Jean-Jacques Rousseau/Über Erziehung
Einzelne Erziehungsgrundsätze
Emile hat wenige Kenntnisse, aber diejenigen, die er hat, sind wirklich sein eigen. Er weiß nichts halb. Von den Dingen, die er weiß, die er gründlich weiß, ist das wichtigste, dass es vieles gibt, was er nicht weiß, aber eines Tages wissen kann; vieles, das andere wissen und das er niemals wissen wird, und unendlich vieles, was keiner jemals wissen wird. [...]
Macht euren Schüler auf die Naturerscheinungen aufmerksam, dann wird er neugierig. Aber um seine Neugier zu nähren, beeilt euch niemals, sie zu befriedigen. Stellt ihm Fragen, die seiner Fassungskraft entsprechen, lasst sie ihn selber lösen. Er darf nichts wissen, weil ihr es ihm gesagt habt, sondern weil er es selbst verstanden hat. Er soll die Naturwissenschaften nicht lernen, sondern erfinden. [...]
Denkt auch an erster Stelle daran, dass ihr ihm nur selten vorschreiben solltet, was er lernen soll. Er selbst muss es wünschen, suchen, finden. An euch liegt es, es seinem Verständnis nahe zu bringen, geschickt den Wunsch in ihm zu wecken und ihm die Mittel zu geben, ihn zu befriedigen. [...]
Erklärungen in Form von Vorträgen liebe ich nicht. Junge Leute geben wenig darauf Acht und behalten sie kaum. Er soll selbst urteilen! Wird er dauernd durch das Urteil des Autors gelenkt, tut er nichts, als mit den Augen eines anderen sehen. Und wenn ihm dieses Auge einmal fehlt, dann sieht er gar nichts mehr.
J.J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung, 1762
Eine Argumentation Rousseaus im Zusammenhang
Wandeln wir unsere Empfindungen in Vorstellungen, aber versetzen wir uns nicht plötzlich mit einem Sprung von den sinnlichen Gegenständen zu den geistigen, denn nur durch jene können wir zu diesen gelangen. Bei seinen ersten Operationen möge der Geist sich stets von den Sinnen führen lassen. Kein anderes Buch als die Welt, keine andere Belehrung als die Tatsachen. Das Kind, das liest, denkt nicht, es liest nur; es unterrichtet sich nicht, es lernt Worte.
Lenkt die Aufmerksamkeit eures Zöglings auf die Naturphänomene, und bald macht ihr ihn, wißbegierig. Um aber seine Wißbegier zu schüren, beeilt euch nicht, sie zu befriedigen. Stellt ihm Fragen, die seiner Fähigkeit entsprechen, und laßt ihn sie selbst lösen. Er soll nichts wissen, weil ihr es ihm gesagt habt, sondern weil er selbst es verstanden hat. Er soll die Naturwissenschaft nicht erlernen, er soll sie finden. Setzt ihr jemals in seinem Kopf die Autorität an die Stelle des Verstandes, wird er nicht mehr denken und nichts anderes mehr sein als das Spielzeug fremder Meinungen.
Ihr wollt diesem Kind Geographie beibringen und schafft ihm Erd und Himmelsgloben an, Landkarten wieviel unnützes Zeug ! Wozu alle diese Abbildungen warum zeigt ihr ihm nicht von vornherein den Gegenstand selbst, damit es wenigstens weiß, wovon ihr redet? An einem schönen Abend macht man einen Spaziergang an einen für die Gelegenheit günstigen Ort, wo man am wolkenlosen Horizont in aller Klarheit den Sonnenuntergang betrachten und die Gegenstände, die durch die Helle des Untergangs deutlich werden, beobachten kann. Am nächsten Morgen geht man, um die Morgenluft zu genießen, vor Sonnenaufgang an den gleichen Ort. Von weitem schon kündigt sich die Sonne mit ihren Feuerstrahlen an, die sie vor sich herschießt. Der Brand wird glühender, der ganze Osten scheint in Flammen zu stehen, in ihrer Glut wartet man auf das Gestirn, lange bevor es sich zeigt, jeden Augenblick glaubt man es erscheinen zu sehen endlich sieht man es. Wie ein Blitz schießt ein glänzender Punkt herauf und füllt alsbald den ganzen Raum. Der Schleier der Dunkelheit schwindet und fällt. Der Mensch erkennt seine Stätte und findet sie verschönt. Während der Nacht hat das Grün neue, frische Kräfte gewonnen, und der junge Tag, der es beleuchtet, die ersten Sonnenstrahlen, die es vergolden, zeigen es unter einem glitzernden Netz von Tau, dessen Lichter und Farben das Auge widerspiegelt. Die Vögel tun sich im Chor zusammen und grüßen gemeinsam die Mutter des Lebens. Nicht eine Stimme schweigt in diesem Augenblick, ihr Gezwitscher, noch ein wenig zart, kommt zögernder und süßer als am späteren Tag, man spürt noch die Mattigkeit eines friedlichen Erwachens. All dies zusammengenommen erfüllt die Sinne mit dem Eindruck von Frische, der bis in die Seele zu dringen scheint. Das ist eine halbe Stunde der Verzauberung, der niemand widerstehen kann; ein so großartiges, so schönes, so köstliches Schauspiel läßt niemanden kalt.
