Über Grenzen denken - Eine Ethik der Migration
Über Grenzen denken - Ethik der Migration ist ein Essay von Nida-Rümelin aus dem Jahr 2017
Kurzfassung der Postulate
- Migrationspolitik soll zu einer humaneren und gerechteren Welt beitragen.
- Die Einwanderung soll in den aufnehmenden Gesellschaften als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen werden.
- Die Entscheidungen der Migrationspolitik müssen mit dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Bürgerschaft verträglich sein.
- Die Migrationspolitik soll die soziale Ungleichheit im aufnehmenden Land nicht verschärfen.
- Die Migrationspolitik hat die Nachteile, die sich aus Wirtschafts- und Arbeitsmigration für die Herkunftsregionen ergeben, vollständig zu kompensieren.
- Die Solidaritätsressourcen der Weltgesellschaft sollen nicht überwiegend durch transkontinentale Migration gebunden sein, sondern zum Aufbau einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung eingesetzt werden.
- Man darf von der Migrationspolitik nichts verlangen, was nicht auch im sozialen Nahbereich akzeptiert wird.
Vorwort
"Die politische Praxis und der öffentliche Diskurs befinden sich ganz offenkundig in einer Orientierungskrise, die sich zu einer Gefährdung der liberalen und sozialen Demokratie auswachsen kann [...]" (S.8)
Zur Willkommenskultur 2015 in Deutschland:
"Diese 'Willkommenskultur' bleibt ein großes Verdienst von Staat und Zivilgesellschaft. Dies anzuerkennen, steht nicht im Widerspruch damit, dass Migration in dieser Form und diesem Umfang nicht das geeignete Mittel ist, um auf Armut und Not zu reagieren" (S.9) "Der letzte Auslöser der Flüchtlingskrise war jedoch die mangelnde internationale Solidarität gegenüber den Anrainerstaaten [...] Auch Deutschland hatte es an der gebotenen Solidarität fehlen lassen, sogar gegenüber den südeuropäischen Zielländern der Flüchtlinge aus dem arabischen Raum und Afrika, wie Italien, Spanien und Griechenland, also EU-Mitgliedsländern. [...] Die Tatsache, dass Auswanderung auch positive Effekte in den Herkunftsregionen haben kann, [...] darf den Blick auf die großen Zusammenhänge nicht verstellen. Diese positiven Effekte treten in einer Welt weitgehend geschlossener Grenzen auf, die transkontinentale Migration auf einen sehr kleinen Prozentsatz der Weltbevölkerung beschränken." (S.10/11) "Die Entvölkerung weiter Teile Ostdeutschlands infolge jener ökonomisch unklugen Schockvereinigung der vormalig getrennten deutschen Staaten ohne Übergangsfristen und Sonderwirtschaftszonen (anders als bei der Integration des Saarlandes in den 1950er Jahren) samt der Einführung einer gemeinsamen Währung und vollständiger Freizügigkeit hat dort zu Perspektivlosigkeit und Resignation beigetragen und soziale Dysbalancen geschaffen, die bis heute nachwirken und für eine lange Zeit nicht mehr korrigierbar sein werden." (S.12)
Einführung und Überblick
"Jedes Argument, das wir vortragen, hat seine letzte Rechtfertigung nicht in den Postulaten der einen oder anderen ethischen Theorie, sondern in der Praxis normativer Stellungnahmen, die wir teilen." (S.17/18)
"Darin besteht unsere Verantwortung: Gründe vernünftig abzuwägen, eigene Interessen mit den Interessen anderer in ethisch akzeptabler Form abzugleichen und die eigene Praxis in eine gerechtfertigte Struktur kollektiver [...] Praxis einzubetten." (S.21)
Nida-Rümelin vertritt die "These, dass das Menschenrecht auf kollektive Selbstbestimmung sich nur im Rahmen staatlicher Institutionen realisieren lässt, nicht in lockeren, sich immer wieder neu bildenden, ephemeren Gemeinschaften. [...] Die kosmopolitische Perspektive [...] darf sich nicht gegen politische Selbstbestimmung richten, sondern muss diese in die Perspektive einer [...] an den Menschenrechten orientierten [...] Ordnung der Welt integrieren". (S.29)
I. Ethische Pflichten
Nida-Rümelin verwirft ethische Theorien, die er als erkenntnistheoretisch fundamentalistisch und reduktionistisch ansieht:
"Ich stelle dem eine kohärentistische Herangehensweise entgegen. Statt die Vielfalt der ethischen Beurteilungen auf einen einzigen Typus zu reduzieren und aus diesem dann das Gesamt der internationalen Gerechtigkeit abzuleiten, nehmen wir die ethische Abwägung ernst: Die Sachverhalte sind komplex, sie erfordern ethische Urteilskraft. Der Versuch, diese Komplexität loszuwerden, indem man ein Prinzip postuliert und daraus seine Forderungen an die internationale Gerechtigkeit ableitet, muss scheitern." (S.41) "So plädieren wir gewissermaßen für Behutsamkeit im Umgang mit unserer lebensweltlichen moralischen Kompetenz.
