Zeitzeuge Richter zur Nachkriegszeit
Fritz Richter berichtet
Als Zeitzeuge bezeichnet man eine Person, die einen historischen Vorgang selbst miterlebt hat.
Die Glaubwürdigkeit ist dabei - wie bei Zeugen allgemein - abhängig von der zeitlichen und räumlichen Nähe vom Vorgang (unmittelbare Anwesenheit am Tatort oder nur vermittelte Kenntnis), von ihrem sachlichen Verständnis des Vorgangs (z.B. bei juristischen Verhandlungen) und von ihrem Interesse an einer bestimmten Interpretation des Vorgangs. Alle Aussagen, die dem Interesse der Person widersprechen, sind besonders glaubwürdig. Zeitzeuge, Wikipedia – Die freie Enzyklopädie, 18.9.06 - Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Siehe die Nutzungsbedingungen für Einzelheiten. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar. |
Fritz Richter ist Jahrgang 1931 und erlebte Krieg und Nachkriegszeit in Vorlage:Wpd, damals einer Kleinstadt von 15 000 Einwohnern, die aber ein eigenes Konservatorium und ein Sinfonieorchester hatte.
Von seinen Verwandten der väterlichen Linie waren alle sozialdemokratisch, Mitglieder oder Wähler. Sein Vater war sozialdemokratisches Parteimitglied, auf der mütterlichen Seite waren alle Kommunisten. Sie kam aus sehr ärmlichen Verhältnissen, doch wurde einer aus der Familie Oberbürgermeister von Vorlage:Wpd, weil er KPD-Genosse war. Seine Mutter war eine überzeugte Anhängerin Hitlers, weil dieser sie als Person so beeindruckte.
1944 wurde sein Vater verhaftet, kam ins Gefängnis. Sein Sohn Fritz hatte eine gespaltene Loyalität gegenüber seinem Vater, der „Feindsender“ hörte, und dem Jungvolk, dem er selbst angehörte. Als Mitglied des Jungvolks war er dann für einen höheren Posten ausersehen, doch weil er auf Auftrag seiner Mutter das Baby ausfuhr, wurden ihm von einem Jugendführer seine Ehrenzeichen vom Hemd gerissen.
Gegen Ende des Krieges gab es viele Angriffe von amerikanischen Tieffliegern. Mehrere Mitschüler Richters wurden erschossen, er selbst erlitt einen Streifschuss auf der linken Seite. Bei einem Bombenangriff auf Vorlage:Wpd im März 1945 gab es 15 000 Tote. Die Schüler wurden beauftragt, die Leichen abzutransportieren. Er selbst hat über 100 verkohlte Leichen aufgeladen. Am 7.4. wurden vom Volkssturm 7 Panzer abgeschossen. Am 8.4. kam es zum Bombenangriff auf seine Heimatstadt Sondershausen. Am 11.4. trafen die Amerikaner ein. Sie schossen auf die Fenster. Alle Bürger versteckten sich in den Kellern. Richter wurde von seiner Mutter beauftragt, einer bettlägerigen Patientin, die sie schon längere Zeit unterstützt hatte, etwas zu essen zu bringen. Er näherte sich dem Haus auf Umwegen über die Gärten von hinten an. Als er dann vorsichtig um die Ecke zum Eingang des Hauses bog, stand er vor drei Amerikanern. Diese waren genauso überrascht wie er und rissen sofort ihre Maschinenpistolen hoch. Er ließ alles fallen und hielt die Hände hoch. Einer der Amerikaner, der erste Schwarze, den Richter in seinem Leben sah, gab ihm ein Kaugummi, mit dem er nichts anzufangen wusste, das er dann aber nach dem Vorbild des Schwarzen auch kaute. Die Amerikaner waren mit einer Unmenge von Panzern angerückt. Auf einem Feld bei der Stadt standen etwa 600 – 700.
