Landschaftsbeschreibungen in der Literatur: Unterschied zwischen den Versionen

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*Von Drähten und Schienen: Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel
*Von Drähten und Schienen: Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel


===Gesuchte Einsamkeit===
===Einsamkeit===
* Der "Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit" (Patrick Süßkind: Das Parfum)
'''Am "Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit" - Patrick Süßkind "Das Parfum"'''
 
:"Dieser Pol, nämlich der menschenfernste Punkt des ganzen Königreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa fünf Tagesreisen südlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkans namens Plomb du Cantal.
:Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Ge-strüpp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zähne aufragten und ein paar von Bränden verkohlte Bäume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, daß der ärmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hätte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen Öde nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hätte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben ware. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein or-dentliches warmblütiges Tier, bloß ein paar Fledermäuse und ein paar Käfer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
:Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wußte noch nicht, daß seine Reise hier zuende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lüfte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase über das gewaltige Panorama des vulkanischen Ödlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint- Flour und die Sümpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Ylorgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Süden schließlich, wo die Ausläufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. Überall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hätte jeder Schritt in jede Richtung wieder größere Menschennähe bedeutet. Der Kompaß kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
:[...]Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbrüchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrüßt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit." (aus Kapitel 24)


===Fundstellen===
===Fundstellen===

Version vom 30. November 2005, 20:50 Uhr

Landschaftsbeschreibungen in der deutschsprachigen Literatur

Einordnungen

"Große Dichtung gibt es von der Beseelung der ganzen Welt, jedes Steins, jedes Blatts, jedes Tierleins, durch die allumfassende Liebe und es gibt große Dichtung vom gegenläufigen Prozeß, von der unausweichlichen Verödung der Welt, ihrer Entseelung und Erkältung, vom allgemeinen Verdorren und Vertrocknen. Das 'Mayfest' wird zur 'Winterreise'. Ganz schrecklich kann das bei Lenau sein. Eichendorff - »und über die Wasser weht's kalt« - beginnt, wie Brentano, aus solcher Versteppung heraus wieder den alten Gott zu beschwören."
(Peter v. Matt: Liebesverrat, die Treulosen in der Literatur dtv 1991 S.225)

Aus Der Grüne Heinrich von Gottfried Keller

»Zuvörderst will ich ein Landschaftsmaler werden«, erwiderte ich, »und habe dazu allerdings große Lust und hoffe, der liebe Gott werde mir auch das Geschick geben!«
»Ein Landschaftsmaler? Das heißt, merkwürdige Städte, Gebirge und Weltgegenden abbilden? Hm! Dieses scheint mir nicht so übel zu sein, da lernt man wenigstens die Welt kennen und kommt weit umher; Länder, Meere und allenfalls auch die Menschen dazu; aber dazu gehört besonderer Mut und eigenes Glück, wie mich dünkt, und vor allem soll, meines Erachtens, ein junger Mensch darauf denken, wie er im Lande bleiben und sich redlich nähren, auch seinen Mitbürgern sich nützlich und seinen Eltern dienstbar erweisen kann!«
»Die Landschaftsmalerei, die ich im Sinne habe, ist nicht sowohl, was Ihr hiermit darunter versteht, Herr Vetter, als etwas ganz anderes!«
»Nun, und das wäre?«
»Sie besteht nicht darin, daß man merkwürdige und berühmte Orte aufsucht und nachmacht, sondern darin, daß man die stille Herrlichkeit und Schönheit der Natur betrachtet und abzubilden sucht, manchmal eine ganze Aussicht, wie diesen See mit den Wäldern und Bergen, manchmal einen einzigen Baum, ja nur ein Stücklein Wasser und Himmel.«  [...]
»Gibt es denn eine solche Art der Kunst und wird sie anerkannt?« fragte der gute Schulmeister ganz verblüfft.
»Jawohl«, erwiderte ich, »in den Städten, in den Häusern der Vornehmen, da hängen schöne glänzende Gemälde, welche meistens stille grüne Wildnisse vorstellen, so reizend und trefflich gemalt, als sähe man in Gottes freie Natur, und die eingeschlossenen gefangenen Menschen erfrischen ihre Augen an den unschuldigen Bildern und nähren diejenigen reichlich, welche sie zustande bringen!«
Der Schulmeister trat an das Fenster und schaute etwas überrascht hinaus.
»Also dieser kleine See zum Beispiel, diese meine holdselige Einsamkeit würde ein genugsamer Gegenstand sein für die Kunst, obgleich niemand den Namen kennte, bloß wegen der Milde und Macht Gottes, die sich auch hier offenbart?«
»Ja gewiß! Ich hoffe noch, Euch diesen See mit seinem dunklen Ufer, mit dieser Abendsonne so zu malen, daß Ihr mit Vergnügen diesen Nachmittag darin erkennen sollt und selbst sagen müßt, es sei weiter hierzu nichts nötig, um bedeutend zu sein, das heißt, wenn ich ein Maler werden kann und was Rechtes lerne!« setzte ich hinzu.
»Jetzt habe ich alter Mensch wieder etwas Neues gelernt«, sagte mein Vetter gerührt [...]
(Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (Neufassung 1879) 1. Teil, 21. Kapitel)