Die Liste:
1. Wir haben einen guten Prima-facie-Grund, etwas zu tun, wenn dies unsere eigenen Interessen befördert: interessengeleitete, praktische Gründe.
2. Wir haben einen guten Prima-facie-Crund, etwas zu tun, wenn wir uns dazu verpflichtet haben: kommissive, praktische Gründe.
3. Wir haben einen guten Prima-facie-Grund, etwas zu tun, wenn dies zu der Rolle gehört, die wir übernommen haben (zum Beispiel Lehrerpflichten gegenüber ihren Schülern): kommunitäre Pflichten.
4. Wir haben einen guten Grund, etwas zu unterlassen, wenn dies das individuelle (moralische) Recht einer Person verletzen würde: libertäre, praktische Gründe.
5. Wir haben einen guten Prima-fade-Grund, etwas zu unterlassen, wenn dies eine Person diskriminieren würde: Gleichbehandlungsgründe.
6. Wir haben einen guten Prima-fade-Grund, etwas zu tun, wenn dies Teil einer gemeinsamen Praxis ist, die allen Beteiligten zugutekommt, auch dann, wenn es Alternativen gäbe, die für die eigene Interessenverfolgung günstiger sind: kooperative Handlungsgründe.
7. Wir haben einen guten Prima-fade-Grund, etwas zu tun, wenn wir damit einer Person etwas Gutes tun können, zumal, wenn es dieser Person schlecht geht oder wir ihr nahestehen: altruistische Handlungsgründe.
Egoistische Handlungstheorien, zu denen die in der Ökonomie dominierende Rationalitätstheorie gehört, behaupten, lediglich Gründe der ersten Kategorie seien relevant. Unsere lebensweltliche Praxis steht dem aber entgegen. So leben wir nicht, und so urteilen wir nicht. Kontraktualistische Ethiken halten allein Gründe der zweiten Kategorie für relevant. Auch diese Auffassung ist unvereinbar mit unserer lebensweltlichen Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens. Libertäre ethische Theorien verleihen nur den Gründen der ersten und der vierten Kategorie Relevanz. Kommunitaristisehe Ethiker dagegen finden relevante Gründe lediglich in der dritten Kategorie. Nähmen wir das ernst und würden uns entsprechend verhalten, bedeutete dies jedoch in jeder dieser Ethikvarianten in der Konsequenz den Zusammenbruch der vertrauten menschlichen Lebensform, die Aufkündigung einer Begründungspraxis, die wir teilen und die unsere Lebensform ausmacht." (S.44-46)
II. Verantwortung
"Wenn jemand etwas getan hat, was wir für falsch halten, so werden wir dies missbilligen. Vielleicht werden wir diese Missbilligung für uns behalten, diese der betreffenden Person und anderen nicht mitteilen, aus Rücksichtnahme auf die Betroffenen. Es gehört zu den Merkmalen einer zivilen Kultur, dass man die eigenen Beurteilungen anderen nicht aufdrängt, sich zurückhält und damit die autonome Gestaltung der eigenen Praxis wechselseitig erst möglich macht. [...] Dennoch gibt es nicht nur im Privaten, sondern auch im Öffentlichen die legitime Auseinandersetzung um die richtige Praxis. Diese erfolgt im Modus des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens:
Die kritisierte Person reagiert nicht, indem sie die kausalen Faktoren beschreibt, die zu ihrer Handlungsweise beigetragen haben, sondern durch Angabe der Gründe, die zu ihrer Handlung veranlasst haben. Wenn sie sich lediglich auf die Beschreibung von Kausalitäten zurückzieht, gibt sie ihre Rolle als verantwortlicher Akteur ipso facto auf: Der Angeklagte vor Gericht, der, anstatt seine Tat zu rechtfertigen, sich auf die schwierigen Bedingungen seiner Kindheit beruft, macht damit, gewollt oder ungewollt, deutlich, dass er sich selbst, jedenfalls hinsichtlich dieser Tat, für unzurechnungsfähig hält. [...] Verantwortlichkeit ist an die Fähigkeit, Gründe für das eigene Handeln zu geben, gekoppelt." (S.51/52) "[...] Wenn wir das Phänomen der Verantwortung herausbrechen, kollabiert das, was wir unter dem Humanen verstehen, als Ganzes. Die menschliche Lebensform stünde in Frage.
