Katholische Religionslehre/Religionskritik
Vorlage:ZBK Dieser Artikel behandelt Religionskritik als Thema für den Abiturjahrgang (je nachdem Stufe 12 oder 13)
Antike: Euhemeros und Lukrez
Euhemeros (340-260 v. Chr.)
Ob Euhemeros tatsächlich der Vater der Religionskritik war oder für den "Euhemerismus" nur aufgrund der dürftigen Quellenlage verantwortlich gemacht wurde, ist schwer zu sagen.
Religiöse Menschen verehren ihre Götter, weil sie den Menschen Gutes und Böses bringen können; das ist die Motivation "von innen". Unter Euhemerismus versteht man nun eine alternative Erklärung, dass nämlich Menschen historische Vorbilder zu Göttern übersteigert haben und es auf diese Weise zur Verehrung der Götter gekommen sei: Das ist eine Erklärung religiöser Phänomene "von außen", die ihre innere Motivierung relativieren kann.
Lukrez (97-55 v. Chr.)
Der römische Dichter Titus Lucretius Carus ist durch seine Lehrgedichte berühmt geworden, vor allem: De natura - Über die Natur.[1]
Sein Ideal ist die heitere Gelassenheit des Weisen, wie sie ein unbeteilgter Zuschauer einer erbitterten Schlacht oder der unbehelligte Beobachter eines Seemannes genießt, der sich in Seenot geraten abmüht. Sein Tempel ist nicht Sitz der Götter, sondern des unparteiischen Wissens, sein Vorbild ist Epikur (341-270 v. Chr.).
Vor den Priestern warnt Lukrez, weil sie den Menschen um dieses Glück betrügen, indem sie ihm Märchen erzählen, die mit lähmender Angst sein Glück vollständig verwirren. Die Göttergeschichten, die sie dazu verwenden, erklärt Lukrez als Träume, die fälschlich für real gehalten wurden.
Es ist nicht so, dass Lukrez die Götter für nichtexistent gehalten hätte; aber es vertrug sich mit seinem Ideal heiterer Gelassenheit natürlich nicht, dass sich die Götter um den Menschen kümmern und auf seine Gebete und Gaben reagieren könnten.
Paul Henri Thiry D'Holbach (1723-1789)
Für die weitere Geschichte der Religionskritik ist vor allem die französische Aufklärung entscheidend. François Marie Arouet (1694-1778), der sich selbst Voltaire nannte, war ein sarkastischer Romanautor. Der Vorwurf des Atheismus geht mit Sicherheit zu weit, doch zusammen mit der Forderung einer Gleichheit aller Menschen vor dem Recht kritisierte er die Beteiligung der Kirche am absolutistischen Herrschaftssystem. Manfred Lütz erzählt die Anekdote, der alte Voltaire habe stets alle seine Bediensteten fortgeschickt, wenn er seine Philosophenfreunde zum Abendessen auf seinem Schloss Fernie empfing. Er fürchtete, seine Diener könnten ihn ausrauben, wenn sie sich religionskritische Gedanken machten.[2]
Denis Diderot(1713-1784) baute die Aufgabe, ein englisches Lexikon zu übersetzen, zum Projekt einer umfassenden Sammlung allen Wissens seiner Zeit aus, das war die berühmte Encyclopédie. Darin kam Gott nicht mehr vor. Doch das Interesse der genannten Aufklärer an materialistischer Philosophie war eher unsystematisch.
