Wald (Literatur): Unterschied zwischen den Versionen

Aus ZUM-Unterrichten
Markierung: 2017-Quelltext-Bearbeitung
 
(31 dazwischenliegende Versionen desselben Benutzers werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
==Wald-Ansichten in der deutschen Literatur: Klassisch - romantisch - nationalistisch==
 
==Wald-Ansichten==
{{Box|Wald & Romantik|
:„Zur Lebensweise der Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts gehörte die räumliche und geistige Distanzierung von den Unbilden der Natur ... Es bedurfte erst der Sicherheit der Städte, um das Gefühl romantischer Natursehnsucht zu empfinden. Dazu gehörte von Anfang an die Erfahrung des Verlustes: des persönlichen lebensgeschichtlichen Verlustes eines Erfahrungsraumes, aber auch des Verlustes eines Teils der natürlichen Umwelt. Die Wälder der romantischen Dichter und Maler waren Seelenlandschaften, Erinnerungswälder, die diesen städtischen Intellektuellen bereits als Wohnort verloren gegangen waren. [...]
:Dabei waren die Wälder in Mitteleuropa damals längst keine unberührten Naturlandschaften mehr, sondern wirtschaftlich intensiv genutzte Flächen. Infolge wirtschaftlicher Übernutzung befand sich der Wald an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer erbärmlichen ökologischen Situation. Die heutigen Waldzustände nehmen sich im Vergleich dazu idyllisch aus."
:<small>Albrecht Lehmann: ''Mythos Deutscher Wald'' [http://www.buergerimstaat.de/1\_01/wald01.htm DER BÜRGER IM STAAT] Hrsg: Landeszentrale der politischen Bildung Baden-Württemberg, Heft 1/2001: Der deutsche Wald</small>
|Hervorhebung1}}
{{Box|Wald & Heer|[[File:Forest on San Juan Island.jpg|rechts|320px]]
:„Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich ein mit Bäumen.
[[File:Cloud forest Ecuador.jpg|rechts|320px|Cloud forest Ecuador]]
:Ihre Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen, unterscheidet diesen Wald von dem tropischen, wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt. Der Wald der gemäßigten Zone hat seinen anschaulichen Rhythmus. Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne. Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. [...]
:Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke. Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen, in hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf, und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft deutsch.“
:<small>Elias Canetti: Masse und Macht, Fischer 1980 (1960) S. 190f</small>|Zitat}}
 
==Klassisch - romantisch - nationalistisch==


===Friedrich Hölderlin (1770-1843)===
===Friedrich Hölderlin (1770-1843)===
Die Eichbäume: Hier noch nicht der enge deutsche Wald, sondern das Zusammenstehen souveräner Individuen außerhalb der von liebebedürftigen Menschen bewohnten Kulturlandschaft ("Gärten")
Die Eichbäume: Noch nicht der enge deutsche Wald der Romantik, sondern das Zusammenstehen souveräner Individuen außerhalb der von liebebedürftigen Menschen bewohnten Kulturlandschaft.


'''DIE EICHBÄUME'''
'''DIE EICHBÄUME'''
[[File:Eichenblatt (74045215).jpeg|rechts|320px]]
<poem>
<poem>
Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Zeile 26: Zeile 41:
:(1796/8)
:(1796/8)
</poem>
</poem>
{{Box|Interpretationsauftrag|
#Überlege zuerst, was Dir zum Begriff "Eiche" einfällt.
#Lies das Gedicht langsam durch und vergleiche es mit Deinen Vorüberlegungen.
#Gliedere das Gedicht jetzt in Sinn-Einheiten.
#Markiere die Stellen, in denen die Lebenswelt der Menschen und die Existenzform der Eichen dargestellt werden. Benutze dazu zwei Farben.
#Entwickle daraus, den Aussage-Gehalt dieses Gedichtes.
<small>[http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/naturlyrik/eichbaeume.htm Mehr dazu hier]</small>
|Unterrichtsidee}}


===Friedrich Schlegel (1772-1829)===
===Friedrich Schlegel (1772-1829)===
Der deutsche Wald der Nationalromantik: Ort der Erinnerung und dunkler Ahnungen urdeutscher Kraft und Freiheit
Der deutsche Wald der Nationalromantik: Ort der Erinnerung und dunkler Ahnungen urdeutscher Kraft und Freiheit
 
'''IM SPESSART'''
 