Zwei Einwände drängen sich hier geradezu auf: Ist nicht das, von dem hier die Rede ist, etwas spezifisch Europäisches, ist es nicht an eine bestimmte Kultur gebunden? Und zweitens, ist das Subjekt nicht eine Erfindung, eine Konstruktion der europäischen Aufklärung, die sich über die Verbreitung bestimmter Denkmuster, darunter das der Menschenrechte, unterdessen globalisiert hat?" (S.52)
Der folgenden Argumentation Nida-Rümelins wird man wohl nur folgen, wenn man seine Einbeziehung menschlicher Alltagspraxis in sein philosophisches Konzept akzeptieren kann:
"Wir haben von Verantwortlichkeit nicht in einem besonderen philosophischen oder weltanschaulichen Sinne gesprochen, sondern in einem sehr grundlegenden, wie er aus unserer menschlichen Alltagspraxis nicht wegzudenken ist: Wir haben von Verantwortlichkeit nur insofern gesprochen, als Menschen in bestimmten Situationen aufgefordert werden und in der Lage sind, Gründe zu geben für das, was sie tun. [...] Die erste Person, die Ich-Perspektive, kann gar nicht anders, als ihre Handlungen als Ausdruck ihrer Absichten und Überzeugungen zu interpretieren. (S.53)
III. Kommunitarismus versus Kosmopolitismus
"John Rawls hatte Gerechtigkeit als das Ergebnis der fairen Wahl von Grundprinzipien bestimmt. Fair ist die Wahl dann, wenn man von allen Besonderheiten individueller Interessen abstrahiert." (S.66)
"Kommunitaristen wie Michael Sandel haben dagegen eingewandt, dass Individuen als isolierte und wechselseitig desinteressierte gar nicht vorstellbar seien, dass erst die Gemeinschaftszugehörigkeit die (moralische) Person ausmache." (S.67)
"In der Tat werden wir eine kosmopolitische Perspektive einnehmen, das heißt die Ethik der Migration unter dem Aspekt einer humanen Gestaltung der Weltverhältnisse diskutieren und nicht aus einer nationalstaatlichen oder gruppengebundenen Perspektive. Allerdings wird sich zeigen. dass der hier vertretene Kosmopolitismus den berechtigten Einwänden kommunitaristischer Kritiker durchaus gerecht werden kann." (S.69)
"Der soziologische Kosmopolitismus löst Strukturen auf, die für viele Menschen, insbesondere für die ökonomisch schlechter gestellten, Sicherheit und Halt stiften, vor allem aber Gemeinschaftsbildung erst ermöglichen; dazu gehört auch die Sozialstaatlichkeit. Die vier Mobilitäten der modernen liberalen Gesellschaften - der familialen (Heirat, Scheidung, Wiederverheiratung, Patchworkfamilien etc.), der lokalen (Wechsel des Wohnsitzes, wie er in den USA um ein Vielfaches häufiger vorkommt als in Europa) , der sozialen [...] und der weltanschaulichen Mobilität (Wechsel der Religionsgemeinschaften [...]) - gehören zwar zu den individuellen Rechten und Freiheiten, die die liberalen westlichen Gesellschaften bieten, bedrohen aber [...] zugleich Gemeinschaftsbindungen und gesellschaftlichen Zusammenhalt, sodass diese Freiheiten, wenn sie im Übermaß genutzt werden, zur Erosion aller Bindungskräfte führen. (S.71/72)
"Ich halte an einer universalistischen Ethik und einer kosmopolitischen Philosophie fest, werde aber zeigen, dass sich die zentralen kommunitaristischen Impulse in einer überzeugenden Weise universalistisch und kosmopolitisch integrieren lassen. Um dies vorzubereiten, wählen wir ein Beispiel aus der Individualethik. Methodisch orientieren wir uns dabei wieder am kohärentistischen Programm [...] Unser Beispiel ist die besondere moralische Verantwortung im sogenannten Nahbereich, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Freunden. zwischen Lebenspartnern. Niemand bestreitet. jedenfalls außerhalb des philosophischen Oberseminars. dass Eltern eine besondere Verantwortung für ihre Kinder, [...] (S.75)