Beispiele

Landschaft klassisch

Gestaltete Landschaft - Naturverbesserungen: J.W.v.Goethe: Die Wahlverwandschaften

Aber Eduard ließ ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er führte ihn überall herum, bald zu Pferde, bald zu Fuße, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt; wobei er ihm zugleich die Wünsche mitteilte, die er zu besserer Kenntnis und vorteilhafterer Benutzung desselben seit langer Zeit bei sich hegte. »Das erste, was wir tun sollten«, sagte der Hauptmann, »wäre, daß ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme. Es ist das ein leichtes, heiteres Geschäft, und wenn es auch nicht die größte Genauigkeit gewährt, so bleibt es doch immer nützlich und für den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne große Beihülfe leisten und weiß gewiß, daß man fertig wird. Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so läßt sich dazu wohl auch noch Rat finden«.

Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr geübt. Er hatte die nötige Gerätschaft mitgebracht und fing sogleich an. Er unterrichtete Eduarden, einige Jäger und Bauern, die ihm bei dem Geschäft behülflich sein sollten. Die Tage waren günstig; die Abende und die frühsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu. Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schöpfung hervorwachsen. Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören.

Es gab Gelegenheit, über die Gegend, über Anlagen zu sprechen, die man nach einer solchen Übersicht viel besser zustande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zufälligen Eindrücken, an der Natur herumversuche.

»Das müssen wir meiner Frau deutlich machen«, sagte Eduard. »Tue das nicht!« versetzte der Hauptmann, der die Überzeugungen anderer nicht gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte, daß die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als daß sie, selbst durch die vernünftigsten Vorstellungen, auf Einen Punkt versammelt werden könnten.

»Tue es nicht!« rief er, »sie dürfte leicht irre werden. Es ist ihr wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei mit solchen Dingen beschäftigen, mehr daran gelegen, daß sie etwas tue, als daß etwas getan werde. Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe für dieses oder jenes Plätzchen; man wagt nicht, dieses oder jenes Hindernis wegzuräumen, man ist nicht kühn genug, etwas aufzuopfern; man kann sich voraus nicht vorstellen, was entstehen soll, man probiert, es gerät, es mißrät, man verändert, verändert vielleicht, was man lassen sollte, läßt, was man verändern sollte, und so bleibt es zuletzt immer ein Stückwerk, das gefällt und anregt, aber nicht befriedigt«.

»Gesteh mir aufrichtig«, sagte Eduard, »du bist mit ihren Anlagen nicht zufrieden«.

»Wenn die Ausführung den Gedanken erschöpfte, der sehr gut ist, so wäre nichts zu erinnern. Sie hat sich mühsam durch das Gestein hinaufgequält und quält nun jeden, wenn du willst, den sie hinaufführt. Weder nebeneinander noch hintereinander schreitet man mit einer gewissen Freiheit. Der Takt des Schrittes wird jeden Augenblick unterbrochen; und was ließe sich nicht noch alles einwenden!« 

»Wäre es denn leicht anders zu machen gewesen?« fragte Eduard.

»Gar leicht«, versetzte der Hauptmann; »sie durfte nur die eine Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Teilen besteht, wegbrechen, so erlangte sie eine schön geschwungene Wendung zum Aufstieg und zugleich überflüssige Steine, um die Stellen heraufzumauern, wo der Weg schmal und verkrüppelt geworden wäre. «.

Durch die Landschaft in die Vorzeit: Friedrich Schiller "Der Spaziergang"

Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich;
Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad.
Um mich summt die geschäftige Bien', mit zweifelndem Flügel
Wiegt der Schmetterling sich über dem röthlichten Klee.
Glühend trifft mich der Sonne Pfeil, still liegen die Weste,
Nur der Lerche Gesang wirbelt in heiterer Luft.
Doch jetzt braust's aus dem nahen Gebüsch: tief neigen der Erlen
Kronen sich, und im Wind wogt das versilberte Gras;
Mich umfängt ambrosische Nacht; in duftende Kühlung
Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein.
In des Waldes Geheimniß entflieht mir auf einmal die Landschaft,
Und ein schlängelnder Pfad leitet mich steigend empor.
Nur verstohlen durchdringt der Zweige laubigtes Gitter
Sparsames Licht, und es blickt lachend das Blaue herein.
Aber plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt
Überraschend des Tags blendendem Glanz mich zurück.
Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne,
Und ein blaues Gebirg endigt im Dufte die Welt.
Tief an des Berges Fuß, der gählings unter mir abstürzt,
Wallet des grünlichten Stroms fließender Spiegel vorbei.
Endlos unter mir seh' ich den Äther, über mir endlos,
Blicke mit Schwindel hinauf, blicke mit Schaudern hinab.
Aber zwischen der ewigen Höh' und der ewigen Tiefe
Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin.

