Jean-Jacques Rousseau/Über Erziehung: Unterschied zwischen den Versionen
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Allgemeine Aussagen sind dabei im Unterschied zum Original durch Schrägdruck hervorgehoben. | ''Allgemeine Aussagen sind dabei im Unterschied zum Original durch Schrägdruck hervorgehoben.'' | ||
{{Zitat|Wandeln wir unsere Empfindungen in Vorstellungen, aber versetzen wir uns nicht plötzlich mit einem Sprung von den sinnlichen Gegenständen zu den geistigen, denn nur durch jene können wir zu diesen gelangen. Bei seinen ersten Operationen möge der Geist sich stets von den Sinnen führen lassen. Kein anderes Buch als die Welt, keine andere Belehrung als die Tatsachen. Das Kind, das liest, denkt nicht, es liest nur; es unterrichtet sich nicht, es lernt Worte. | |||
''Lenkt die Aufmerksamkeit eures Zöglings auf die Naturphänomene, und bald macht ihr ihn, wißbegierig. Um aber seine Wißbegier zu schüren, beeilt euch nicht, sie zu befriedigen. Stellt ihm Fragen, die seiner Fähigkeit entsprechen, und laßt ihn sie selbst lösen. Er soll nichts wissen, weil ihr es ihm gesagt habt, sondern weil er selbst es verstanden hat. Er soll die Naturwissenschaft nicht erlernen, er soll sie finden. Setzt ihr jemals in seinem Kopf die Autorität an die Stelle des Verstandes, wird er nicht mehr denken und nichts anderes mehr sein als das Spielzeug fremder Meinungen.'' | |||
Ihr wollt diesem Kind Geographie beibringen und schafft ihm Erd- und Himmelsgloben an, Landkarten - wieviel unnützes Zeug! Wozu alle diese Abbildungen warum zeigt ihr ihm nicht von vornherein den Gegenstand selbst, damit es wenigstens weiß, wovon ihr redet? | |||
An einem schönen Abend macht man einen Spaziergang an einen für die Gelegenheit günstigen Ort, wo man am wolkenlosen Horizont in aller Klarheit den Sonnenuntergang betrachten und die Gegenstände, die durch die Helle des Untergangs deutlich werden, beobachten kann. Am nächsten Morgen geht man, um die Morgenluft zu genießen, vor Sonnenaufgang an den gleichen Ort. Von weitem schon kündigt sich die Sonne mit ihren Feuerstrahlen an, die sie vor sich herschießt. Der Brand wird glühender, der ganze Osten scheint in Flammen zu stehen, in ihrer Glut wartet man auf das Gestirn, lange bevor es sich zeigt, jeden Augenblick glaubt man es erscheinen zu sehen - endlich sieht man es. Wie ein Blitz schießt ein glänzender Punkt herauf und füllt alsbald den ganzen Raum. Der Schleier der Dunkelheit schwindet und fällt. Der Mensch erkennt seine Stätte und findet sie verschönt. Während der Nacht hat das Grün neue, frische Kräfte gewonnen, und der junge Tag, der es beleuchtet, die ersten Sonnenstrahlen, die es vergolden, zeigen es unter einem glitzernden Netz von Tau, dessen Lichter und Farben das Auge widerspiegelt. Die Vögel tun sich im Chor zusammen und grüßen gemeinsam die Mutter des Lebens. Nicht eine Stimme schweigt in diesem Augenblick, ihr Gezwitscher, noch ein wenig zart, kommt zögernder und süßer als am späteren Tag, man spürt noch die Mattigkeit eines friedlichen Erwachens. All dies zusammengenommen erfüllt die Sinne mit dem Eindruck von Frische, der bis in die Seele zu dringen scheint. Das ist eine halbe Stunde der Verzauberung, der niemand widerstehen kann; ein so großartiges, so schönes, so köstliches Schauspiel läßt niemanden kalt. | |||