"Tatsächlich sehe ich aber keinen Konflikt zwischen universalistischer Ethik und kosmopolitischer Philosophie mit unseren, nennen wir sie im Folgenden zusammenfassend partikularen Pflichten. [...] Wir wünschen uns eine je individuelle Praxis, die die Strukturen der Verantwortungswahrnehmung und Pflichterfüllung dieser genannten Arten bewahrt." (S.77)
"Wenn dem aber so ist, dann ist nur ein gedanklicher Schritt nötig, um die partikularen, speziell kommunitären moralischen Verpflichtungen in eine universalistische und kosmopolitische Perspektive einzubetten. [...] Der kantische kategorische Imperativ stellt eine, allerdings sehr vergröberte, Form dieser Einbettungsrelation dar: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zu einem allgemeinen Gesetz werden könnte, reicht nicht aus, um diese Einbettung zu bestimmen. Ich habe daher das Konzept einer strukturellen Rationalität entwickelt und verstehe darunter die Rechtfertigung einer Handlung im Hinblick auf eine wünschenswerte Struktur." (S.78/79)
"Wir müssen uns dann die Mühe machen, zu bestimmen. welche Praktiken als strukturell rational gelten können. [...] Wenn das, was aus der globalen Perspektive sinnvoll erscheint. für die individuellen Lebensformen unzumutbar wird, dann muss auch wieder rückwirkend das kosmopolitische Ideal überprüft werden." (S.81)
"Die zeitgenössische Philosophie [...] akzeptiert die Bindungen und Projekte, die eine humane (Welt-)Gesellschaft ausmachen, und integriert diese in eine kosmopolitische Perspektive." (S.82)
IV. Internationale Gerechtigkeit: die globale Herausforderung
"Die Welt ist ungerecht, weil ein Großteil der Weltbevölkerung im Elend verharrt, obwohl diese s Elend durch fairere Kooperationen weltweit zu beheben wäre. Je nach Kriterium für Elend beläuft sich das auf rund zwei Milliarden Menschen." (S.85)
"Ungleichverteilung ist nicht per se ein Indiz für Ungerechtigkeit, sondern nur infolge einer Ungleichbehandlung von Individuen oder wenn sie die ohnehin Benachteiligten weiter benachteiligt. Der gleiche individuelle Respekt, den Menschen verdienen, verlangt nach Gleichbehandlung als Bürger und als Menschen. Die Gleichbehandlung als Bürger wird im Idealfall durch die Bürgerrechte und ihre rechtsstaatliche Durchsetzung garantiert. Die Gleichbehandlung als Menschen verlangt nach einer gerechten Welt. (S.91)
V. Ethische Aspekte der Armutsmigration
Nicht jede Migration kann als eine Flucht bezeichnet werden. [...] (S.96) "Transkontinentale Migration ist kein geeignetes Mittel, um Armut und Elend in der Welt zu bekämpfen." (S.98/99)
"Utilitaristische Effizienzkriterien, also die Beurteilung einer Handlung danach, in welchem Umfang sie dazu beiträgt, Leid zu mindern und Wohlergehen zu mehren. ist immer dann zulässig, ja geboten, wenn die Erfüllung dieses Prinzips nicht in Konflikt mit anderen - gewichtigeren - Handlungsgründen gerät." (S.101)
"Wenn es nicht die am meisten Hilfsbedürftigen sind, die über die europäischen Grenzen kommen, stellt sich die Frage, ob die Fokussierung der Hilfsbereitschaft auf diejenigen, die den beschwerlichen und gefährlichen Weg zu uns genommen haben. nicht eine Vernachlässigung all derjenigen darstellt. denen die finanziellen und physischen Möglichkeiten dazu fehlen, die aber in weit höherem Maße unsere Unterstützung verdienen.