{{3Spalten|
'''Im Spesshart, 1806'''
<poem>
<poem>
Gegrüßt sei du, viellieber Wald!
Gegrüßt sei du, viellieber Wald!
Es rührt mit wilder Lust,
Es rührt mit wilder Lust,
Zeile 51: Zeile 78:
Es strebt zur blauen Luft hinauf
Es strebt zur blauen Luft hinauf
Der Erde Trieb und Mark.
Der Erde Trieb und Mark.
</poem>
|
<poem>


Durch des Gebildes Adern quillt
Durch des Gebildes Adern quillt
Zeile 71: Zeile 101:
Drang keines Feindes Ruf hindurch,
Drang keines Feindes Ruf hindurch,
Frei war noch da die Welt.
Frei war noch da die Welt.
</poem>
|


(1806)</poem>
:Quelle: Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 363-364. Zitiert nach [http://www.zeno.org/Literatur/M/Schlegel,+Friedrich/Gedichte/Romanzen+und+Lieder/Im+Spesshart Zeno.org]
|}}


===J.F.v.Eichendorff (1788-1857)===
===J.F.v.Eichendorff (1788-1857)===
Der Wald der Eichendorff-Romantik, geheimnisvoller Ort wohlig-grausigen Schauderns
Der Wald der Eichendorff-Romantik:
<table cellpadding="10"><tr><td width="50%">
Ein geheimnisvoller Ort '''wohlig-grausigen Schauderns'''


'''Im Walde'''
'''Im Walde'''
<poem>
Es zog eine Hochzeit den Berg entlang,
ich hörte die Vögel schlagen,
da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
das war ein lustiges Jagen!


:Es zog eine Hochzeit den Berg entlang,
Und eh ichs gedacht, war alles verhallt,
:ich hörte die Vögel schlagen,
die Nacht bedecket die Runde,
:da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
nur von den Bergen noch rauschet der Wald
:das war ein lustiges Jagen!
und mich schauert im Herzensgrunde.
 
  (1836)</poem>
:Und eh ichs gedacht, war alles verhallt,
:<small>[http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/naturlyrik/eichend_1.htm Mehr dazu bei K. Dautel]</small>
:die Nacht bedecket die Runde,
</td><td valign="top">
:nur von den Bergen noch rauschet der Wald
Oder: Eine Heimat und Gegenwelt zur Geschäftigkeit der Welt ''„da draußen"''.
:und mich schauert im Herzensgrunde.
::(1836)
Oder: Der Wald, Heimat und Gegenwelt zur Geschäftigkeit der "Draußen"-Welt


'''Abschied'''
'''Abschied'''
 
<poem>
:O Täler weit, o Höhen,
O Täler weit, o Höhen,
:O schöner, grüner Wald,
O schöner, grüner Wald,
:Du meiner Lust und Wehen
Du meiner Lust und Wehen
:Andächt`ger Aufenthalt.
Andächt`ger Aufenthalt.
:Da draußen, stets betrogen,
Da draußen, stets betrogen,
:Saust die geschäft`ge Welt,
Saust die geschäft`ge Welt,
:Schlag noch einmal die Bogen
Schlag noch einmal die Bogen
:Um mich, du grünes Zelt.
Um mich, du grünes Zelt.
 
</poem>
:[http://gutenberg.spiegel.de/eichndrf/gedichte/eichen22.htm (...)]
:<small>Zitiert nach [http://gutenberg.spiegel.de/eichndrf/gedichte/eichen22.htm Projekt Gutenberg]</small>
</td></tr></table>


===Ludwig Ganghofer (1855-1920)===
===Ludwig Ganghofer (1855-1920)===
Zeile 111: Zeile 148:
:"Wer das so könnte wie der Wald: alles Schwächliche und Niedrige von sich abstoßen, nur bestehen lassen, was stark ist und gesund! So stolz und aufrecht hinaussteigen über den Schatten der Tiefe und die Helle suchen, die hohen, reinen Lüfte! Wer das so könnte!"
:"Wer das so könnte wie der Wald: alles Schwächliche und Niedrige von sich abstoßen, nur bestehen lassen, was stark ist und gesund! So stolz und aufrecht hinaussteigen über den Schatten der Tiefe und die Helle suchen, die hohen, reinen Lüfte! Wer das so könnte!"