Innere Landschaften - Gemütslandschaften

"Nichts aber ist in diesem Zusammenhang aufregender als ein Vergleich zwischen der ersten Seite von Büchners 'Lenz' und den naturhymnischen Passagen im 'Werther'. [...] In den Landschaftsspektakeln des »Werther« bricht die verborgene Seele der Natur aus, einer göttlich-stürmischen Natur. Da braust und wogt pneumatisch die kosmische Liebe. Bei Büchner braust und tobt und blitzt und gleißt es ebenfalls in der Natur, auf den Kuppen der Vogesen, die gleichen Wörter tauchen auf und ein verwandtes Ungestüm der Bilder und Metaphern. Aber jetzt ist die Beseelung der Welt die fürchterliche Projektion eines gestörten Kopfs, der seine arme Wirrnis, seinen Hirnbrand in die Landschaft spiegelt. Kein Erdgeist wälzt sich in den Schluchten und widerhallt von den Felswänden, sondern es halluziniert in einem armen kaputten Schädel und alle »Würckungskrafft« ist nichts weiter als beginnende Schizophrenie. Das ist nicht mehr der »heilige Wahnsinn« als »höchste menschliche Erscheinung«, was von Werther zu sagen durchaus am Platze wäre, sondern es ist: die deutsche Gegenreligion als Geisteskrankheit." ((Peter v. Matt: Liebesverrat, die Treulosen in der Literatur dtv 1991 S.225))
  • Verloren in mittäglicher Traum-Landschaft: J.F.v.Eichendorff: Das Marmorbild (1818)
"Bald bemerkte er indes, daß er in Gedanken den rechten Weg verfehlt. Er betrachtete aufmerksam alle Plätze und ging zweifelhaft bald zurück, bald wieder vorwärts, aber vergeblich; je emsiger er suchte, je unbekannter und ganz anders kam ihm alles vor.
Lange war er so umhergeirrt. Die Vögel schwiegen schon, der Kreis der Hügel wurde nach und nach immer stiller, die Strahlen der Mittagssonne schillerten sengend über der gan-zen Gegend draußen, die wie unter einem Schleier von Schwüle zu schlummern und zu träumen schien. Da kam er unerwartet an ein Tor von Eisengitter, zwischen dessen zier-lich vergoldeten Stäben hindurch man in einen weiten, präch-igen Lustgarten hineinsehen konnte. Ein Strom von Kühle und Duft wehte den Ermüdeten erquickend daraus an. Das Tor war nicht verschlossen, er öffnete es leise und trat hinein.
Hohe Buchenhallen empfingen ihn da mit ihren feierlichen Schatten, zwischen denen goldene Vögel wie abgewehte Blü-ten hin und wieder flatterten, während große, seltsame Blumen, wie sie Florio niemals gesehen, traumhaft mit ihren gelben und roten Glocken in dem leisen Winde hin und her schwankten. Unzählige Springbrunnen plätscherten, mit ver-goldeten Kugeln spielend, einförmig in der großen Einsam-keit. Zwischen den Bäumen hindurch sah man in der Ferne einen prächtigen Palast mit hohen, schlanken Säulen hereinschimmern. Kein Mensch war ringsum zu sehen, tiefe Stille herrschte überall. Nur hin und wieder erwachte manchmal eine Nachtigall und sang wie im Schlummer fast schluch-zend. Florio betrachtete yerwundert Bäume, Brunnen und Blumen, denn es war ihm, als sei das alles lange versunken, und über ihm ginge der Strom der Tage mit leichten, klaren Wellen, und unten läge nur der Garten gebunden und ver-zaubert und träumte von dem vergangenen Leben.
Er war noch nicht weit vorgedrungen, als er Lautenklänge vernahm, bald stärker bald wieder in dem Rauschen der Springbrunnen leise verhallend. Lauschend blieb er stehen, die Töne kamen immer näher und näher, da trat plötzlich ...
(Reclam S. 20/21)
Kommentar: "Die Mittagsstunde ist bei Eichendorff mit den Erlebnisweisen von Erinnerung, Schlaf, Tod und Zeitenthobenheit und damit motivlich mit der romantischen Nachtauffassung verbunden (..). Es ist die Stunde der Versuchung und Gottesferne (...). Die Mittagsstunde ist durch den leitmotivisch benutzten Begriff der Schwüle charakterisiert (...) Sie ist mit einer bedrückenden, unklaren Stimmung assiziiert." (Erläuterungen und Dokumente, Reclam 8167 S. 15)


