Mein Leben (Seume): Unterschied zwischen den Versionen
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[...] Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung Ziegenhain, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen, um mit dem nächsten Frühjahr nach Fawcets Besichtigung nach Amerika zu gehen. Ich ergab mich in mein Schicksal und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem ver dammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall; wo so viele durchkommen, wirst du auch; über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich. Während unseres Aufenthalts in Ziegenhain brauchte mich der alte General Gore zum Schreiben und behandelte mich mit vieler Freundlichkeit. Hier war denn ein wahres Quodlibet von Menschenseelen zusammengeschichtet, gute und schlechte und andere, die abwechselnd beides waren. Meine Kameraden waren noch ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein bankrotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentierer aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Gotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meinungen, ein preußischer Husarenwachtmeister, ein kassierter hessischer Major von der Festung und andere von ähnlichem Stempel. Man kann denken, daß es an Unterhaltung nicht fehlen konnte; und nur eine Skizze von dem Leben der Herren müßte eine unterhaltende, lehrreiche Lektüre sein. | [...] Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung Ziegenhain, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen, um mit dem nächsten Frühjahr nach Fawcets Besichtigung nach Amerika zu gehen. Ich ergab mich in mein Schicksal und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem ver dammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall; wo so viele durchkommen, wirst du auch; über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich. Während unseres Aufenthalts in Ziegenhain brauchte mich der alte General Gore zum Schreiben und behandelte mich mit vieler Freundlichkeit. Hier war denn ein wahres Quodlibet von Menschenseelen zusammengeschichtet, gute und schlechte und andere, die abwechselnd beides waren. Meine Kameraden waren noch ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein bankrotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentierer aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Gotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meinungen, ein preußischer Husarenwachtmeister, ein kassierter hessischer Major von der Festung und andere von ähnlichem Stempel. Man kann denken, daß es an Unterhaltung nicht fehlen konnte; und nur eine Skizze von dem Leben der Herren müßte eine unterhaltende, lehrreiche Lektüre sein. |
Version vom 28. März 2008, 13:14 Uhr
Johann Gottfried Seume berichtet in seiner unvollendeten autobiographischen Schrift Mein Leben über sein Leben von der Kindheit bis zur Rückkehr von seiner Zeit als hessischer Soldat in Amerika. Hier werden nur kurze Ausschnitte vorgelegt.
Seumes Ausbildungsgang
Intelligent und eigenwillig lernt Seume vor allem, war er selbst für wichtig hält, ist aber einem seiner Lehrer sehr dankbar für seine Anleitung.
Bei meinem Herrn Paten, dem Schulmeister Held in Posern, hatte ich für einen Phönix im Lernen gegolten hier bei dem Herrn Weyhrauch in Knauthayn galt ich für einen ausgemachten Dummkopf. [...]Ich schrieb von Posern aus in meinem sechsten Jahre schon eine ziemlich leserliche Hand; aber Herr Weyhrauch fand darin weder ductum noch fructum, und ich mußte durchaus ganz von neuem seine Hopfenstangen von Buchstaben nachmalen, worin ich sehr unglücklich war, da ich zum Zeichnen fast gar kein Talent besitze. Herr Adam Weyhrauch war ein ehrlicher, wohlmeinender, braver Mann [...] Er hatte seine liebe Not mit mir, und ich mit ihm. Ich glaubte zwar seiner Aburteilung über meine Dummheit nicht ganz, war aber doch ganz verblüfft daß ich dem Manne durchaus gar nichts zu Danke machen konnte. [...]Wer zuerst etwas Ätherisches in mir entdeckte, war der Pfarrer, Magister Schmidt, ein rechtlicher, jovialer, ziemlich gebildeter und ziemlich orthodoxer Mann, in dessen Charakter aber der Grundzug freundliches Wohlwollen und Güte des Herzens war. Er schloß aus meinen oft sonderbaren Antworten in den öffentlichen Kirchenprüfungen auf meinen eigenen, zuweilen sehr barocken Ideengang, unterhielt sich viel mit mir und berichtigte meine