Eine ethische Pflichtverletzung stellt eine solche Vernachlässigung jedenfalls dann dar, wenn es möglich wäre, den Zurückgebliebenen zu helfen, wir dieses aber unterlassen, weil wir gewissermaßen abwarten. wer in unser Gesichtsfeld kommt." (S.104 - auf S.106/7 bringt der Verfasser freilich Argumente ein, die diese Aussage relativieren.)
"Nimmt man statt einer utilitaristischen oder kontraktualistischen eine Menschenrechtsperspektive auf internationale Gerechtigkeit ein. stellt sich die Situation ambivalenter dar. [...] Menschenrechte definieren überwiegend negative Pflichten. also Pflichten der Unterlassung, keine positiven Pflichten, etwas aktiv herbeizuführen. Die globale Armutsbekämpfung gehört daher zunächst nicht zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen. [...Aber:] Wenn eine bestimmte institutionell verfestigte internationale Praxis zum unnötigen Tod oder zur unnötigen Mangelernährung, zu unnötigem Elend von Millionen von Menschen führt, dann machen sich diejenigen, die sich an dieser Praxis beteiligen, schuldig. Sie verletzen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und menschenwürdige Existenz. (S.104-106)
"Der Rückzug auf eine Politik großzügiger Aufnahme, anstatt eine Politik der Reform der Weltwirtschaft anzugehen, ist [...] ein ethisches Unrecht. Allerdings haben wir für einen Kosmopolitismus geworben, der die partikularen, die kommunitären, besonderen Bindungen integriert (vgl. Kapitel III). Die globale Betrachtung erfasst nicht die gesamte ethische Komplexität der Armutsmigration. Denn auch wenn es wünschenswert ist, dass effektivere Mittel eingesetzt würden, um den Ärmsten der Welt zu helfen, auch dann, wenn wir es für eine ethische Pflicht der Weltgemeinschaft, zumal der Vereinten Nationen halten, die Bedürfnisse der Bottom Billion zu priorisieren, so besteht dennoch stets die partikulare Pflicht, Hilfe gegenüber jenen zu leisten, die Hilfe benötigen und mit denen wir in ein unmittelbares Interaktionsverhältnis treten. [...] Wenn wir auf dem Wege mit dem Sturz einer Person konfrontiert werden, haben wir eine unmittelbare Hilfspflicht. Wir unterstehen dieser [... auch wenn es], möglich wäre, größeres Leid zu mildern." (S.106/07)
"Das Phänomen der Armutsmigration führt zu einem genuinen ethischen Dilemma, das sich im Konflikt zweier Gleichbehandlungsprinzipien äußert. Wir haben die Pflicht, die Neuankömmlinge in unserem Land gleich wie die hier Lebenden zu behandeln, [...] Das utilitaristische, kontraktualistische und menschenrechtliche - kosmopolitische - Gebot, das verbreitete Elend im globalen Süden zu lindern, verlangt nach einer Praxis, die denjenigen mehr Beachtung schenkt, die vom Elend in höherem Maße betroffen sind.