Erfüllt von seiner eigenen Begeisterung will der Lehrer sie dem Kinde mitteilen: er glaubt es rühren zu können, wenn er es aufmerksam macht auf die Empfindungen, die ihn selbst bewegen. Die reine Dummheit! Nur im Herzen des Erwachsenen hat das Schauspiel der Natur Leben; um es sehen zu können, muß man es fühlen. Das Kind bemerkt die Dinge, kann aber nicht die Zusammenhänge, die sie verbinden, bemerken; es kann die süße Harmonie ihres Konzertes nicht hören. Es bedarf einer Erfahrung, die es noch nicht gemacht hat, es bedarf eines Gefühls, das es noch nie empfand, um den Gesamteindruck zu spüren, der aus der Gleichzeitigkeit aller dieser Sinnesempfindungen sich ergibt. Hat es noch nie endlose verdorrte Ebenen durchquert, hat noch nie glühender Sand seine Füße verbrannt, hat die erstickende Rückstrahlung von sonnengebrannten Felsen ihm noch nie den Atem genommen - wie kann es da die frische Luft eines schönen Morgens genießen? wie kann der Duft der Blumen, der Zauber des Grüns, der feuchte Dunst des Taus, die Weichheit und Sanftheit des Ganges über eine Wiese, die der Fuß betritt, seine Sinne bezaubern? Wie kann der Gesang der Vögel ihm wollüstige Schauer bereiten, wenn es die Sprache der Liebe und der Lust noch nicht kennt? Wie soll es hingerissen sein beim Anbruch eines so schönen Tages, wenn seine Vorstellungskraft ihm nicht zeigen kann, auf welch hinreißende Art es ihn verbringen wird? Und schließlich, wie soll es Rührung empfinden über die Schönheit des Anblicks der Natur, wenn es nicht weiß, welche Hand es war, die sie schmückte? | |||
''Haltet dem Kind keine Vorträge, die es nicht verstehen kann.'' Keine Umschreibungen, keine Eloquenz, keine bildhafte Ausdrucksweise, keine Poesie. jetzt geht es weder um Gefühl noch um Schönheitssinn. Bleibt weiterhin klar, einfach und kühl; die Zeit kommt nur zu bald, wo ihr eine andere Sprache nötig habt. | |||
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Haltet dem Kind keine Vorträge, die es nicht verstehen kann.'' Keine Umschreibungen, keine Eloquenz, keine bildhafte Ausdrucksweise, keine Poesie. jetzt geht es weder um Gefühl noch um Schönheitssinn. Bleibt weiterhin klar, einfach und kühl; die Zeit kommt nur zu bald, wo ihr eine andere Sprache nötig habt. | |||
Im Geist unsrer Grundsätze erzogen, gewohnt, sich immer selbst zu helfen und nur dann den Beistand andrer zu erbitten, wenn es seine Unzulänglichkeit erkennt, untersucht es lange jedes neue Ding, das es sieht, ohne etwas zu sagen. Es ist nachdenklich und fragt nicht viel. Zeigt ihm nur die Dinge im rechten Augenblick, und dann, wenn ihr bemerkt, daß seine Wißbegier geweckt ist, stellt ihm irgendeine lakonische Frage, die es auf den Weg zu ihrer Lösung bringt. | Im Geist unsrer Grundsätze erzogen, gewohnt, sich immer selbst zu helfen und nur dann den Beistand andrer zu erbitten, wenn es seine Unzulänglichkeit erkennt, untersucht es lange jedes neue Ding, das es sieht, ohne etwas zu sagen. Es ist nachdenklich und fragt nicht viel. Zeigt ihm nur die Dinge im rechten Augenblick, und dann, wenn ihr bemerkt, daß seine Wißbegier geweckt ist, stellt ihm irgendeine lakonische Frage, die es auf den Weg zu ihrer Lösung bringt. | ||