Als die Russen – im Tausch gegen die Westberliner Sektoren – entsprechend den ausgemachten Besatzungszonen Thüringen besetzten, kamen sie zu Fuß und begleitet von Panjewagen. Die ersten drei Tage waren schrecklich. Die Russen waren betrunken, die Frauen wurden vergewaltigt. Richters Schwiegermutter war darunter. Die Frau vom Haus gegenüber wurde, weil sie sich wehrte, erschossen. Dadurch war die Stimmung in der Bevölkerung festgelegt. Der Unterschied der Russen zu den disziplinierten Amerikanern war extrem. (Vorlage:Wpd hatte nach den Säuberungen, vgl. A. Koestler: „Sonnenfinsternis“, das Heft fest in der Hand.)
Der sowjetische Stadtkommandant, Oberst Nostitz (?), Literaturprofessor aus Kiew, sprach fließend Deutsch, war hochgebildet und hat sich durchweg hochanständig verhalten. So habe er dafür gesorgt, dass die noch lebende Fürstin von Sondershausen in ihrem Schloss habe bleiben können.
Dieser Kommandant kam eines Tages in die Schule zum Direktor und fragte Richter, ob er eine Schülerkapelle gründen könne, die bei den Feiern der sowjetischen Offiziere spielen könne. Bedingung sei freilich, dass kein Erwachsener dabei sein dürfe, der irgendwie nationalsozialistisch vorbelastet sein könne. Richter, der auf dem städtischen Konservatorium Klavier lernte, sagte, das könne er tun und war so mit seiner Gruppe von 1946 bis 1950 bei fast jedem Fest der Russen dabei.
Sie spielten unter anderem Tanzmusik, z.B. Wiener Walzer. Und für ihn war es die große Gelegenheit, von dem Fest Essen für seine Familie mitzubringen. So ging er etwa mit dem Akkordeon auf dem Rücken nach Hause und hatte im Akkordeonkoffer Essen versteckt, wenn vom Fest etwas übrig geblieben war.
Ein Problem bei den Festen war, dass die russischen Offiziere selten von ihren Frauen begleitet waren und die deutschen Frauen sich kaum auf dir Russen einließen. So kamen auf die 30 – 40 Offiziere nur 7 – 8 Frauen. So kam es über die Frauen zum Streit, wenn die Offiziere betrunken waren. Zunächst kam es im Verlauf eines Festes meist zu einer Phase, wo die Offiziere ganz sentimental russische Volkslieder zu hören wünschten und aus Heimweh zu weinen anfingen. Wenn sie aber richtig betrunken waren, gab es aber nicht selten Streit. Das ging manchmal so weit, dass auch geschossen wurde. Die Schüler versteckten sich dann hinter dem Klavier o.ä., doch wurde z.B. das Schlagzeug einmal getroffen, was großen Lärm machte, aber nicht so schlimm war, weil man es noch weiter benutzen konnte. Wenn der Streit sich so weit entwickelte, wurde die Militärpolizei (GPU?) aus der Kaserne herbeigerufen. Die ging dann nicht zimperlich vor und schlug Offiziere, die sich widersetzten mit dem Gewehrkolben nieder.
In dieser Zeit konnte Richter auch die Armbanduhren auf dem russischen Schwarzmarkt zu Geld machen, die ihm die amerikanischen Soldaten zum Abschied geschenkt hatten. Jeder russische Soldat hatte 10 000 Mark erhalten. Da es auf dem deutschen Markt aber kaum etwas zu kaufen gab und viele Soldaten mit dem Geld nicht haushalten konnten, ließen sich auf dem Schwarzmarkt hohe Preise erzielen. So erhielt Richter für seine zwei funktionierenden Armbanduhren je 1000 Mark und für eine kaputte immerhin noch 500 Mark. Im Vergleich zu den 20 Pfennig Stundenlohn, die seine Mutter für ihre Näharbeit erhielt, war das eine Menge Geld. Da er außerdem für das Musik spielen bezahlt wurde und als die Kapelle bekannter wurde, auch von deutschen Gruppen engagiert wurde und dort einen Stundenlohn von 5 Mark bekam, konnte er seiner Mutter bald sagen, sie brauche keine Näharbeiten zu machen.