Gedanken. Er besaß darin so viel Geschicklichkeit, als ob er in dem sokratischen geistigen Hebammeninstitut zur Lehre gegangen wäre. Nun sprach er mit dem Schulmeister, Herrn Weyhrauch, über die Methode des Unterrichts bei einem solchen Kopfe; die Einwendungen des Schulmeisters wurden gehoben; der Pfarrer zeigte ihm, daß ich kein Mechaniker und kein Schönschreiber werden und mich schwerlich mit Nachbeten begnügen würde. Man beschränkte sich nun auf die Negative und überließ die Positive mir selbst. Von nun an nahm man wenig Notiz mehr von meinen krummen und schiefen Linien auf dem Papier und meinen Stelzfüßen und Buchstaben, sondern nur von meinen Ideen, womit ich den Schulmeister und auch wohl zuweilen den Pfarrer in einige Verlegenheit setzte. In kurzer Zeit übersprang ich alle Matadorjungen der Dorfs in der Schule und ward bald der Erste und Statthalter des Herrn Weyhrauch bei dessen Abwesenheit als Bienenvater und Spargelgärtner. [...]Einige Zeit darauf wurde Anstalt gemacht, mich zum Rektor Korbinsky nach Borna zu bringen. Hier kam ich denn wie ein halber Hurone, moralisch gut gebildet, wenigstens ganz unverdorben, aber wissenschaftlich ganz roh und wild an. Der alte Herr nahm mich freundlich väterlich auf und ist von allen meinen Lehrern derjenige, dem ich am meisten verdanke. Er hatte mehrere Pensionärs, unter denen ich der älteste und unwissendste war; ausgenommen meine Bibelweisheit, in welcher mir es auch dort niemand zuvor tat. Das Haus war patriarchalisch gut, und seine Frau war mehr als meine zweite Mutter. Er gab mir kurze, gemessene, deutliche, sehr gründliche Anleitung; das Bedürfnis drängte, der Ehrgeiz spornte, und binnen einem Jahre stand ich so ziemlich mit den übrigen auf gleichem Fuße, die schon vier und fünf Jahre hier gewesen waren, und am Ende des zweiten war ich fast entschieden der erste an Kenntnissen. [...] Der Rektor überließ mich mir selbst; und da war ich denn zuweilen entsetzlich fleißig und zuweilen entsetzlich faul. Das zweite übersah er zuweilen des ersten wegen, und ein Hm hm mit Kopfschütteln oder ein »Du kommst jetzt nicht vorwärts, mein Sohn!« waren hinlänglich, mich in den Gang zu bringen. Wie ich im Lateinischen und Griechischen deklinieren und konjugieren gelernt habe, weiß ich selbst kaum. Ich las und las, bis es fest blieb; dann las ich Stellen und analysierte und setzte wieder zusammen, da dann die logische Notwendigkeit sich meiner Seele aufdrang, daß es so sein müsse und auf diese Weise nicht anders sein könne. Die Ausnahmen, wenn man sie nur einige Male gelesen hatte, fielen deutlich genug in die Augen. […] Der Rektor [...] gab mir selbst das Zeugnis, daß ich bei ihm in zwei Jahren so viel getan habe, als andere in sechs Jahren [...].ihm in zwei Jahren so viel getan habe, als andere in sechs Jahren [...].Man schickte mich zu Morus und Wolf in die Prüfung. Der erste ist nachher immer mein guter väterlicher Lehrer geblieben und ward sodann mein Freund bis an seinen Tod; es wäre unnötig, hier seinen moralischen und wissenschaftlichen Wert zu preisen. Von dem zweiten, der ein vortrefflicher Lateiner als Ernestis Schüler war, hielt mich die strenge asketische Orthodoxie des Mannes mehr entfernt. Was sie meinen Kenntnissen für ein Zeugnis gaben, weiß ich nicht, ich erhielt es versiegelt; es kann aber nicht ungünstig gewesen sein, denn statt mich noch auf eine Schule zu schicken, wurde ich sogleich auf die Universität getan. Und so war ich denn in einer Zeit von ungefähr drei Jahren ein wilder, unwissender Landjunge, ein gänzlicher Analphabet und Leipziger Student; das ging freilich ein wenig rasch. »Alles recht gut«, sagte mir der wackere Forbiger, als ich Abschied nahm, »nur etwas zu früh!« ein Urteil, das ich selbst gern unterschrieb [...] Nun tummelte ich mich in der Freiheit herum und brauchte sie zwar nicht ganz weise, aber doch so, daß man es eben nicht Mißbrauch nennen konnte. Ich hatte nachzuholen, das fühlte ich, und tat es redlich und gewissenhaft: nicht eben durch viele Kollegien, sondern durch eigenen, sehr hartnäckigen Fleiß. [...] Über die Griechen hörte ich weniger; und doch tat ich in denselben mehr und war lebendiger in ihnen als in den Lateinern, weil mich ihr Geist besser ansprach. Oft pflegte ich und pflege noch jetzt halb im Scherz, halb im Ernste zu sagen: Was ich Gutes an und in mir habe, verdanke ich meiner Mutter und dem Griechischen.
