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Benutzer:Fontane44/Am Kipp-Punkt

Aus ZUM-Unterrichten

Das Sachbuch: Am Kipppunkt. Wo das Klima zu kollabieren droht - und wie wir uns noch retten können von B. v. Brackel u. T. Staud[1] ist 2025 erschienen.[2]

Klappentext

Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, Waldbrände - die Auswirkungen des immer extremeren Wetters sind auch hierzulande zunehmend spürbar. Aber all das ist erst der Anfang: Weil das 1,5-Grad-Limit nicht mehr zu halten ist und die Erderhitzung fortschreitet, drohen in naher Zukunft im Klimasystem mehrere sogenannte Kipppunkte überschritten zu werden. Die Folgen wären einschneidend, auch für Deutschland. Benjamin von Brackel und Toralf Staud liefern, was man über Kipppunkte wirklich wissen muss. Sie schildern die jahrzehntelange Erforschung der Kipppunkte, ihre möglichen Folgen und die Kontroversen der Fachwelt - eine der größten Detektivgeschichten unserer Zeit, deren Ausgang über nichts weniger entscheidet als über das Schicksal unserer Zivilisation. Die Autoren nehmen uns mit auf eine Weltreise zu den wichtigsten Kippelementen im Erdsystem: von den eisigen Landschaften der Pole über die Warmwasserheizung Europas bis zum Amazonas-Regenwald. Sie erklären, wie unsere Erde - und auch die Klimawissenschaft - funktioniert. Am Ende weiß man, welche Kipppunkte einem tatsächlich Sorge bereiten sollten und welche weniger. Nicht zuletzt zeigt das Buch positive Kipppunkte in Technologie und Gesellschaft auf. Diese könnten exponentielles Wachstum beim Klimaschutz ermöglichen und uns noch davor bewahren, in ein chaotisches Klima abzustürzen. Ein dramatisches Wettrennen gegen die Zeit.

Aus dem Text

Prolog

Neue Welt

"Stellen Sie sich eine große, komplexe Maschine vor, in der unzählige Zahnräder und andere mechanische Teile fein austariert ineinandergreifen. Über Hebel wird die Maschine gesteuert. Nun ziehen Sie an einem davon, ganz langsam, gleichmäßig. Eines der Zahnräder wandert auf seiner Welle, ebenfalls langsam, gleichmäßig. Sonst passiert nichts. Irgendwann aber ist es so weit verschoben, dass ein anderes Zahnrad in Reichweite gerät. Sie greifen ineinander, das Getriebe knirscht, ruckelt – und ändert plötzlich die Drehrichtung. Genauso abrupt könnte sich auch unser Erdsystem umstellen. Es beginnt mit dem Eis: Von den Ozeanen rund um die Pole wird die weiße Decke gezogen; die Böden in den nördlichsten Breiten tauen auf, und in den Gebirgen kriechen die Gletscher in die Höhe zurück, wie ein scheues Tier. Überall knackt und knistert es, es tropft und rauscht. Die Erde taut. Dann kommt der Knall.

Der Reihe nach zerplatzen die Schelfeise der Antarktischen Halbinsel, dann jene der Westantarktis. Aufs Meer hinausragende Eisplatten von der Größe ganzer Länder, die jahrtausendelang am Festlandeis gehaftet haben, brechen ab, zersplittern, und eine Armada an Eisbergen treibt in den Südozean hinaus. Warmes Wasser dringt nun unter den entblößten Eisschild und höhlt ihn unaufhörlich aus. Derweil, am anderen Ende der Welt, schrumpft der Grönländische EispanzerWikipedia-logo.png, und seine höchsten Lagen geraten in immer tiefere und wärmere Luftschichten, woraufhin er noch schneller schmilzt und ab einem gewissen Punkt unumkehrbar zerfließt. Bis der ganze Eisschild verschwunden ist, wird es Jahrhunderte oder Jahrtausende dauern, aber schon viel früher verändert sein [...]

Im Nordatlantik richtet sich daraufhin eine mächtige Meeresströmung neu aus, die über Jahrtausende Wärme nach Europa befördert hat. Wie ein am Boden liegender Gartenschlauch, der bei zu starkem Wasserdruck sich schlängelnd verschiebt und anderswo zum Liegen kommt.