::[http://gutenberg.spiegel.de/buch/2144/2 Das Schweigen im Walde (1899), 1. Kapitel]|Zitat}}
:[http://gutenberg.spiegel.de/buch/2144/2 Das Schweigen im Walde (1899), 1. Kapitel]|Zitat}}


===Hermann Hesse (1877-1962)===
===Hermann Hesse (1877-1962)===
Der Wald, Ort sehnsuchtsvoller Erinnerung an die Kindheit
Der Wald, Ort sehnsuchtsvoller Erinnerung an die Kindheit


{{3Spalten|
:
'''SCHWARZWALD'''
'''SCHWARZWALD'''
<poem>
<poem>
Seltsam schöne Hügelfluchten,
Seltsam schöne Hügelfluchten,
Dunkle Berge, helle Matten,
Dunkle Berge, helle Matten,
Zeile 127: Zeile 167:
Sich vermischt des Tannensturmes,
Sich vermischt des Tannensturmes,
Kann ich lange Stunden lauschen.
Kann ich lange Stunden lauschen.
</poem>
|
<poem>


Dann ergreift wie eine Sage,
Dann ergreift wie eine Sage,
Zeile 138: Zeile 182:
Mir im Knabenauge glänzten.
Mir im Knabenauge glänzten.
</poem>
</poem>
|
:
Zitiert nach [https://wikisource.org/wiki/Page:Gedichte_Hesse_1919.djvu/12 Wikisource.org]
|}}
===Reiner Kunze: Der Hochwald===
:Ein Wald-Gedicht, das in mehrfacher Hinsicht anders ist - und von einem DDR-Autor stammt (siehe unten).
<table><tr><td width="400">
Reiner Kunze


===Elias Canetti (1905-94)===
'''Der hochwald erzieht seine bäume'''
Der Wald, gedeutet und entzaubert als "Massensymbol": Verkörperung deutscher Sekundärtugenden
<poem>
{{Box|Das Massensymbol|
 
:„Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich ein mit Bäumen.
Der hochwald erzieht seine bäume
:Ihre Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen, unterscheidet diesen Wald von dem tropischen, wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt. Der Wald der gemäßigten Zone hat seinen anschaulichen Rhythmus. Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne. Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. [...]
Sie des lichtes entwöhnend, zwingt er sie
:Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke. Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen, in hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf, und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft deutsch.“
all ihr grün in die kronen zu schicken
Die fähigkeit,  
mit allen zweigen zu atmen
das talent,  
äste zu haben nur so aus freude,  
verkümmern
 
Den regen siebt er, vorbeugend
der leidenschaft des durstes
 
Er läßt die bäume größer werden
wipfel an wipfel:  
Keiner sieht mehr als der andere,  
dem wind sagen alle das gleiche


::Aus dem Kapitel: Massensymbole der Nationen, in Elias Canetti: Masse und Macht, Fischer 1980 (1960) S. 190f |Zitat}}
holz
</poem>
</td><td valign="bottom">
<small>
*Aus Reiner Kunzes Gedichtsammlung „Brief mit blauem Siegel“ (DDR-Reclam 1973),  ein in der DDR sehr erfolgreicher Lyrik-Band -  der jedoch in den Buchläden nur als „Bückware“ zu erhalten war, d.h. das Buch war zwar im Angebot, aber nicht augenfällig platziert, sondern irgendwo ganz unten im Regal. Das Gedicht datiert Kunze auf 1962
*Mehr zum Gedicht, der Gedichtsammlung und den Kontexten: [http://www.planetlyrik.de/reiner-kunzes-lyrik-vertraut-sensiblen-wegen-auch-wenn-oft-unbequemen-sind-sein-ton-ist-zurueckgenommen-aber-praezise-ist-leise-aber-nicht-ueberhoeren-politisches-schwingt-untersc/2015/09/ www.planetlyrik.de]
*Zum Begriff "Hochwald" siehe den Wikipedia-Artikel: [https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwald_(Waldbau) Hochwald (Waldbau)]
</small>
</td></tr></table>


==Siehe auch==
==Siehe auch==
Zeile 154: Zeile 228:




[[Kategorie:Deutsch]][[Kategorie:Lyrik]]
[[Kategorie:Deutsch]][[Kategorie:Lyrik]][[Kategorie:Motive in der Literatur]]