Seume: Mein Leben, S.63-65, 72-73, 90-91
Seumes verlässt seine Heimat
Seume studierte Theologie und konnte nach der Lektüre aufklärerischer Schriften mit der Theologie des orthodoxen Luthertums nichts mehr anfangen. Da er aber befürchten musst, später als Prediger immer darauf festgelegt zu werden, beschloss er, dieser Falle zu entrinnen.
Nach vielen Kämpfen, die mir allerdings wohl das Ansehen eines Melancholischen geben mochten, ging ich auf und davon, ohne einen fest bestimmten Vorsatz, wohin und wozu. Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Wert hatten, und nach Abzahlung meiner kleinen Schulden, die ich notwendig haben mußte, blieben mir ungefähr neun Taler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu tun sei. Von dort aus – wer sieht nicht gern zuvor Paris? – dachte ich nach Metz in die Artillerieschule, da ich eben damals angefangen hatte, etwas ernsthaft Französisch und Mathematik zu treiben. Das übrige überließ ich billig dem Schicksal. Das Traurigste war der qualvolle Gedanke an meine Mutter; und ich muß bekennen, daß ich mir alle, obwohl vergebliche Mühe gab, ihn zu unterdrücken, da ich die Unmöglichkeit sah, meine Sinnesart zu ändern, und die Unmöglichkeit, bei dieser Sinnesart als ehrlicher Mann hierzubleiben. Sie war zwar keine Zelotin und würde mich nicht sogleich verdammt haben; doch würde ihr ruhiges Wesen es widersprechend gefunden haben, daß ein Kopf sich nicht bei dem beruhigen könne, wobei sich so viele Hunderttausende ehrsam beruhigen. Auf alle Fälle würde ihr meine Lage, wenn ich geblieben wäre, fast ebenso schmerzlich gewesen sein als meine Entfernung. Ich ging also nach Berichtigung meiner Schulden fort, ohne irgend jemand eine Silbe gesagt zu haben. Den Degen an der Seite, einige Hemden auf dem Leibe und im Reisesack und einige Klassiker in der Tasche, marschierte ich zwar ganz rüstig und leicht, aber nichts weniger als ruhig durch die Dörfer nach Dürrenberg, setzte dort über die Saale ging über das Schlachtfeld bei Roßbach und blieb die erste Nacht in einem kleinen Dorf bei Freiburg, das glaube ich, Zeugefeld hieß. Hier schrieb ich in meiner Verlassenheit und mit schwerem Gefühl abends eine gar rührende Elegie über meinen Zustand. Sie gehört zu den Heiligtümern meiner Seele; niemand hat sie gesehen, und sie hat sich bald aus meinem Taschenbuche verloren, sowie meine Stimmung sich erheiterte und einen etwas stoischen Takt erhielt. Den zweiten Abend blieb ich in einem Dorfe vor Erfurt, wo man mich mit vieler Teilnahme sehr gut, sehr wohlfeil bewirtete und mich schonend merken ließ, ich hätte wohl jemand mit dem Instrumente da, man wies auf den Degen, etwas übel behandelt und müsse das Weite suchen. Ich widersprach zwar, aber man schien doch so etwas zu glauben. In Erörterungen mochte ich mich nicht einlassen, und ihre Meinung tat mir weiter keinen Schaden.
Seume: Mein Leben, S. 95-96
Seume wird gezwungen, hessischer Soldat zu werden
Den dritten Abend übernachtete ich in Vach [Vacha], und hier übernahm trotz allem Protest der Landgraf von Kassel [Friedich II.], der damalige große Menschenmakler, durch seine Werber die Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhain, Kassel und weiter nach der neuen Welt.
