau, die außerhalb des Hauses ihr Haar stets bedeckt hat, ist das Ablegen des Kopftuchs ein schwieriger Prozess. [...]

Eine Integrationspolitik, die Parallelgesellschaften vielleicht nicht auflösen, aber doch stärker aus einem Raum dauerhafter Separation in eine integrationsbegleitende Durchgangsschleuse verwandeln will, erhält von diesen Zahlen Hinweise, wo und wie sie anzusetzen hat; die beiden entscheidenden Bereiche sind die Wohnungspolitik, insbesondere in städtischen Ballungszentren, und die Schulpolitik. Die räumliche Trennung und die schulische Trennung sind die Kernelemente von Parallelgesellschaften, und beide hängen eng miteinander zusammen: Wenn in einem Stadtviertel überwiegend türkischstämmige Zuwanderer wohnen, wird der Anteil türkischstämmiger Kinder in den Schulen dieser Stadtteile sehr schnell über 50 Prozent liegen; dann ist es kaum noch möglich, dass die Schule als Integrationsagentur in die deutsche Gesellschaft wirkt. Sie wird vielmehr selbst zum Ort der Trennung. Das ist der vierte Imperativ einer erfolgsorientierten Integrationspolitik: die Schulen und deren Umfeld sind so zu gestalten, dass sie Räume der Integration und nicht der Segregation sind; dass sie der im familialen Umfeld erfahrenen Segregation entgegenwirken und die Kontaktflächen (die auch Reibungs- und Konfliktflächen sein können) mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft erweitern und vermehren. Die effektivste Integrationsschleuse ist die Aussicht auf sozialen Aufstieg, und die Chancen dazu hängen meist an Bildungs- und Ausbildungszertifikaten. Wenn inzwischen zwei von fünf jungen Männern mit «Migrationshintergrund» Abitur haben, dann kann man mit der Soziologin Annette Treibel von einer «stillen Integration» sprechen, in deren Folge Parallelgesellschaften porös geworden sind. [...]

Da aber Parallelgesellschaften einen sozialen Sog in Richtung Kurzfristigkeit ausüben, tritt das Problem hier verstärkt auf. Das ist somit der fünfte Imperativ einer erfolgsorientierten Integrationspolitik: geeignete Einwirkungsmöglichkeiten zu schaffen und zu nutzen, die für Jugendliche eine längerfristige Lebensplanung erstrebenswert machen. [...]

Der sechste Imperativ einer klugen Integrationspolitik lautet daher, den Verweis auf eine religiöse Identität, zumal auf den Islam, nicht sofort als das letzte Wort zu nehmen, sondern zunächst nach den sozialen Faktoren zu suchen, die neben der religiösen Identität wirksam sind und womöglich zu deren Herausbildung und Verhärtung beigetragen haben. [...]

Aus der Entstehung und Verfestigung von ParallelgesellschaftenWikipedia-logo.png sind einige Schlussfolgerungen mit Blick auf die Integration der im Herbst und Winter 2015 in Deutschland Angekommenen zu ziehen. Zunächst ist zu vermeiden, dass die Menschen nach Erteilung einer längeren Aufenthaltserlaubnis in den Wohngegenden deutscher Großstädte untergebracht werden, in denen sich vor langem schon Parallelgesellschaften gebildet und verfestigt haben. Das zu erreichen, ist nicht einfach, denn selbstverständlich haben viele die starke Neigung, dort Unterkunft zu suchen, wo bereits Landsleute leben, wo ihnen die Verständigung leichtfällt und wo sie sich in bestehende Strukturen einklinken können. Die Folge ist jedoch, dass die Kontakte mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf ein Minimum beschränkt bleiben und die Ankömmlinge sich eher in die Parallelgesellschaft als in die deutsche Gesellschaft integrieren. [...]

Schule ist seit jeher der Hebel, mit dem Parallelgesellschaften zur Mehrheitsgesellschaft hin geöffnet werden können. Man muss aber wissen, wie der Hebel funktioniert, und den Mut sowie die Entschlossenheit haben, sich seiner zu bedienen. Das ist der siebte Imperativ einer erfolgsorientierten Integration von Zugewanderten in die deutsche Gesellschaft."