Aktuelle Version vom 2. Juli 2019, 14:14 Uhr

Wald-Ansichten

Wald & Romantik
„Zur Lebensweise der Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts gehörte die räumliche und geistige Distanzierung von den Unbilden der Natur ... Es bedurfte erst der Sicherheit der Städte, um das Gefühl romantischer Natursehnsucht zu empfinden. Dazu gehörte von Anfang an die Erfahrung des Verlustes: des persönlichen lebensgeschichtlichen Verlustes eines Erfahrungsraumes, aber auch des Verlustes eines Teils der natürlichen Umwelt. Die Wälder der romantischen Dichter und Maler waren Seelenlandschaften, Erinnerungswälder, die diesen städtischen Intellektuellen bereits als Wohnort verloren gegangen waren. [...]
Dabei waren die Wälder in Mitteleuropa damals längst keine unberührten Naturlandschaften mehr, sondern wirtschaftlich intensiv genutzte Flächen. Infolge wirtschaftlicher Übernutzung befand sich der Wald an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer erbärmlichen ökologischen Situation. Die heutigen Waldzustände nehmen sich im Vergleich dazu idyllisch aus."
Albrecht Lehmann: Mythos Deutscher Wald DER BÜRGER IM STAAT Hrsg: Landeszentrale der politischen Bildung Baden-Württemberg, Heft 1/2001: Der deutsche Wald

Wald & Heer
Forest on San Juan Island.jpg
„Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich ein mit Bäumen.
Cloud forest Ecuador
Ihre Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen, unterscheidet diesen Wald von dem tropischen, wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt. Der Wald der gemäßigten Zone hat seinen anschaulichen Rhythmus. Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne. Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. [...]
Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke. Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen, in hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf, und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft deutsch.“
Elias Canetti: Masse und Macht, Fischer 1980 (1960) S. 190f

Klassisch - romantisch - nationalistisch

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

Die Eichbäume: Noch nicht der enge deutsche Wald der Romantik, sondern das Zusammenstehen souveräner Individuen außerhalb der von liebebedürftigen Menschen bewohnten Kulturlandschaft.

DIE EICHBÄUME

Eichenblatt (74045215).jpeg

Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,
Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen.
Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen
In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,
Der euch nährt` und erzog, und der Erde, die euch geboren.
Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen,
Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,
Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,
Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken
Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
Könnt ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer
Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.
Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,
Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd ich unter euch wohnen.

(1796/8)

Interpretationsauftrag
  1. Überlege zuerst, was Dir zum Begriff "Eiche" einfällt.
  2. Lies das Gedicht langsam durch und vergleiche es mit Deinen Vorüberlegungen.
  3. Gliedere das Gedicht jetzt in Sinn-Einheiten.
  4. Markiere die Stellen, in denen die Lebenswelt der Menschen und die Existenzform der Eichen dargestellt werden. Benutze dazu zwei Farben.
  5. Entwickle daraus, den Aussage-Gehalt dieses Gedichtes.

Mehr dazu hier

Friedrich Schlegel (1772-1829)

Der deutsche Wald der Nationalromantik: Ort der Erinnerung und dunkler Ahnungen urdeutscher Kraft und Freiheit


Im Spesshart, 1806


Gegrüßt sei du, viellieber Wald!
Es rührt mit wilder Lust,
Wenn abends fern das Alphorn schallt,
Erinnrung mir die Brust.

Jahrtausende standst du schon,
O Wald, so dunkel kühn,
Sprachst allen Menschenkünsten Hohn
Und webtest fort dein Grün.

Wie mächtig dieser Äste Bug
Und das Gebüsch wie dicht,
Was golden spielend kaum durchschlug
Der Sonne funkelnd Licht.

Nach oben strecken sie den Lauf,
Die Stämme grad und stark;
Es strebt zur blauen Luft hinauf
Der Erde Trieb und Mark.


Durch des Gebildes Adern quillt
Geheimes Lebensblut,
Der Blätterschmuck der Krone schwillt
In grüner Frühlingsglut.

Natur, hier fühl ich deine Hand
Und atme deinen Hauch,
Beklemmend dringt und doch bekannt
Dein Herz in meines auch.

Dann denk ich wie vor alter Zeit,
Du dunkle Waldesnacht!
Der Freiheit Sohn sich dein gefreut
Und was er hier gedacht.

Du warst der Alten Haus und Burg;
Zu diesem grünen Zelt
Drang keines Feindes Ruf hindurch,
Frei war noch da die Welt.

Quelle: Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 363-364. Zitiert nach Zeno.org

J.F.v.Eichendorff (1788-1857)

Der Wald der Eichendorff-Romantik:

Ein geheimnisvoller Ort wohlig-grausigen Schauderns

Im Walde

Es zog eine Hochzeit den Berg entlang,
ich hörte die Vögel schlagen,
da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
das war ein lustiges Jagen!

Und eh ichs gedacht, war alles verhallt,
die Nacht bedecket die Runde,
nur von den Bergen noch rauschet der Wald
und mich schauert im Herzensgrunde.
  (1836)

Mehr dazu bei K. Dautel

Oder: Eine Heimat und Gegenwelt zur Geschäftigkeit der Welt „da draußen".