[...] Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung Ziegenhain, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen, um mit dem nächsten Frühjahr nach Fawcets Besichtigung nach Amerika zu gehen. Ich ergab mich in mein Schicksal und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem ver dammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall; wo so viele durchkommen, wirst du auch; über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich. Während unseres Aufenthalts in Ziegenhain brauchte mich der alte General Gore zum Schreiben und behandelte mich mit vieler Freundlichkeit. Hier war denn ein wahres Quodlibet von Menschenseelen zusammengeschichtet, gute und schlechte und andere, die abwechselnd beides waren. Meine Kameraden waren noch ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein bankrotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentierer aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Gotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meinungen, ein preußischer Husarenwachtmeister, ein kassierter hessischer Major von der Festung und andere von ähnlichem Stempel. Man kann denken, daß es an Unterhaltung nicht fehlen konnte; und nur eine Skizze von dem Leben der Herren müßte eine unterhaltende, lehrreiche Lektüre sein.
Seume: Mein Leben, S. 96-98
Der Plan zu desertieren
Da es den meisten gegangen war wie mir, oder noch schlimmer, entspann sich bald ein großes Komplott zu unser aller Befreiung. Man hatte soviel gutes Zutrauen zu meinen Einsichten und meinem Mut, daß man mir Leitung und Kommando mit uneingeschränkter Vollmacht übertrug; und ich ging bei mir zu Rate und war nicht übel willens, den Ehrenposten anzunehmen und fünfzehnhundert Mann auf die Freiheit zu führen und sie dann in Ehren zu entlassen, einen jeden seinen Weg. Außer dem glänzenden Antrag kitzelte mich vorzüglich, dem Ehrenmanne von Landgrafen für seine Seelenschacherei einen Streich zu spielen, an den er denken würde, weil er verteufelt viel kostete. Als ich so ziemlich entschlossen war, kam ein alter preußischer Feldwebel zu mir sehr vertraulich. »Junger Mensch«, sagte er, »Sie eilen in Ihr Verderben unvermeidlich, wenn Sie den Antrag annehmen. Selten geht eine solche Unternehmung glücklich durch; der Zufälle, sie scheitern zu machen, sind zu viele. Glauben Sie mir altem Manne, ich bin leider bei dergleichen Gelegenheiten schon mehr gewesen. Sie scheinen gut und rechtschaffen, und ich liebe Sie wie ein Vater. Lassen Sie meinen Rat etwas gelten! Wenn die Sache glücklich durchgeht, werden wir nicht die letzten sein, davon Vorteil zu ziehen.« Ich überlegte, was mir der alte Kriegsmann gesagt hatte, und unterdrückte den kleinen Ehrgeiz, entschuldigte mich mit meiner Jugend und Unerfahrenheit und ließ die Sache vorwärts gehen. Der Kanonier-Feldwebel hatte recht; es wurde alles verraten: ein Schneider aus Göttingen, der ein Stimmchen sang wie eine Nachtigall, erkaufte sich durch die Schurkerei eine Unteroffizierstelle bei der Garde, und da man ihn dort gehörig würdigte und er des Lebens nicht mehr sicher war, die Freiheit und eine Handvoll Dukaten. Ich erinnere mich der Sache noch recht lebhaft. Alle Anstalten zum Ausbruch waren getroffen. Wir lagen in verschiedenen Quartieren, in den Kasernen, dem Schlosse und einem alten Rittersaale. Man wollte um Mitternacht auf ein Zeichen ausziehen, der Wache stürmend die Gewehre wegnehmen, was sich widersetzte, niederstechen, das Zeughaus erbrechen, die Kanonen vernageln, das Gouvernementshaus verriegeln und zum Tore hinausmarschieren. In drei Stünden wären wir in Freiheit gewesen, Leute, die Weg wußten, waren genug dabei.