Gleichbehandlung verlangt hier Unterstützung nach dem Maß der Bedürftigkeit. [...] Was immer wir tun, wir verletzen eines von diesen und werden damit einem zentralen ethischen Erfordernis nicht gerecht. (S.108/09)
VI. Ethische Aspekte der Kriegs- und Bürgerkriegsmigration
"[...] Die naheliegende Idee westlicher Politiker. durch Demokratisierung und Menschenrechte und durch den Sturz despotischer Regime einen zivilen Frieden in der MENA-Region zu befördern, beruhte auf einer falschen politischen Analyse [...] Da sich die Demokratie niemals gegen die Mehrheit der Bevölkerung und nur als säkulare Politikform realisieren lässt, die sich nicht auf heilige Schriften oder klerikale Autoritäten stützt, entsteht ein politisches Dilemma: Die Förderung der Demokratie und die Unterstützung der Kräfte, die gegen Despotien und Feudalherren wirken [...] stärken unter den gegebenen kulturellen Bedingungen die islamistischen Kräfte." (S.113-114)
Merkels Entscheidung von 2015 "ist in ihrer humanitären Motivation absolut nachvollziehbar, sie war jedoch in ihrer Spontaneität nicht durchdacht: Sie verzichtete auf eine europäische Absicherung einer veränderten Flüchtlingspolitik, sie brach die rechtlichen Regeln, auf die sich die Europäische Union mit Dublin und Schengen verabredet hatte [...] Die deutsche Migrationspolitik entbehrte über Jahrzehnte jeder programmatischen Fundierung. [...]" (S.116-117)
"Es entspricht dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention, dass Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlinge möglichst ortsnah, also zumeist in den angrenzenden Nachbarstaaten, vorübergehend Aufnahme finden, wobei die Kosten dieser Aufnahme von der Weltgemeinschaft zu tragen sind." (S.119)
"Wir müssen also sorgfältig unterscheiden: zwischen Immigration und Gastrecht. Legitime und in vielen Fällen wünschenswerte Immigration sollte so früh wie möglich mit der Integrationsperspektive verknüpft werden. [...] Dagegen ergibt es Sinn, wenn Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ein Gastrecht in den Staaten genießen, die im Umfeld des Kriegsgebietes liegen. [...] Sosehr sich diese notwendige Unterscheidung aufdrängt, so problematisch wird sie bei allen länger anhaltenden kriegerischen Konflikten." (S.120-121)
VII. Ethische Aspekte der Wirtschaftsmigration
"Auch den radikalsten Vertretern des Marktprinzips ist bewusst, dass für das Marktgeschehen bestimmte Regeln unverzichtbar sind. [...] Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit [...] social capital [...]" (S.126-127)
"Das zentrale Defizit ökonomischer Märkte liegt darin, dass sie nicht imstande sind, kollektive Güter bereitzustellen. [...] Der logische Zusammenhang zwischen kollektiven Gütern (Gemeingütern, externen Effekten) und Regelbefolgung (Befolgung derjenigen Regeln, die für den ökonomischen Erfolg erforderlich sind) ergibt sich daraus, dass sowohl kollektive Güter als auch Regelbefolgung eine Interaktionsstruktur etablieren, die man als Gefangenendilemma bezeichnet [...]" (S.128-129)
"Auffällig ist, dass in den unteren Einkommensgruppen am meisten Widerstand gegen Einwanderung laut wird. [...] (S.134)
Die Politik der offenen Tür, die von Wirtschaftsverbänden und Unternehmensführungen in der Regel befürwortet wird, hat neben dem lohndämpfenden Effekt, jedenfalls in den unteren Lohngruppen, vor allem den Hintergrund, dass die Ausbildung von einheimischen Jugendlichen teurer ist als die Übernahme von schon ausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland. Diese Rechnung geht aber nur auf, wenn das entsprechende Qualifikationsniveau gegeben ist. [...] Völlig unzweifelhaft ist, dass viele der ärmsten Länder der Welt aus der Migration massive sozioökonomische Nachteile haben. [...] Ein zentrales ethisches Postulat der Wirtschaftsmigration muss daher sein, dass der Braindrain in den Auswanderungsländern kompensiert wird." (S.138-140)