Erfüllt von seiner eigenen Begeisterung will der Lehrer sie dem Kinde mitteilen: er glaubt es rühren zu können, wenn er es aufmerksam macht auf die Empfindungen, die ihn selbst bewegen. Die reine Dummheit! Nur im Herzen des Erwachsenen hat das Schauspiel der Natur Leben; um es sehen zu können, muß man es fühlen. Das Kind bemerkt die Dinge, kann aber nicht die Zusammenhänge, die sie verbinden, bemerken; es kann die süße Harmonie ihres Konzertes nicht hören. Es bedarf einer Erfahrung, die es noch nicht gemacht hat, es bedarf eines Gefühls, das es noch nie empfand, um den Gesamteindruck zu spüren, der aus der Gleichzeitigkeit aller dieser Sinnesempfindungen sich ergibt. Hat es noch nie endlose verdorrte Ebenen durchquert, hat noch nie glühender Sand seine Füße verbrannt, hat die erstickende Rückstrahlung von sonnengebrannten Felsen ihm noch nie den Atem genommen wie kann es da die frische Luft eines schönen Morgens genießen? wie kann der Duft der Blumen, der Zauber des Grüns, der feuchte Dunst des Taus, die Weichheit und Sanftheit des Ganges über eine Wiese, die der Fuß betritt, seine Sinne bezaubern? Wie kann der Gesang der Vögel ihm wollüstige Schauer bereiten, wenn es die Sprache der Liebe und der Lust noch nicht kennt? Wie soll es hingerissen sein beim Anbruch eines so schönen Tages, wenn seine Vorstellungskraft ihm nicht zeigen kann, auf welch hinreißende Art es ihn verbringen wird? Und schließlich, wie soll es Rührung empfinden über die Schönheit des Anblicks der Natur, wenn es nicht weiß, welche Hand es war, die sie schmückte?
Haltet dem Kind keine Vorträge, die es nicht verstehen kann. Keine Umschreibungen, keine Eloquenz, keine bildhafte Ausdrucksweise, keine Poesie. jetzt geht es weder um Gefühl noch um Schönheitssinn. Bleibt weiterhin klar, einfach und kühl; die Zeit kommt nur zu bald, wo ihr eine andere Sprache nötig habt.
Im Geist unsrer Grundsätze erzogen, gewohnt, sich immer selbst zu helfen und nur dann den Beistand andrer zu erbitten, wenn es seine Unzulänglichkeit erkennt, untersucht es lange jedes neue Ding, das es sieht, ohne etwas zu sagen. Es ist nachdenklich und fragt nicht viel. Zeigt ihm nur die Dinge im rechten Augenblick, und dann, wenn ihr bemerkt, daß seine Wißbegier geweckt ist, stellt ihm irgendeine lakonische Frage, die es auf den Weg zu ihrer Lösung bringt.
Bei dieser Gelegenheit, nachdem ihr mit ihm den Sonnenaufgang genau betrachtet habt, nachdem ihr ihm auf derselben Seite die Berge und andere naheliegende Dinge beobachten und es in aller Ruhe darüber plaudern ließt, bewahrt ein paar Augenblicke Stillschweigen, wie ein Mensch, der nachdenkt, und dann sagt ihr zu ihm: Ich überlege gerade, daß gestern abend die Sonne dort untergegangen ist und daß sie heute morgen hier aufging. Wie kann denn das sein? Dann sagt ihr nichts mehr. Wenn es euch Fragen stellt, antwortet nicht, sprecht von etwas anderem. Überlaßt es sich selbst, und ihr könnt sicher sein, daß es darüber nachdenken wird.
