Jean-Jacques Rousseau/Über Erziehung
Emile hat wenige Kenntnisse, aber diejenigen, die er hat, sind wirklich sein eigen. Er weiß nichts halb. Von den Dingen, die er weiß, die er gründlich weiß, ist das wichtigste, dass es vieles gibt, was er nicht weiß, aber eines Tages wissen kann; vieles, das andere wissen und das er niemals wissen wird, und unendlich vieles, was keiner jemals wissen wird. [...]
Macht euren Schüler auf die Naturerscheinungen aufmerksam, dann wird er neugierig. Aber um seine Neugier zu nähren, beeilt euch niemals, sie zu befriedigen. Stellt ihm Fragen, die seiner Fassungskraft entsprechen, lasst sie ihn selber lösen. Er darf nichts wissen, weil ihr es ihm gesagt habt, sondern weil er es selbst verstanden hat. Er soll die Naturwissenschaften nicht lernen, sondern erfinden. Denkt auch an erster Stelle daran, dass ihr ihm nur selten vorschreiben solltet, was er lernen soll. Er selbst muss es wünschen, suchen, finden. An euch liegt es, es seinem Verständnis nahe zu bringen, geschickt den Wunsch in ihm zu wecken und ihm die Mittel zu geben, ihn zu befriedigen. [...]
Erklärungen in Form von Vorträgen liebe ich nicht. Junge Leute geben wenig darauf Acht und behalten sie kaum. Er soll selbst urteilen! Wird er dauernd durch das Urteil des Autors gelenkt, tut er nichts, als mit den Augen eines anderen sehen. Und wenn ihm dieses Auge einmal fehlt, dann sieht er gar nichts mehr.
J.J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung, 1762