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An Sankt Johannis haben wir den Sonnenaufgang gesehn; wir werden ihn auch Weihnachten oder an irgendeinem anderen schönen Wintertag sehn, denn man weiß, daß wir nicht faul sind und daß wir uns einen Spaß daraus machen, der Kälte zu trotzen. Mit Absicht wähle ich für die zweite Beobachtung den gleichen Ort, an dem wir die erste machten, und indem ich mit einiger Geschicklichkeit eine gewisse Bemerkung vorbereite, wird es auch nicht au leiben, daß einer von uns sie macht und ausruft: Oh! oh! Das ist aber spaßig! die Sonne geht nicht mehr an der gleichen Stelle auf! wir haben doch unsre früheren Beobachtungen, und jetzt geht sie dort auf usw. ... Es gibt also einen Sommersonnenaufgang und einen Wintersonnenaufgang etc.... jetzt bist du auf dem richtigen Wege, junger Lehrer. Diese Beispiele sollten dir genügen, um eindeutig die Himmelssphäre zu erklären, indem du die Erde als Erde und die Sonne als Sonne gelten läßt. | An Sankt Johannis haben wir den Sonnenaufgang gesehn; wir werden ihn auch Weihnachten oder an irgendeinem anderen schönen Wintertag sehn, denn man weiß, daß wir nicht faul sind und daß wir uns einen Spaß daraus machen, der Kälte zu trotzen. Mit Absicht wähle ich für die zweite Beobachtung den gleichen Ort, an dem wir die erste machten, und indem ich mit einiger Geschicklichkeit eine gewisse Bemerkung vorbereite, wird es auch nicht au leiben, daß einer von uns sie macht und ausruft: Oh! oh! Das ist aber spaßig! die Sonne geht nicht mehr an der gleichen Stelle auf! wir haben doch unsre früheren Beobachtungen, und jetzt geht sie dort auf usw. ... Es gibt also einen Sommersonnenaufgang und einen Wintersonnenaufgang etc.... jetzt bist du auf dem richtigen Wege, junger Lehrer. Diese Beispiele sollten dir genügen, um eindeutig die Himmelssphäre zu erklären, indem du die Erde als Erde und die Sonne als Sonne gelten läßt. | ||
Allgemein gelte, daß man nur dann das Zeichen an die Stelle der Sache setzen darf, wenn es unmöglich ist, sie zu zeigen; denn das Zeichen absorbiert die Aufmerksamkeit des Kindes und läßt es die dargestellte Sache selbst vergessen. | ''Allgemein gelte, daß man nur dann das Zeichen an die Stelle der Sache setzen darf, wenn es unmöglich ist, sie zu zeigen; denn das Zeichen absorbiert die Aufmerksamkeit des Kindes und läßt es die dargestellte Sache selbst vergessen.'' | ||
Die Armillarsphäre scheint mir schlecht konzipiert und in unrichtigen Proportionen ausgeführt. Die darauf markierte Wirrnis von Ringen und bizarren Figuren vermittelt einen magischen Eindruck, vor dem der kindliche Geist zurückschreckt. Die Erde wird zu klein, die Ringe werden zu groß dargestellt; einige, wie die Koluren, sind vollkommen überflüssig! Jeder Ring ist größer als die Erde; die Dicke des Kartons vermittelt den Eindruck einer Festigkeit, nach der man sie für wirklich existierende runde, starke Gebilde halten könnte. Und sagt ihr dem Kind, daß es sich dabei nur um imaginäre Ringe handelt, weiß es nicht mehr, was es sieht und versteht überhaupt nichts mehr. | Die Armillarsphäre scheint mir schlecht konzipiert und in unrichtigen Proportionen ausgeführt. Die darauf markierte Wirrnis von Ringen und bizarren Figuren vermittelt einen magischen Eindruck, vor dem der kindliche Geist zurückschreckt. Die Erde wird zu klein, die Ringe werden zu groß dargestellt; einige, wie die Koluren, sind vollkommen überflüssig! Jeder Ring ist größer als die Erde; die Dicke des Kartons vermittelt den Eindruck einer Festigkeit, nach der man sie für wirklich existierende runde, starke Gebilde halten könnte. Und sagt ihr dem Kind, daß es sich dabei nur um imaginäre Ringe handelt, weiß es nicht mehr, was es sieht und versteht überhaupt nichts mehr. | ||