Das ändert sich bei Paul Dietrich von Holbach, ebenfalls Mitarbeiter der Encyclopédie. In Frankreich nannte er sich Paul Henri Thiry d'Holbach. -, und er stellt seinen Materialismus in einem eigenen Werk - System der Natur (1770) - auf eine systematische Grundlage:
Die Natur kann alles; sobald eine Sache existiert, ist es ein Beweis, dass die Natur sie hervorgebracht hat.[3]
Die Entstehung der Religion erklärt er aus der Unkenntnis der Natur, entsprechend sagt er voraus, dass sie bald verschwinden wird:
Je klüger der Mensch wird, um so mehr Kräfte und Hilfsquellen wird er sich mit seinen Einsichten erschließen; die Wissenschaften, die Künste und der Fleiß helfen ihm, und die Erfahrung gibt ihm Gewissheit oder verschafft ihm Mittel, sich dem Streben vieler Ursachen zu widersetzen, die ihn nicht mehr beunruhigen, sobald er sie erkannt hat. Kurz, seine Furcht verringert sich in demselben Maße, wie sich sein Geist aufklärt. Der unterrichtete Mensch hört auf, abergläubisch zu sein,[4]
und "Aberglauben" im Sinne d'Holbachs ist jede Überzeugung, die sich auf etwas Übernatürliches richtet. Da macht er keinen Unterschied zwischen den Mythen der Wilden, der christlichen Theologie und den Gottesbeweisen der zeitgenössischen Philosophie. Selbst Isaak Newtons Theologie wird bei allem Respekt vor seiner Leistung in der Physik abgelehnt. In ermüdender Wiederholung erklärt d'Holbach, dass die unveränderlichen Ordnungen, die man im Universum walten sieht, zu erklären sind als notwendige Folgen der Gesetze der Materie.[5]
Man muss sich klar machen, dass 1770 noch wenig von den Gesetzen der Materie bekannt war, auf die sich D'Holbach berief: Erst 1795 veröffentlichte James Hutton seine Theory on Earth, die Gründungsschrift der Geologie, erst ab 1800 bewies Simon de Laplace die Stabilität des Sonnensystems, erst ab 1824 baute Justus Liebig das erste aller chemischen Laboratorien in Gießen auf,[6] erst 1827 schuf Ohm die Terminologie der Elektrizitätslehre. Der unterrichtete Mensch war also ausschließlich eine abstrakte Utopie.
Auch aufgeschlossene Zeitgenossen lehnten daher das Buch ab. So schreibt Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) im Rückblick in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit:[7]
Keiner von uns hatte das Buch hinausgelesen; denn wir fanden uns in der Erwartung getäuscht in der wir es aufgeschlagen hatten. System der Natur ward angekündigt, und wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgöttin, zu erfahren, .. und wir hätten gerne von Sonnen und Sternen, von Planeten und Monden, von Bergen Tälern, Flüssen und Meeren und von allem, was darin lebt und webt, das Nähere und Allgemeine erfahren. Dass dabei manches wohl vorkommen müsste, was dem gemeinen Menschen als schädlich, der Geistlichkeit als gefährlich .. erscheinen möchte, daran hatten wir keinen Zweifel. .. Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zumute, in welcher die Erde mit all ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. .. Wir wären zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegenden Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir. Denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verlässt er sie sogleich, um dasjenige, was .. als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen .. richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.[8]
Wie Goethe mag es vielen gegangen sein; doch die Unlust das System der Natur hinauszulesen konnte nicht verhindern, dass ein neuer Maßstab der Radikalität gesetzt war, hinter den die selbsternannten freien Geister des 19. Jahrhunderts - scheinbar bestätigt durch die unerwarteten Fortschritte der Naturwissenschaften - nicht wieder zurückgehen wollten.
Feuerbach, Marx und Freud
Hegels Idealismus als Voraussetzung
Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) schuf ein philsophisches Gesamtwerk, das alle Gegenstände menschlichen Nachdenkens von der Natur bis zur Theologie, vom Geist des einzelnen bis zur Ordnung des Staates und den Abläufen der Weltgeschichte in einem System vereinigte. Zwei Merkmale seines Systems reizten diejenigen seiner Schüler und Gegner, die zu den schärfsten Kritikern der Religion wurden, besonders:
- Die Rechtfertigung des preußischen Staates
- Die Rechtfertigung des Christentums als vollendete Religion.
Ludwig Feuerbach (1894-1872)
Für den Links- oder Junghegelianismus ist der Gedanke der Umkehrung charakteristisch, Feuerbach wollte die Religion nicht in ein philosophisches System integrieren, sondern ihr Wesen analysieren und ihre Eigenarten erklären, allerdings nicht aus dem Geiste der Theologie, sondern aus dem Geiste der Wissenschaft.