VIII. Sieben ethische Postulate für die Migrationspolitik
"Gestalte die Migrationspolitik so, dass sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt." (S.144)
"Gestalte die Migrationspolitik im Inneren, also in den aufnehmenden Gesellschaften, so, dass die Einwanderung als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird." (S.145)
"Migrationspolitische Entscheidungen müssen mit dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Bürgerschaft verträglich sein." (S.149)
"Die Migrationspolitik sollte so ausgestaltet sein, dass sie die soziale Ungleichheit im aufnehmenden Land nicht verschärft, die Strukturen des sozialen Ausgleichs (Sozialstaat) nicht gefährdet und über alle sozialen Schichten hinweg (eine wohlbegründete) Akzeptanz finden kann." (S.149)
"Die Migrationspolitik generell, speziell aber die auf Wirtschafts- und Arbeitsmigration gerichtete, hat die Nachteile, die sich daraus für die Herkunftsregionen ergeben, vollständig zu kompensieren." (S.152)
Es "sollten die Solidaritätsressourcen der Weltgesellschaft nicht überwiegend durch transkontinentale Migration gebunden, sondern für großzügige Transferzahlungen in die Elendsregionen und vor allem zum Aufbau einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung eingesetzt werden." (S.153)
"Verlange von der Migrationspolitik nichts, was du nicht auch in deinem sozialen Nahbereich akzeptierst, und praktiziere in deinem sozialen Nahbereich, was du von der Migrationspolitik erwartest. [...] Wir sollten nur solche ethischen Prinzipien an die Migrationspolitik anlegen, die sich einbetten lassen in die von uns geteilte und im Ganzen für gerechtfertigt gehaltene Lebensform." (S.154-155)
IX. Legitimation von Grenzen
"Verletzen die individuellen [...] Rechte des Wohnungseigentümers ein Gleichbehandlungsprinzip? [...] "Nein." Und zwar deswegen, weil wir uns gemeinsam wünschen, dass wir unter Normalbedingungen die Möglichkeit haben sollten, die eigene Wohnung, einschließlich des Zutritts und des Aufenthalts, zu kontrollieren. [...] Individuelle (Eigentums-)Rechte dieser und anderer Art sind nicht absolut, wie Libertäre meinen, sie können und müssen gegen andere moralische Gründe abgewogen werden. [...] In Kriegs- und Nachkriegszeiten wurden die Vorrechte von Wohnungseigentümern eingeschränkt, etwa in Gestalt von Zwangsbelegungen für ausgebombte Familien oder Flüchtlinge nach Ende des Zweiten Weltkrieges." (S.158-159)
"Ich bin deswegen der Auffassung, dass Analogieargumente dieser Art zulässig sind, weil die menschliche Praxis als Ganze kohärent zu sein hat." (S.161) "Ohne Grenzen gibt es keine individuelle, kollektive, staatliche Selbstbestimmung und keine individuelle, kollektive oder staatliche Verantwortung, dann lösen sich die Strukturen der Verantwortungszuschreibung und der Akteure auf." (S.164)
"Eine humane Gesellschaft ist von der Balance zwischen Gleichheit und Differenz geprägt. [...] Das Recht, seine Freunde selbst zu bestimmen, ist ein wesentliches Merkmal autonomer Lebensführung, es hat Vorrang gegenüber der Realisierung von Gleichheitspostulaten." (S.167)
Am Beispiel der Kurdenkonflikts u.ä.: "Das, was durch Nivellierung und Assimilation zum Verschwinden gebracht werden soll, formiert sich als seinerseits "national" interpretierter Widerstand neu." (S.170/71) "Die Hoffnung liberaler Philosophen, dass sich das Politische und das Kulturelle sorgsam trennen lassen, trügt." (S.173)
X. Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt
"Besser ist es folglich, die jeweiligen Chancen einer (inkrementellen) Verbesserung zu nutzen und nicht auf den Tag zu warten, an dem sich Gerechtigkeit im Hinblick auf einen angestrebten idealen Endzustand optimieren lässt." (S.175) "Eine humane Praxis muss die Balance zwischen Utopie und Sozialtechnologie wahren." (S.176)