Staat, Arbeitsmarkt und Zivilgesellschaft: die Imperative vorausschauender Integrationspolitik

"Es ist klar, dass nicht die gesamte gesellschaftliche Ordnung nach den Erfordernissen der Integration umgestaltet werden kann, aber diese müssen auch in Deutschland stärker als früher ein zentraler Faktor im Kräftespiel der politischen Interessen sein. Das also ist der achte Imperativ einer erfolgsorientierten Integrationspolitik: dass die Regulation des Arbeitsmarktes begrenzt bleibt, da jede Form von Regulation die «Alteingesessenen» bevorzugt und die Neuankömmlinge benachteiligt."

"Die geringere Erwerbsquote von Personen mit Migrationshintergrund ist somit – zumindest auch – die Folge einer Diskriminierung, bei der Personen mit türkisch oder arabisch anmutenden Nachnamen bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit systematisch benachteiligt werden. Wenn sich solche Erfahrungen über einen längeren Zeitraum regelmäßig wiederholen, entsteht zwangsläufig ein «Gefühl von Ungerechtigkeit», das bei den einen zu Resignation und bei den anderen dazu führt, dass sie versuchen, in anderen Ländern eine Beschäftigung zu finden. Keine der beiden Möglichkeiten kann im deutschen Interesse sein, und deswegen sollte die deutsche Politik darauf achten, dass solche Erfahrungen nach Möglichkeit ausbleiben. Das ist der neunte Imperativ einer erfolgsorientierten Integrationspolitik: dass Diskriminierungserfahrungen, wenn sie sich schon nicht ganz verhindern lassen, auf wenige Einzel- und Ausnahmefälle beschränkt bleiben. [...]"

"Die deutsche Politik hat das traditionelle Familienbild, das sie heute bei Zuwanderern aus der islamischen Welt als Integrationshindernis kritisiert und das einigen Politikern und Publizisten als Ausweis angeblicher Arbeitsscheu gilt, über mehrere Jahrzehnte gepflegt und bestärkt, da es gut zu der Politik eines privilegierten Zugangs zum Arbeitsmarkt für alteingesessene Deutsche passte. Sie hat, um es zusammenzufassen, über mehrere Jahrzehnte hinweg alles dafür getan, dass dieses traditionelle Familienbild aufrechterhalten und nicht durch die Lebenswelt der deutschen Mehrheitsgesellschaft in Frage gestellt wurde. [...] Immerhin lässt sich daraus einiges für die heutige Integrationspolitik lernen, die mit Relikten der damaligen Abschottungsstrategie zu kämpfen hat. Ein Beispiel dafür ist der Umstand, dass Asylbewerber für fünfzehn Monate nach Antragstellung einen nachrangigen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben, was heißt, dass sie einen Arbeitsplatz nur dann antreten können, wenn sich dafür kein deutscher Bewerber findet. [...] Die Konsequenz ist, dass gerade die dynamischsten und aktivsten Neuankömmlinge gezwungen werden, abzuwarten und auszuharren, was sozial- wie individualpsychologisch verheerende Folgen haben kann – unter anderem die, dass bei Flüchtlingen der Eindruck entsteht, die Deutschen wollten sie in Passivität halten. Der zehnte Imperativ einer erfolgsorientierten Integrationspolitik lautet deshalb, dass arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nicht unabhängig von ihren zivilgesellschaftlichen Effekten betrachtet werden dürfen. Ein Beispiel für das Gegenteil ist der staatlich subventionierte Traditionalismus türkischer Einwandererfamilien, der diesen später zum Vorwurf gemacht worden ist und der zweifellos ein Kernelement bei der Entstehung von Parallelgesellschaften war und nach wie vor ist.Der zehnte Imperativ einer erfolgsorientierten Integrationspolitik lautet deshalb, dass arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nicht unabhängig von ihren zivilgesellschaftlichen Effekten betrachtet werden dürfen. Ein Beispiel für das Gegenteil ist der staatlich subventionierte Traditionalismus türkischer Einwandererfamilien, der diesen später zum Vorwurf gemacht worden ist und der zweifellos ein Kernelement bei der Entstehung von Parallelgesellschaften war und nach wie vor ist."