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''Es gibt einen Zusammenhang von allgemeinen Wahrheiten, worin alle Wissenschaften von gemeinsamen Prinzipien abhängen und sich Schritt für Schritt entwickeln: dies ist die Methode der Wissenschaftler. Doch hier handelt es sich nicht darum. Es gibt eine ganz andere Methode, bei der jeder Gegenstand einen anderen nach sich zieht und immer auf den hinweist, der ihm folgt. Diese Ordnung, die durch eine ununterbrochene Neugierde die Aufmerksamkeit wachhält, die alle Gegenstände fordern, wird von den meisten Menschen befolgt, und vor allem die Kinder bedürfen ihrer.'' Beim Studium des Landkartenzeichnens mußten wir Meridiane ziehen. Zwei Schnittpunkte zwischen den einander entsprechenden Schatten am Morgen und am Abend ergeben einen ausgezeichneten Meridian für einen Astronomen von dreizehn Jahren. Aber diese Meridiane werden uninteressant, man braucht soviel Zeit, um sie zu ziehen; immer verlangen sie, daß man an Ort und Stelle bleibt, um zu arbeiten. Soviel Sorgfalt, ein solcher Zwang würden ihn auf die Dauer langweilen. Das haben wir uns schon gedacht und kommen dem zuvor. | ''Es gibt einen Zusammenhang von allgemeinen Wahrheiten, worin alle Wissenschaften von gemeinsamen Prinzipien abhängen und sich Schritt für Schritt entwickeln: dies ist die Methode der Wissenschaftler. Doch hier handelt es sich nicht darum. Es gibt eine ganz andere Methode, bei der jeder Gegenstand einen anderen nach sich zieht und immer auf den hinweist, der ihm folgt. Diese Ordnung, die durch eine ununterbrochene Neugierde die Aufmerksamkeit wachhält, die alle Gegenstände fordern, wird von den meisten Menschen befolgt, und vor allem die Kinder bedürfen ihrer.'' Beim Studium des Landkartenzeichnens mußten wir Meridiane ziehen. Zwei Schnittpunkte zwischen den einander entsprechenden Schatten am Morgen und am Abend ergeben einen ausgezeichneten Meridian für einen Astronomen von dreizehn Jahren. Aber diese Meridiane werden uninteressant, man braucht soviel Zeit, um sie zu ziehen; immer verlangen sie, daß man an Ort und Stelle bleibt, um zu arbeiten. Soviel Sorgfalt, ein solcher Zwang würden ihn auf die Dauer langweilen. Das haben wir uns schon gedacht und kommen dem zuvor. | ||
Nun bin ich wieder mitten drin in meinen langatmigen und detaillierten Ausführungen. Ich höre schon euer Grollen, liebe Leser, aber trotzdem fahre ich fort | ''Nun bin ich wieder mitten drin in meinen langatmigen und detaillierten Ausführungen. Ich höre schon euer Grollen, liebe Leser, aber trotzdem fahre ich fort - ich will den nützlichsten Teil dieses Buchs nicht eurer Ungeduld opfern. Denkt, was ihr wollt über meine Langatmigkeit, dafür denke ich, was ich will über eure Klagen.'' | ||
|J.J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung, Reclam Verlag Stuttgart 1980, S.355-365}} | |J.J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung, Reclam Verlag Stuttgart 1980, S.355-365}} |
Version vom 15. Oktober 2006, 19:16 Uhr
Einzelne Erziehungsgrundsätze
Eine Argumentation Rousseaus im Zusammenhang
Allgemeine Aussagen sind dabei im Unterschied zum Original durch Schrägdruck hervorgehoben.