"Das Paradigma der Geopolitik [...] muss dem Paradigma der Weltsozial- und Weltinnenpolitik weichen. Dazu bedarf es [...] des schrittweisen Aufbaus von globalen Institutionen, die den Rahmen abstecken, innerhalb dessen Gerechtigkeitsfragen einer rationalen Klärung und praktischen Umsetzung zugeführt werden können." (S,177-178)
Es gibt "einen systematischen Zusammenhang zwischen Prosperitätserwartungen in den Ursprungsländern und Migrationsbereitschaft. Je größer die Prosperitätserwartung vor Ort ist, desto geringer der Migrationsdruck." (S.181)
"Wir sollten keinen Demokratieexport betreiben, keine Politik des Regimewechsels fortsetzen, wie sie der Westen in der MENA-Region seit Anfang der 1990er Jahre mit desaströsen Konsequenzen praktiziert hat, aber wir sollten in den wohlhabenden Ländern darauf hinwirken, Strukturen der Weltwirtschaft zu etablieren, für die die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse im Vordergrund steht und nicht die Interessen von Oligarchen. [...] So wie Tarifverträge zu einer gewissen Einheitlichkeit, Nichtdiskriminierung und Inklusivität im nationalen Rahmen beitragen, so sollten analoge transnationale, kontinentale und globale Vereinbarungen zwischen Kapital und Arbeit geschlossen werden können, die von einer Weltsozialgerichtsbarkeit kontrolliert werden, nach ähnlichem Muster wie durch den Internationalen Strafgerichtshof." (S.183-184)
"Flüchtlingsbewegungen, ausgelöst durch Krieg und Bürgerkrieg, sollten durch eine institutionalisierte Weltinnenpolitik immer seltener werden. [...] Damit der Weg zu mehr internationaler Gerechtigkeit erfolgreich beschritten werden kann, muss allerdings die gegenwärtige Machtasymmetrie behoben werden, die sich darin äußert, dass nur Potentaten machtloser Staaten, vor allem aus Afrika, mit einer Verurteilung rechnen müssen, während der Bruch des Völkerrechts durch mächtige Länder ungesühnt bleibt." (S.185)
Nachwort Verfestigungen und der Verflüssigungen
"Sowohl die Thatcher- als auch die Reagan-Revolution sprengen die nationalstaatliehen Grenzen durch eine ökonomische Entgrenzung der Verhältnisse. Der Markt als Organisationsprinzip lässt sich durch staatliche Institutionen nicht bändigen, die konservativ-wirtschaftsliberale Revolte depotenziert staatliche Gestaltungskraft und entfesselt zugleich die ökonomische Dynamik. Dieser Prozess der Verflüssigung hält in der langen Phase der Dominanz neoliberaler Ideologie an [...] Möglicherweise ist der unerwartete Wahlerfolg von Donald Trump mit einer Agenda der Verfestigung (Schließung der Grenzen, Kritik des Freihandels) ein Indiz dafür, dass die "neoliberale" Epoche, trotz der intellektuellen Dominanz des Verflüssigungsparadigmas in der ökonomischen Theorie und der Wirtschaftspolitik [...] zu Ende geht.
Die Migrationsdebatte pendelt zwischen diesen beiden Polen der Verfestigung und der Verflüssigung." (S.194-195)
Kritik
1. Prima facie uneinsichtig ist mir schon lange ein allgemeines kollektives Selbstbestimmungsrecht. Denn, wie Nationalitätenstreitigkeiten und Bürgerkriege beweisen, treten kollektive Selbstbestimmungsrechte geraten immer wieder einmal in Widerstreit zu denen anderer, insbesondere übergeordneter Kollektive. Nida-Rümelin hat m.E. ein Prinzip aufgenommen, das nur beschränkt zur Geltung kommen kann. 2. Er bestimmt sehr schön, was die Kollektive erreichen sollen (sehr vereinfacht gesagt: Beseitigung weltweiter Armut), nicht aber, wie das geschehen soll und was der Einzelne dafür tun sollte (vereinfacht: unmittelbar helfen (z.B. spenden) oder ethische Entscheidungen des Kollektivs herbeizuführen suchen.
--Fontane44 (Diskussion) 16:56, 9. Apr. 2017 (CEST)