Er deutet das Wesen der Religion als Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst. Dies ist Projektionstheorie genannt worden. Hat der Mensch einmal erkannt, dass alle auf Gott gerichtete Zuwendung eigentlich dem Menschen zusteht, ist das für Feuerbach auch mit großen Hoffnungen verbunden für eine positive Weiterentwicklung der Menschheitsgeschichte:
Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muß auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est - dies ist der oberste praktische Grundsatz - dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.[9]
Darum schloss er sich später auch Karl Marx an und war begeistert für die Arbeiterbewegung.
Karl Marx (1818-1883)
Ziele
Die Gesellschaftsanalyse Karl Marx' ist der historische Materialismus, in dem nicht - wie bei Hegel - eine Philosophie des Geistes Priorität hat, sondern die Produktionsverhältnisse, von denen die Kultur als Überbau und Rechtfertigung des Bestehenden abhängig ist.
Karl Marx formuliert in diesem Rahmen eine Diagnose der bisherigen geschichtlichen Entwicklung zum Kapitalismus und eine Prognose für die Zukunft, die sozialistische Revolution und die Entwicklung der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus. Ein Vergleich der beiden Gesellschaftsformen kann die Zielsetzungen Karl Marx' daher am anschaulichsten beschreiben:
- Im Kapitalismus - der auf Privateigentum beruhenden Produktionsweise - verkauft der Mensch seine Arbeitskraft und leistet entfremdete Arbeit.
- Im Sozialismus unter Führung der Arbeiterklasse und im Kommunismus werden die Menschen (gerne) arbeiten, weil die Arbeit für sie sinnvoll ist. (sozialistisches Bewusstsein)
- Es ist eine Revolution erforderlich, um den Kapitalismus in den Sozialismus umschlagen zu lassen.
Religionskritik
In das Gesellschaftsmodell des historischen Materialismus und die Zielvorstellung der klassenlosen Gesellschaft gehört auch Karl Marx' Religionskritik, die in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie so wortgewaltig hervorbricht:
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur (Ehrenpunkt), ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.[10]
Die Logik des Gedankenganges
- Damit das Volk sein wirkliches Glück im Sozialismus finden kann, muss es einen Zustand entfremdeter Arbeit aufgeben, den man nur mithilfe von Illusionen ertragen kann.
- Geht die Entwicklung in den Sozialismus über, wird also die Religion, die im Kapitalismus zur Stabilisierung des Systems durch illusionäre Glücksverheißungen gebraucht wurde, überflüssig werden und von alleine verschwinden.
- Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Geltungsansprüchen der Theologie ist nicht mehr erforderlich, denn die Arbeit hat Ludwig Feuerbach schon abgenommen, indem er zeigte:
Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.
Folgen
Im Film Das Leben der anderen von Florian Henckel von Donnersmark, Ulrich Mühes spätem Meisterwerk, wird die Problematik einer politischen Ideologie durchleuchtet, die den Menschen in der Dimension seines "Bewusstseins" oder seines "Glaubens" beansprucht. Das könnte unter zwei Voraussetzungen funktionieren:
- Diagnose und Prognose stimmen im Wesentlichen mit den historischen Erfahrungen überein.
- Zumindest die revolutionäre Avantgarde lässt sich wirklich vom Ziel der klassenlosen Gesellschaft leiten und nicht von überholten selbstsüchtigen Leidenschaften.
Beiden Voraussetzungen entsprach die Entwicklung hin zur Deutschen Demokratischen Republik nicht:
- 1917 findet die Oktoberrevolution in Russland statt, entgegen der Voraussage nicht in einem kapitalistischen Staat, in welchem die Maschinenentwicklung so weit vorangeschritten ist, dass der Mensch von entwürdigender Arbeit entlastet werden kann, sondern in einem wenig entwickelten Agrarstaat, der durch einen verlorenen Krieg gedemütigt ist.