Damit ein Kind sich gewöhnt, aufmerksam zu sein, damit es von einer sinnfälligen Wahrheit wirklich betroffen ist, muß diese es einige Tage beunruhigen, ehe man sie ihm enthüllt. Begreift es sie auf diese eine Weise noch nicht ganz, so gibt es Mittel, sie ihm noch sinnfälliger zu machen, und dieses Mittel besteht darin, die Frage umzukehren. Wenn es nicht weiß, wie die Sonne vom Untergang zum Aufgang kommt, so weiß es wenigstens, wie sie vom Aufgang zum Untergang kommt: das lehren ihn schon seine Augen. Klärt also die erste Frage durch die zweite: entweder ist euer Zögling absolut stumpfsinnig, oder die Analogie ist zu klar, um ihm entgehen zu können. Das wäre also seine erste Lektion in Kosmographie.
Da wir immer langsam von einer sinnlichen Vorstellung zur andern schreiten, da wir uns lange bei ein und derselben aufhalten, ehe wir zur nächsten übergehn, und da wir schließlich unseren Zögling niemals zur Aufmerksamkeit zwingen, vergeht eine lange Zeit von dieser ersten Lektion bis zur Kenntnis der Sonnenbahn und der Gestalt der Erde. Da aber jede offenbare Bewegung der Himmelskörper dem gleichen Prinzip folgt und da die erste Beobachtung zu allen übrigen führt, kostet es weniger Mühe, wenn auch mehr Zeit, um von einem Tageskreis zur Berechnung der Sonnenfinsternisse zu gelangen, als um die Phänomene Tag und Nacht richtig zu begreifen.
Da die Sonne um die Erde kreist, beschreibt sie einen Kreis, und jeder Kreis muß einen Mittelpunkt haben das wissen wir schon. Diesen Mittelpunkt kann man nicht sehen, denn er ist mitten in der Erde; aber man kann auf der Erdoberfläche zwei einander entgegengesetzte Punkte bestimmen, die ihm entsprechen. Ein langer Draht, der durch die drei Punkte gezogen und auf beiden Seiten bis zum Himmel verlängert wird, wäre die Achse der Welt und der täglichen Sonnenbahn. Ein auf seiner Spitze sich drehender Kreisel stellt den sich auf seiner Achse drehenden Himmel dar; die beiden Spitzen des Kreisels sind die beiden Pole: das Kind wird glücklich sein, einen davon kennenzulernen ich zeige ihn ihm im Schwanz des Kleinen Bären. Das amüsiert es bei Nacht, und langsam wird es vertrauter mit den Sternbildern, und daraus folgt das erste Verlangen, die Planeten zu kennen und die Konstellationen zu beobachten.
An Sankt Johannis haben wir den Sonnenaufgang gesehn; wir werden ihn auch Weihnachten oder an irgendeinem anderen schönen Wintertag sehn, denn man weiß, daß wir nicht faul sind und daß wir uns einen Spaß daraus machen, der Kälte zu trotzen. Mit Absicht wähle ich für die zweite Beobachtung den gleichen Ort, an dem wir die erste machten, und indem ich mit einiger Geschicklichkeit eine gewisse Bemerkung vorbereite, wird es auch nicht au leiben, daß einer von uns sie macht und ausruft: Oh! oh! Das ist aber spaßig! die Sonne geht nicht mehr an der gleichen Stelle auf! wir haben doch unsre früheren Beobachtungen, und jetzt geht sie dort auf usw. ... Es gibt also einen Sommersonnenaufgang und einen Wintersonnenaufgang etc.... jetzt bist du auf dem richtigen Wege, junger Lehrer. Diese Beispiele sollten dir genügen, um eindeutig die Himmelssphäre zu erklären, indem du die Erde als Erde und die Sonne als Sonne gelten läßt.