"Es gibt daher allen Grund zu der Annahme, dass die zugewanderten jungen Männer möglichst schnell Geld verdienen wollen, um ihre zurückgebliebenen Familien zu unterstützen. Nicht zuletzt deshalb ist es von zentraler Bedeutung, ihre sprachliche Integration bedingungslos zu fördern und ihre Integration in den Arbeitsmarkt zu beschleunigen. Neben der langen «Aussperrung vom Arbeitsmarkt» ist der sich hinziehende Aufenthalt von Flüchtlingen in den Erstaufnahmelagern der Länder und den kommunalen Nachfolgeeinrichtungen ein Problem. [...] Auch hier gibt es lebenszeitliche windows of opportunity, in denen Weichen gestellt werden, und solche Weichenstellungen sind, um im Bild zu bleiben, irreversibel, wenn sie von den Betreffenden passiert wurden. Daraus folgt der elfte Imperativ einer vorausschauenden Integrationspolitik, und der lautet ganz allgemein, derartige Weichenstellungen so weit wie möglich hinauszuschieben und das Zeitfenster des Reversiblen, des Spurwechsels und des Neuanfangs, so lange wie möglich offenzuhalten."

Ein europäisch vergleichender Blick

"Ein europäisch vergleichender Blick Bei der Suche nach einem optimalen Zusammenwirken von Staat und Verwaltung, Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Zivilgesellschaft ist ein Blick auf europäische Nachbarn hilfreich – sowohl um erfolgreiche Modelle und Praktiken zu übernehmen als auch um Irrwege und Selbsttäuschungen zu vermeiden."

"Der Unterschied zwischen der Erwerbsbeteiligung derer, die im Inland geboren, und derer, die aus dem Ausland zugewandert sind, ist in kaum einem anderen EU-Land so groß wie in Schweden.»[5] Über die Gründe für die unbefriedigende Langzeitbilanz ist viel spekuliert worden; sie dürften vielfältig sein. Unbestreitbar ist, dass ein liberales Integrationsregime mit einer hohen Verfahrensflexibilität kein Garant für eine erfolgreiche Integration ist und dass die Integration in den Arbeitsmarkt durch vergleichsweise hohe Sozialstandards nicht befördert, sondern eher verzögert wird."

"[...] so stehen die Niederlande heute für das politische Scheitern eines Integrationsmodells, das sich im Wesentlichen auf die Gesellschaft gestützt und dem staatlichen Regulationssystem einen deutlich nachgeordneten Auftrag zugewiesen hat."

"Eine erfolgreiche Integration derer, die gekommen sind und auf Dauer bleiben werden, wird umso leichter und schneller möglich sein, je mehr sich diese Gesellschaft zutraut, aus den Neuankömmlingen «Deutsche» zu machen, ohne dabei aufdringlich und nötigend zu sein."

Aus Fremden "Deutsche" machen

[Identitätsmarker]

Fünf Merkmale des Deutschseins

[...] Als Deutscher soll hier vielmehr ein jeder verstanden werden, der davon überzeugt ist, dass er für sich und seine Familie durch Arbeit (gegebenenfalls auch durch Vermögen) selbst sorgen kann und nur in Not- und Ausnahmefällen auf Unterstützung durch die Solidargemeinschaft angewiesen ist. Für diesen Deutschen gilt weiterhin, dass er Grund hat, davon auszugehen, dass er durch eigene Anstrengung die angestrebte persönliche Anerkennung und einen gewissen sozialen Aufstieg erreichen kann.

Wird im ersten Identitätsmerkmal die Bereitschaft zur Selbstsorge herausgestellt sowie der Leistungswillen in Bezug auf die Gesellschaft, der er angehört, so hebt das zweite Identitätsmerkmal auf das Vertrauen ab, das er gegenüber der Gemeinschaft hat, ihm im Notfall beizuspringen und zur Seite zu stehen. Das sind die zwei Identitätsmarker, die für die sozioökonomische Dimension stehen.