- 1946 wird in der DDR der Sozialismus eingeführt, und zwar vom Eroberer aufgrund des verlorenen II. Weltkriegs und nicht aus einem revolutionären Prozess heraus.
- Der Staat fordert von den Menschen sozialistisches Bewusstsein und Glauben an die Revolution. Das allerdings wird angesichts der Menschenrechte heute kaum mehr akzeptiert.
- So sieht sich der DDR-Bürger in einer dreifachen Konfrontation:
Der Film zeigt nun, wie gerade diejenigen sich das Misstrauen der Herrschenden zuziehen, die es mit dem Sozialismus Ernst meinen und nicht wie der - von Thomas Thieme gespielte - Minister Bruno Hempf ihre Macht ganz selbstverständlich zur Absicherung ihrer Privilegien verwenden.
Sigmund Freud (1856-1939)
Sigmund Freud war ein Arzt, Anhänger einer Medizin, die ausschließlich auf den Naturwissenschaften Physik und Chemie gegründet ist. Obwohl sich auf sein Werk kein politisches System berufen hat, ist seine Religionskritik vielleicht auf die Dauer noch wirksamer als die Marxsche, weil ihr gelang, woran der Sozialismus scheiterte: Die Sprache und damit das Bewusstsein der Massen zu verändern.
Um Freuds Beitrag zur Religionskritik zu würdigen, ist es erforderlich Grundbegriffe der Psychoanalyse zu kennen, dann ergeben sich die religions-, ja kulturkritischen Schlussfolgerungen fast von selbst.
Psychoanalyse
Die folgende Schematische Darstellung fasst die Kernbegriffe der Psychoanalyse zusammen:
Unsere Psyche enthält viele Gedanken: Von einigen davon wissen wir; sie sind uns bewusst, an andere können wir uns vorübergehend oder dauerhaft nicht erinnern. Nach Sigmund Freud sind die unbewussten Gedanken ebenso systematisch miteinander verknüpft wie die bewussten, nur dass wir die verborgene Logik des System Ubw normalerweise nicht beachten und vielleicht sogar trotz Hinweisen nicht erkennen könnten.
Dass dieses System Ubw gleichwohl existiert, wird auffällig bei psychischen Störungen, unangemessener Furcht zum Beispiel. Als junger Arzt versuchte Freund nun der Ursache solcher Störungen auf den Grund zu gehen. Er studierte bei Charcot in Paris, der unter anderem mit der Hypnose experimentierte, um die Ursachen der Hysterie zu erforschen.
In den 1890er Jahren entwickelte Freud dann seine eigene Methode, die Psychoanalyse. In seinem Hauptwerke, der Traumdeutung,[11] beschreibt er seine Forschungsergebnisse. 1904 beschrieb Freud auch alltägliche Versehen, etwa Versprecher oder Vergessen, als verschlüsselte Botschaften des Unbewussten.[12].
Durch seine Arbeit mit den verräterischen Boten des Unbewussten - psychische Erkrankungen, hypnotische Erfahrungen, Träume und alltägliche Nachlässigkeiten - glaubt sich Sigmund Freud in der Lage, Ordnung in die sporadischen Äußerungen dieses menschlichen Seelenteils zu bringen: Er geht davon aus, dass der Mensch Triebe hat wie die Tiere auch. Doch während Tiere und kleine Kinder sehr unbefangen mit ihren Trieben umgehen, schreien, wenn sie Hunger haben, in ihren Ausscheidungen wühlen, wenn ihnen danach ist, und aufeinander einprügeln, wenn sie zornig sind, verlangt man von Erwachsenen sich zu benehmen, und das bedeutet in vielen Fällen, den unmittelbaren Ausdruck der natürlichen Bedürfnisse zu unterdrücken. Die Triebenergien (das Es, wie Freud sagt) sind aber nicht verschwunden, sondern sie werden verwandelt, sublimiert: Man markiert sein Revier nicht mehr, indem man sich hinsetzt und eindeutige Geruchsmarken hinterlässt, sondern man besitzt es, und der verbriefte Besitz muss dann auch nicht mehr unbedingt eine Fläche sein, sondern kann durchaus abstraktere Formen annehmen. Der Faustkampf kann als intellektuelles Ringen ausgetragen werden, und die sexuelle Begierde stimmt als treue eheliche Liebe mit den bürgerlichen Idealen überein. So entsteht Kultur, die als Über-Ich auch die unbewussten Bestrebungen des Menschen beeinflusst. Über-Ich und Es stehen können im Konflikt miteinander stehen, und solche Konflikte können zur Ursache schlechter Träume oder gar schlimmer psychischer Störungen werden.