Allgemein gelte, daß man nur dann das Zeichen an die Stelle der Sache setzen darf, wenn es unmöglich ist, sie zu zeigen; denn das Zeichen absorbiert die Aufmerksamkeit des Kindes und läßt es die dargestellte Sache selbst vergessen.
Die Armillarsphäre scheint mir schlecht konzipiert und in unrichtigen Proportionen ausgeführt. Die darauf markierte Wirrnis von Ringen und bizarren Figuren vermittelt einen magischen Eindruck, vor dem der kindliche Geist zurückschreckt. Die Erde wird zu klein, die Ringe werden zu groß dargestellt; einige, wie die Koluren, sind vollkommen überflüssig! Jeder Ring ist größer als die Erde; die Dicke des Kartons vermittelt den Eindruck einer Festigkeit, nach der man sie für wirklich existierende runde, starke Gebilde halten könnte. Und sagt ihr dem Kind, daß es sich dabei nur um imaginäre Ringe handelt, weiß es nicht mehr, was es sieht und versteht überhaupt nichts mehr.
Wir können uns nie in ein Kind hineinversetzen. Seine Vorstellungen bleiben uns verschlossen, dafür legen wir die unsrigen in es hinein, und indem wir immerfort unseren eigenen Gedankengängen folgen, bringen wir mit einer Kette von Wahrheiten doch nur einen Haufen von Verzerrungen und Irrtümern in seinem Kopfe hervor.
Man streitet darüber, ob man Analyse oder Synthese zum Studium der Naturwissenschaften wählen soll - es ist nicht nötig, stets das eine oder das andere zu wählen. Manchmal kann man bei den gleichen Forschungen zergliedern und verknüpfen und das Kind durch die lehrende Unterrichtsweise lenken, obgleich es glaubt, nur zu analysieren. Wendet man also gleichzeitig beide Methoden an, würden sie sich gegenseitig als Beweis dienen. Geht das Kind gleichzeitig von diesen beiden einander entgegengesetzten Punkten aus, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß der Weg der gleiche ist, wird es überrascht sein, sich selbst zu begegnen, und diese Überraschung kann nur äußerst erfreulich sein. Ich möchte beispielsweise die Geographie von diesen beiden Punkten her anfassen und mit dem Studium der Erdumdrehung das des Ausmaßes der einzelnen Erdteile verbinden, wobei ich beim Wohnort des Kindes anfangen würde. Während es die Sphäre studiert und sich so zum Himmel aufschwingt, führt es wieder zurück zur Erde und ihren Teilungen und zeigt ihm zunächst seinen eigenen Wohnort.
Seine beiden ersten geographischen Punkte werden die Stadt sein, in der es wohnt, und das Landhaus seines Vaters, dann die Orte, die dazwischenliegen, dann die Flüsse, die nahebei fließen, und schließlich der Stand der Sonne und die Art und Weise, sich zu orientieren. Das ist der Punkt der Vereinigung. Erst soll es sich eine Landkarte von all dem machen, eine ganz einfache Landkarte, auf der zunächst nur zwei Gegenstände vermerkt sind, denen es nach und nach die anderen hinzufügt, je nachdem es über ihre Abstände voneinander oder ihre Lage Bescheid weiß oder sie abschätzen kann. Ihr seht nun schon, wie groß der Vorteil ist, den wir ihm von vornherein verschafften, indem wir einen Kompaß in sein Auge einbauten. Zweifellos muß man es trotzdem ein wenig leiten, aber nur ganz wenig, und ohne daß es sich dessen bewußt wird. Irrt es sich, laßt es ruhig dabei, korrigiert es nicht, wartet stillschweigend ab, bis es soweit ist, daß es selbst auf das Richtige kommt und seinen Irrtum korrigiert; höchstens führt bei günstiger Gelegenheit eine Situation herbei, die es ihn erkennen läßt. Würde es sich niemals irren, würde es auch nicht so gut lernen. Außerdem geht es nicht darum, daß es die Topographie der Gegend genau kennt, sondern die Möglichkeit, daran zu lernen. Ob es Landkarten im Kopf hat, ist höchst unwichtig, wenn es nur richtig begreift, was auf ihnen dargestellt ist, und wenn es nur eine klare Vorstellung von der Kunst hat, die zu ihrer Anfertigung dient. Da seht ihr schon den Abstand zwischen den Kenntnissen eurer Schüler und der Unwissenheit des meinigen! Sie kennen die Landkarten, aber meiner macht sie selbst. Und das gibt neuen Zimmerschmuck für ihn.