Sie werden durch zwei eher soziokulturelle Identitätsmarker ergänzt. Der erste davon steht für die Überzeugung, dass religiöser Glaube und seine Ausübung eine Privatangelegenheit sind, die im gesellschaftlichen Leben eine nachgeordnete Rolle zu spielen hat und bei der Bearbeitung von Anträgen durch die Verwaltung sowie bei der Bewerbung um Arbeitsplätze und Positionen ohne Bedeutung ist. Zudem, so der zweite soziokulturelle Identitätsmarker, hält sich der als deutsch Bestimmte daran, dass die Entscheidung für eine bestimmte Lebensform und die Wahl des Lebenspartners in das individuelle Ermessen eines jeden Einzelnen fällt und nicht von der Familie vorgegeben wird.

Der fünfte und entscheidende Identitätsmarker der Deutschen soll und muss das Bekenntnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sein. [...]

Eine solche normative Identitätszuschreibung ändert nichts daran, dass diejenigen, die qua Geburt Deutsche sind, dies auch bleiben, wenn sie den Vorgaben dieser Zuschreibung nicht genügen. Aber sie haben dann keine Möglichkeiten mehr, diejenigen, die dieser Zuschreibung genügen und Deutsche werden wollen beziehungsweise es geworden sind, von der Zugehörigkeit auszuschließen."

Zur Behandlung im Unterricht

1. Formulieren Sie zu drei der Imperative mit eigenen Worten Begründungen, weshalb die Forderungen sinnvoll erscheinen, und andererseits die Gründe, die es schwer oder gar unmöglich machen, sie zu erfüllen.

2. Begründen Sir für alle Identitätsmarker, weshalb sie Ihnen als notwendige Voraussetzung für die Integration von Migranten erscheinen oder weshalb sie meinen, dass sie nicht notwendig sind.

3. Erläutern Sie, wodurch sich Münklers Konzept der Identitätsmarker von dem einer "deutschen Leitkultur" unterscheidet.

4. Geben Sie gegebenenfalls an, weshalb die angegebenen Identitätsmarker Ihrer Meinung nach unzureichende Voraussetzungen für die Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft sind.

5. Drei ZEIT-Redakteurinnen haben ein Buch "Wir neuen Deutschen" geschrieben. Lesen Sie dazu den folgenden Blogartikel und die Besprechung dazu und versuchen Sie zu bestimmen, worin die "neuen Deutschen" der ZEIT-Redakteurinnen und die "neuen Deutschen" des hier vorgestellten Buches übereinstimmen. Warum ist es so schwierig, das zu beschreiben?

6. Navid Kermani, als Sohn iranischer Eltern in Deutschland geboren, deutscher und iranischer Staatsbürger, ist als politischer Publizist 2014 als Festredner zur Feier des Jubiläums des GrundgesetzesWikipedia-logo.png in den Bundestag eingeladen worden und als möglicher Kandidat für die Wahl des Bundespräsidenten 2017 im Gespräch. Wie schätzen Sie die Wirkung ein, die von seiner Wahl - unabhängig von seiner politischen Position - ausgehen würde? Wäre seine Wahl unter diesem Gesichtspunkt zu rechtfertigen?

Anmerkungen

  1. "Eine solche normative Identitätszuschreibung ändert nichts daran, dass diejenigen, die qua Geburt Deutsche sind, dies auch bleiben, wenn sie den Vorgaben dieser Zuschreibung nicht genügen. Aber sie haben dann keine Möglichkeiten mehr, diejenigen, die dieser Zuschreibung genügen und Deutsche werden wollen beziehungsweise es geworden sind, von der Zugehörigkeit auszuschließen"
  2. Ergänzende Zitate zu diesem und den drei folgenden Abschnitten finden sich unter Grenzen, Ströme, Kreisläufe – wie ordnet sich eine Gesellschaft?

Rezensionen

Bibliographische Angaben

  • Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft, Rowohlt Verlag, Berlin 2016 ISBN 9783871341670

Siehe auch