Überblickte Landschaften

  • Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (Abendlandschaft)
  • Adalbert Stifter: Der Hagestolz (4. Wanderung))


Bewegte Landschaften

  • Kahnfahrt mit Landschaft: Adalbert Stifter: Der Hagestolz (4. Wanderung)


Bedrohliche Landschaft

Am "Schauplatz einer Drohung": Alfred Andersch Sansibar oder der letzte Grund

Kapitel 2: Der junge KPD-Genosse Gregor radelt in Richtung einer Stadt an der Ostsee, wo er einen gefährlichen Auftrag zu erfüllen hat. Er stellt sich vor, wie der Vorhang sich öffnet und eine Landschaft tut sich auf. Aber er nähert sich auch dem "Schauplatz einer Drohung", weswegen sich die Landschaft ihm verschließt.
"Es ist möglich, dachte Gregor, vorausgesetzt,man ist nicht bedroht, die licht stehenden Kiefern als Vorhang zu sehen. Etwa so: offen sich darbietende Konstruktion aus hellen Stangen, von denen mattgrüne Fahnen unterm grauen Himmel regungslos wehten, bis sie sich in der Perspektive zu einer Wand aus flaschenglasigem Grün zusammenschlossen.
Die fast schwarz makadamisierte Straße deutete man dann als Naht zwischen den beiden Vorhanghälften; man trennte sie auf, indem man sie mit dem Fahrrad entlang fuhr; nach ein paar Minuten würde der Vorhang sich öffnen, um den Blick auf das Szenarium freizugeben: Stadt und Meeresküste.
Da man jedoch bedroht war, dachte Gregor, war nichts wie etwas anderes. Die Gegenstände schlossen sich in die Namen, die sie trugen, vollkommen ein. Sie wiesen nicht über sich selbsthinaus.
Es gab also nur Feststellungen: Kiefernwald, Fahrrad, Straße. Wenn der Wald zu Ende war, würde man die Stadt und die Küste erblicken - keine Kulissen für ein Spiel, sondern den Schauplatz einer Drohung, die alles in unabänderliche Wirklichkeit einfror. Ein Haus würde ein Haus sein, eine Woge eine Woge, nichts weiter und nichts weniger.
Erst jenseits des Hoheitsgebietes der Drohung, sieben Meilen von der Küste entfernt, auf einem Schiff nach Schweden - wenn es ein Schiff nach Schweden geben sollte -, würde das Meer, zum Beispiel das Meer, sich wieder mit einem Vogelflügel vergleichen lassen, einer Schwinge aus eisigem Ultramarin, die den Spätherbst Skandinaviens umflog. Bis dahin war das Meer nichts anderes als das Meer, eine bewegte Materiemasse, die man zu prüfen hatte, ob sie geeignet war, eine Flucht zu tragen.
Nein, dachte Gregor, nicht vom Meer hängt es ab, ob ich fliehen kann. Das Meer trägt. Es hängt von Matrosen und Kapitänen ab, von schwedischen oder dänischen Seeleuten, von ihrem Mut oder ihrer Geldgier, ..."

Bedrohte Landschaft

Industrialisierte Landschaft

  • Von Drähten und Schienen: Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel

Einsamkeit

Am "Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit" - Patrick Süßkind "Das Parfum"

"Dieser Pol, nämlich der menschenfernste Punkt des ganzen Königreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa fünf Tagesreisen südlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkans namens Plomb du Cantal.
Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Ge-strüpp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zähne aufragten und ein paar von Bränden verkohlte Bäume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, daß der ärmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hätte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen Öde nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hätte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben ware. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein or-dentliches warmblütiges Tier, bloß ein paar Fledermäuse und ein paar Käfer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wußte noch nicht, daß seine Reise hier zuende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lüfte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase über das gewaltige Panorama des vulkanischen Ödlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint- Flour und die Sümpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Ylorgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Süden schließlich, wo die Ausläufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. Überall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hätte jeder Schritt in jede Richtung wieder größere Menschennähe bedeutet. Der Kompaß kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
[...]Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbrüchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrüßt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit." (aus Kapitel 24)

Fundstellen

Siehe auch