Abschied

O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt`ger Aufenthalt.
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäft`ge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt.

Zitiert nach Projekt Gutenberg

Ludwig Ganghofer (1855-1920)

Der Wald als Metapher für mannhafte Stärke
"Wie still dieser Wald! Wie schön in seinem Schweigen!"
Zwischen den Wurzeln einer mächtigen Fichte ließ sich der Einsame zur Ruhe nieder. So saß er, den Kopf an den Stamm gelehnt, die Hände um das Knie geschlungen. Lächelnd, als wäre die Ruhe und das Nimmerdenken über ihn gekommen, staunte er träumend hinein in die wundersame Stille. Kein Halm zu seinen Füßen und kein Zweig zu seinen Häupten bewegte sich. Auch nicht der leiseste Lufthauch atmete durch den Wald. Stark und ruhig stiegen die hundertjährigen Bäume zum Himmel auf, jeder ein König in seiner sturmerprobten Kraft. Alle kleinen, niederen Gewächse waren verkümmert und gestorben im Schatten dieser Großen; sie allein bestanden, und bescheidenes Moos nur webte zwischen ihren weitgespannten Wurzeln seinen grünen Samt über Grund und Steine. Sogar vom eigenen Leibe hatten die Riesen alle niedrigstehenden Äste abgestoßen und gesundes, saftiges Leben nur den strebenden Zweigen bewahrt, die sich aufwärts streckten bis zur Höhe des Lichtes. Das flutete goldleuchtend um die Wipfel her, ließ selten einen verlorenen Schimmer niedergleiten in den Schatten, der zwischen den braunen Stämmen lag, und dort nur, wo der Grund zu steigen anfing, brach es, einer Lichtung folgend, mit breiter brennender Welle quer durch den Wald.
"Wer das so könnte wie der Wald: alles Schwächliche und Niedrige von sich abstoßen, nur bestehen lassen, was stark ist und gesund! So stolz und aufrecht hinaussteigen über den Schatten der Tiefe und die Helle suchen, die hohen, reinen Lüfte! Wer das so könnte!"
Das Schweigen im Walde (1899), 1. Kapitel

Hermann Hesse (1877-1962)

Der Wald, Ort sehnsuchtsvoller Erinnerung an die Kindheit

SCHWARZWALD


Seltsam schöne Hügelfluchten,
Dunkle Berge, helle Matten,
Rote Felsen, braune Schluchten,
Überflort von Tannenschatten!

Wenn darüber eines Turmes
Frommes Läuten mit dem Rauschen
Sich vermischt des Tannensturmes,
Kann ich lange Stunden lauschen.



Dann ergreift wie eine Sage,
Nächtlich am Kamin gelesen,
Das Gedächtnis mich der Tage
Da ich hier zu Haus gewesen.

Da die Fernen edler, weicher,
Da die tannenforstbekränzten
Berge seliger und reicher
Mir im Knabenauge glänzten.

Zitiert nach Wikisource.org

Reiner Kunze: Der Hochwald

Ein Wald-Gedicht, das in mehrfacher Hinsicht anders ist - und von einem DDR-Autor stammt (siehe unten).

Reiner Kunze

Der hochwald erzieht seine bäume


Der hochwald erzieht seine bäume
Sie des lichtes entwöhnend, zwingt er sie
all ihr grün in die kronen zu schicken
Die fähigkeit,
mit allen zweigen zu atmen
das talent,
äste zu haben nur so aus freude,
verkümmern

Den regen siebt er, vorbeugend
der leidenschaft des durstes

Er läßt die bäume größer werden
wipfel an wipfel:
Keiner sieht mehr als der andere,
dem wind sagen alle das gleiche

holz

  • Aus Reiner Kunzes Gedichtsammlung „Brief mit blauem Siegel“ (DDR-Reclam 1973), ein in der DDR sehr erfolgreicher Lyrik-Band - der jedoch in den Buchläden nur als „Bückware“ zu erhalten war, d.h. das Buch war zwar im Angebot, aber nicht augenfällig platziert, sondern irgendwo ganz unten im Regal. Das Gedicht datiert Kunze auf 1962
  • Mehr zum Gedicht, der Gedichtsammlung und den Kontexten: www.planetlyrik.de
  • Zum Begriff "Hochwald" siehe den Wikipedia-Artikel: Hochwald (Waldbau)

Siehe auch