Der Traum, die psychische Fehlleistung und selbst die psychische Erkrankung haben einen verborgenen Sinn: Sie erfüllen Wünsche. Das können unterdrückte Triebwünsche sein oder unerfüllte Forderungen des Über-Ich. Freud sagt auf dem Höhepunkt seiner Traumdeutung:
Wenn man die hier angezeigte Methode der Traumdeutung befolgt, findet man, dass der Traum wirklich einen Sinn hat und keineswegs Ausdruck einer zerbröckelten Hirntätigkeit ist. Nach vollendeter Deutungsarbeit lässt sich der Traum als eine Wunscherfüllung erkennen.[13]
Psychologisch motivierte Religionskritik
Der Traum ist eine Wunscherfüllung. Wünsche, die inopportun sind oder unrealisierbar, erscheinen im Traum als erfüllbar. Dasselbe sagtz Freud von der Religion; sie artikuliert Wünsche, die im materiellen Dasein unerfüllbar sind. Diese Wünsche befinden sich im Inneren der Seele, werden aber als Götter und Geister nach außen projiziert. Es sind vor allem drei Kränkungen des Menschen, die durch Religion auf illusionäre Weise kompensiert werden:
- Sie bannt die Schrecken der Natur;
- sie versöhnt mit Schicksal und Tod;
- sie entschädigt für Leiden und Entbehrung.
Religiöse Praktiken sind vergleichbar neurotischen Symptomen; Riten gleichen Zwangshandlungen.
Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, ist krank, denn so etwas gibt es ja in objektiver Weise nicht.[14]
In Totem und Tabu macht sich Freud einmal selbst einen Einwand:
Weder die Angst noch die Dämonen können in der Psychologie als letzte Dinge gewertet werden, die jeder weiteren Zurückführung trotzen. Es wäre anders, wenn die Dämonen wirklich existierten. Aber wir wissen ja, sie sind wie die Götter Schöpfungen der Seelenkräfte des Menschen; sie sind von etwas und aus etwas geschaffen worden.
Wirkungsgeschichte
Religionskritik aus Sicht der Theologie
Anmerkungen
- ↑ Lukrez Werke sind auch in deutscher Sprache und im lateinischen Original im Internet veröffentlicht.
- ↑ Manfred Lütz: Gott, eine kleine Geschi8chte des Größten, München 2007, 163-164.
- ↑ D'Holbach. System der Natur dt. Frankfurt 1978, 416
- ↑ ebd. S. 317
- ↑ ebd. S. 412
- ↑ http://www.liebig-museum.de/dokumente/historische_staetten.pdf
- ↑ Goethes Werke sind im Internet verfügbar. Dichtung und Wahrheit ist enthalten in der Kategorie Prosa
- ↑ Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, Insel Ausgabe Frankfurt 1975, Band II, 546-547
- ↑ Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Schlussanwendung
- ↑ Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung
- ↑ Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 1899 in erster Auflage erschienen, wurde von Freud bei jeder Neuauflage einer gründlichen Revision unterzogen. Das Buch ist 1961 bei Fischer in Frankfurt als Taschenbuch erschienen und erlebte zahlreiche Neuauflagen.
- ↑ Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Berlin 1904, im Internet veröffentlicht
- ↑ Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Tb Ausgabe Frankfurt 1990, 109
- ↑ Sigmund Freud, Briefe 1873 - 1939, Frankfurt a.M. 1960, S. 429