Vergeßt nie, daß es nicht im Sinn meiner Methode liegt, dem Kind vielerlei beizubringen, sondern daß sein Hirn nur richtige und klare Gedanken fassen soll. Wenn Emile auch gar nichts wüßte das kümmerte mich wenig, Hauptsache, er irrt sich nicht. Die Wahrheiten, die ich ihm beibringe, sind nur dazu da, ihn vor Irrtümern zu schützen, die er sich statt der Wahrheiten in den Kopf setzen könnte. Verstand und Urteilsvermögen entwickeln sich langsam, falsche Vorstellungen und Fehlurteile aber kommen rasch und in großer Menge vor ihnen gilt es ihn zu schützen. Treibst du aber die Wissenschaft an sich, so versinkst du in einem Ozean ohne Grund, ohne Ufer und voller Klippen; niemals fändest du wieder heraus. Sehe ich einen Menschen, wie er, in Erkenntnisse verliebt, sich von deren Zauber so verführen läßt, daß er, kaum hat er eine Erkenntnis erworben, hinter der nächsten herläuft, ohne mehr anhalten zu können, vermeine ich ein Kind am Ufer zu sehen, das Muscheln sammelt und sich damit zu beladen beginnt, dann, angelockt vom Anblick derer, die es noch sieht, sie wegwirft, neue aufhebt, bis es, erdrückt von der allzu großen Menge, nicht mehr weiß, welche es behalten soll, und zum Schluß alle wegwirft und mit leeren Händen nach Hause geht. Während des jüngsten Alters hatten wir viel Zeit: wir überlegten nur, wie wir sie am besten vertun konnten, um sie nicht schlecht zu verwenden. jetzt ist es genau das Gegenteil wir haben nicht mehr genug, um alles das zu tun, was nötig wäre. Bedenkt, daß die Leidenschaften sich nähern; sobald sie an die Türe klopfen, wird euer Zögling nur noch Augen und Ohren für sie haben. Das friedliche Alter des Verstandes ist so kurz, es geht so schnell vorüber, es ist mit so viel anderen notwendigen Beschäftigungen ausgefüllt, daß es töricht wäre zu glauben, in dieser Zeit ein Kind zum Gelehrten machen zu können. Es handelt sich ja auch nicht darum, ihm die Wissenschaften beizubringen, sondern ihm den Sinn dafür zu geben und die Methoden, sie zu erlernen, sobald dieser Sinn vollkommener entwickelt ist. Dies ist mit Sicherheit ein fundamentaler Grundsatz jeglicher guten Erziehung.
Jetzt ist auch die Zeit, es nach und nach daran zu gewöhnen, seine Aufmerksamkeit fortgesetzt auf den gleichen Gegenstand zu richten. Nie aber darf es unter Zwang geschehen, nur die Lust dazu oder das Verlangen danach darf diese Aufmerksamkeit erregen; es braucht größter Sorgfalt, ihm diese Aufmerksamkeit nicht zur Last oder zur Langweile werden zu lassen. Laßt diesen Gesichtspunkt nie aus den Augen, und was immer geschehen mag schiebt alles beiseite, ehe es sich langweilt, denn, daß es etwas lernt, ist nie so wichtig, als vielmehr, daß es niemals etwas widerwillig tut.
Wenn euer Zögling etwas von euch wissen will, so antwortet ihm so viel, daß seine Wißbegier angereizt, aber niemals voll befriedigt wird; besonders, wenn ihr merkt, daß er nicht fragt, um sich zu belehren, sondern zu faseln anfängt und euch durch törichte Fragen zusetzt, hört sofort auf, zu antworten, denn ihr könnt sicher sein, daß es ihm gar nicht mehr um die Sache selbst geht, sondern nur darum, daß ihr ihm Rede und Antwort steht. Die Worte, die er ausspricht, sind weniger wichtig als der Beweggrund, der ihn reden läßt. Dieser Hinweis war bisher weniger nötig, aber er gewinnt größte Bedeutung, sobald das Kind anfängt zu denken.
J.J. Rousseau: Emile oder über die Erziehung, Reclam Verlag Stuttgart 1980, S.355-364