Und das hat einen paradoxen Effekt: Während der Großteil der Welt unter Hitze leidet, erleben Teile Europas einen Kälterückfall. Die Luft kühlt ab, um mehrere Grad. Im Winter ziehen Stürme auf, wie sie die Menschen seit Beginn der Zivilisationen nicht erlebt haben. Das arktische Meereis breitet sich wieder aus und berührt im Winter die Nordküste Schottlands und Norwegens; bisweilen gar die deutsche Nordseeküste. Es schneit wieder mehr. Gleichzeitig erlebt die Südhalbkugel einen zusätzlichen Hitzeschub, schließlich hat die Erderwärmung ja nicht aufgehört – nur verteilt sich die Energie auf dem Planeten um und staut sich nun in der südlichen Hemisphäre. [...]

Zu welchen Sprüngen ist das Erdklima fähig?

Vor 11.650 Jahren endete die Jüngere Dryaszeit so plötzlich, wie sie gekommen war. In der Tongrube in Allerød konnten Hartz und Milthers diesen Schlusspunkt im Profil der Sedimentschichten an der Trennlinie zwischen der jüngeren Tonschicht und der vermoderten Torfschicht an der Oberfläche erkennen, die mit Überresten von Buchen- und Eichenstämmen durchsetzt war – ein Hinweis auf das Einsetzen der noch heute andauernden Warmzeit des HolozänsWikipedia-logo.png, der Blütezeit der Menschheit.

Es wurde damals wieder feuchter und wärmer, Birken und Kiefern breiteten sich in Nordeuropa aus, und die Rentierherden zogen sich endgültig in den Norden zurück. Die Menschen mussten sich abermals an die kleinräumigere Lebensweise in Wäldern gewöhnen – oder weit nach Norden ausweichen, wo es nach wie vor eine offene Tundra gab.

Auch in der Region des Fruchtbaren HalbmondsWikipedia-logo.png kehrten die Wälder zurück, die Wüste schrumpfte. Mehr Siedlungen entstanden, sie wuchsen zu Städten, und die Menschen blieben dort, manchmal für Tausende von Jahren oder sogar bis heute, wie in Jericho.

Wie schnell die Menschheit tatsächlich in die heutige Warmzeit befördert wurde, wie schnell also die Jüngere DryasWikipedia-logo.png nicht nur begonnen, sondern auch geendet hatte, sollte sich erst viele Jahrzehnte später klären: Anfang der 1990er-Jahre. An einem der kältesten Orte der Welt. [...]"

Die Entdeckung der Kipppunkte

Negative Kipppunkte im Klimasystem

Eis
Wasser
Luft
Natur

Positive Kipppunkte beim Klimaschutz

Erneuerbare Energien: Das Solarwunder
Elektromobilität: Die E-Auto-Revolution
Ernährung: Die zähe Fleischwende

Ausblick am Kipppunkt (S.353ff.)

So verletzlich die Erde und das Klimasystem auch sein mögen – Gesellschaften sind noch viel anfälliger. Eine zunehmend instabile Erde könne 'negative soziale Kippprozesse' in Gang bringen, warnte 2024 ein Autorenteam um die Nachhaltigkeitsforscherin Victoria Spaiser von der University of Leeds in einer Studie. Sie zeigte auf, wie Klimaschocks auf Gesellschaften wirken können: Naturkatastrophen und Wetterextreme können zu Zwar zu Solidaritätswellen führen, aber wenn sie immer häufiger und schwerer werden, ist eine ebenso mögliche Folge die so genannte Anomie. Damit ist ein Zustand gemeint, indem ein soziales System seine ordnenden Normen verliert, Verrohung und Gewalt um sich greifen. Die Studie macht das an Beispielen konkret: Dürren führen zu Ernteeinbrüchen und einem Mangel an Lebensmitteln. Wiederholte Flut – und Sturmkatastrophen richten so hohe Schäden an, dass Finanzkrisen Folgen. Konflikte, politische Radikalisierung und soziale. Das Ergebnis wäre, dass Gesellschaften noch weniger zu Klimaschutz fähig wären, was wiederum den Klimawandel weiter anheizte. Schon um eine negative gesellschaftliche Absatzspirale zu verhindern, muss also Klimaschutz verstärkt, das Überschreiten von Kipppunkten unbedingt verhindert werden. Um das schaffen zu können, ist auch entscheidend, wie man über das Thema spricht. Unausweichliche Gefahren an die Wand zu malen, kann – das hat die Sozialpsychologie vielfach belegt – Abwehr und Resignation provozieren. Es verleitet dazu, scheinbar einfache Lösungen zu wählen, sich in Zynismus zurückzuziehen. Oder in Hedonismus: Genießen wir die Party, solange es noch geht. (S.360)

Einzelnachweise