Da er als Leichtathlet für die Olympiamannschaft trainierte, bekam er so viele Lebensmittelmarken, dass er nicht alle brauchte und sie in der Familie weitergeben konnte. Er betrieb ja kein Bodybuilding, sondern machte ja nur Leichtathletik, dafür brauchte er nicht so viel zu essen.
Die Grenzen zwischen den Besatzungszonen wurden bewacht, aber man konnte illegal durchkommen. Richter ging bis 1947 recht häufig über die Grenze, doch ab dann wurde geschossen. 1951 und 1952 ging er aber trotzdem auch noch über die Grenze; doch die Frau seines Lateinlehrers wurde damals erschossen, als sie versuchte, in der amerikanischen Zone Lebensmittel zu kaufen.
Schon Juli 1945 hatte die SMAD die Bildung von Parteien zugelassen. SPD, KPD, CDU und LDP wurden rasch gegründet. Die SPD hatte 1945 aufgrund der KZ-Erfahrungen eine Vereinigung mit der KPD in Gesamtdeutschland angestrebt. Doch das wurde damals von Stalin abgelehnt. Nach den Wahlniederlagen der KP in Polen und Ungarn aber änderte sich seine Politik und es kam im April 1946 zur Zwangsvereinigung der Parteien zur SED. Die Gremien wurden paritätisch besetzt, doch die KPD übernahm mehr Parteiämter, die SPD mehr Regierungsämter.
Die ersten Wahlen waren noch relativ frei, doch waren die bürgerlichen Parteien schon damals behindert, weil sie nur gewählt werden konnten, wo es Ortsgruppen gab. So ergab es sich, dass es in den Städten Mehrheiten für die bürgerlichen Parteien um 90% gab, doch auf dem Land, weil es nur in 20% der Orte bürgerliche Parteien gab, die SED die Mehrheit bekam.
1947 war das schlimmste Hungerjahr. Richters aßen fast nur Kartoffeln und gesammelte Ähren und Melasse (die Abfälle aus der Zuckerfabrik), die Richter mit der Eisenbahn fahrend im Eimer aus benachbarten Orten mit Zuckerfabriken heranschaffte.
Inzwischen gab es auch wieder Schule. Die Mehrheit der Lehrer war gegen die Besatzungsmacht, aber einige waren auch Zuträger für die sowjetische Stadtkommandantur. – Die Führungsgremien der KPdSU wurden „gesäubert“, 70% wurden ermordet, durch GPU und NKWD.
Die SMAD konnte in die Parteien eingreifen. So wurden z.B. Schreiber und Hermes von der CDU zum Rücktritt gezwungen.
Verhaftungswellen:
1. ab Juni 1945 wirkliche u. vermeintliche Nazis (auch Denunziationen wegen persönlichen Streits)
2. 1945/46 Bodenreform: „Junker“ (Großgrundbesitzer)
3. 1946 Widerstand gegen Zwangsvereinigung von SPD u. KPD zur SED (ca. 3000 Sozialdemokraten). Man sprach von „abholen“.
4. 1947/48 1. Säuberung der SED
5. 1947/49 1. Säuberung der bürgerlichen Parteien
6. 1951/52 2. Säuberung der bürgerlichen Parteien
7. ab 1951 Einrichtung der LPGs (Kollektivierung der Landwirtschaft), jetzt Verhaftungen schon durch die deutsche Stasi
8. Verhaftungen nach Aufstand vom 17.6.53
Aufgaben
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- Wenn man einen Zeitzeugen hört, muss man nicht nur beachten, dass er aus seiner spezifischen persönlichen Sicht spricht, sondern auch, dass er seine Auswahl aus seinen Erinnerungen und seine Sicht auf das Vergangene im Laufe der Zeit ändern kann. Was an der vorliegenden Darstellung entspricht mehr der Sicht eines Erwachsenen als der des Jugendlichen von 13 bis 17 Jahren?