Seume: Mein Leben, S. 99-100
Die Bestrafung
Als wir aber den Tag vorher abteilungsweise auf den Exerzierplatz kamen, fanden wir statt der gewöhnlichen zwanzig Mann deren über hundert, Kanonen auf den Flügeln mit Kanonieren, die brennende Lunten hatten, und Kartätschen in der Ferne liegend. Jeder merkte, was die Glocke geschlagen hatte. Der General kam und hielt eine wahre Galgenpredigt. »Am Tore sind mehr Kanonen«, rief er, »wollt Ihr nicht gehen?« Die Adjutanten kamen und verlasen zum Arrest, Hans, Peter, Michel, Görge, Kunz. Meine Personalität war eine der ersten: denn daß der verlaufene Student nicht dabei sein sollte, kam den Herren gar nicht wahrscheinlich vor. Da aber niemand etwas auf mich bringen konnte, wurde ich, und vermutlich noch mehr der Menge wegen, bald losgelassen. Der Prozeß ging an, zwei wurden zum Galgen verurteilt, worunter ich unfehlbar gewesen sein würde hätte mich nicht der alte preußische Feldwebel gerettet. Die übrigen mußten in großer Anzahl Gassenlaufen, von sechsunddreißig Malen herab bis zu zwölfen. Es war eine grelle Fleischerei. Die Galgenkandidaten erhielten zwar nach der Todesangst unter dem Instrument Gnade, mußten aber sechsunddreißigmal Gassen laufen und kamen auf Gnade des Fürsten nach Kassel in die Eisen. Auf unbestimmte Zeit und auf Gnade in die Eisen, waren damals gleichbedeutende Ausdrücke und hießen so viel, als ewig ohne Erlösung. Wenigstens war die Gnade des Fürsten ein Fall, von dem niemand etwas wissen wollte. Mehr als dreißig wurden auf diese Weise grausam gezüchtigt; und viele, unter denen auch ich war, kamen bloß deswegen durch, weil der Mitwisser eine zu große Menge hätten bestraft werden müssen. Einige kamen bei dem Abmarsch wieder los, aus Gründen, die sich leicht erraten lassen; denn ein Kerl, der in Kassel in den Eisen geht, wird von den Engländern nicht bezahlt.
Seume: Mein Leben, S. 100
Die Weiterreise
Endlich ging es von Ziegenhain nach Kassel, wo uns der alte Betelkauer in höchst eigenen Augenschein nahm, keine Silbe sagte und uns über die Schiffbrücke der Fulda, die steinerne war damals noch nicht gebaut, nach Hannoversch-Minden spedierte. Unser Zug glich so ziemlich Gefangenen: denn wir waren unbewaffnet, und die bewehrten Stiefletten- Dragoner und Gardisten und Jäger hielten mit fertiger Ladung Reihe und Glied fein hübsch in Ordnung. Ich genoß, trotz der allgemeinen Mißstimmung, doch die schöne Gegend zwischen den Bergen am Zusammenfluß der Werra und der Fulda, die dort die Weser bilden, mit zunehmender Heiterkeit. Das Reisen macht froher, und unsere Gesellschaft war so bunt, daß das lebendige Quodlibet alle Augenblicke neue Unterhaltung gab. So ging es denn auf sogenannten Bremer Böcken den Strom hinab. Nicht weit von Hameln, glaube ich, machte man eine Absonderung der Preußen, die man nicht durch Preußisch-Minden bringen durfte, und ließ sie einen Marsch zu Lande machen, um das Preußische zu vermeiden. Da mir das zusammengedrückte, eingepökelte Wesen auf den kleinen langen Fahrzeugen nicht sonderlich behagen wollte, meldete ich mich als Preuße beim Verlesen. Der Offizier sah in die Liste und sagte: »Hier steht ja ein Sachse.« »So?« sagte ich; »nun, so will ich ein Sachse bleiben.« Er schwieg, ließ mich aber, nachdem alle verlesen waren, mit den Preußen aussteigen. Man stellte sich, und es ging zu Lande weiter. Ich hatte damals die Gewohnheit, ein Buch zwischen Weste und Beinkleider unter den Gürtel zu stecken. Das Buch mochte diesmal etwas zu stark sein und den Leib unförmlich machen. »Was Teufel, ist der Kerl schwanger?« sagte ein Hauptmann Lesthen, der eben vor mir stand, und hob die Weste beim Flügel auf, und es wurde der Julius Cäsar zutage gefördert. »Was Henker, macht er denn mit dem Buche?« fuhr er fort. »Ich lese darin«, war meine Antwort. »Wo hat Er denn das Latein gelernt?« »Das Latein? pflegt man gewöhnlich in der Schule zu lernen.« Er schüttelte den Kopf. Ich hatte in dem Buche eine Menge Randnoten aus dem Vegez, Frontin und andern Alten und Neuen, auch wohl von mir selbst niedergeschrieben. »Von wem sind denn die Bemerkungen hier?« »Von mir und vor mir von den angegebenen Herren.« Er sah mich fest an und endigte mit dem spöttischen Abschied: »Er wird wohl einmal ein recht großer Mann werden.« »Schwerlich«, sagte ich; »das ist unter den Deutschen gar nicht wahrscheinlich; aber wenigstens will ich nicht schuld sein, daß es nicht wird.« Nun ging es fort; und ich las, ohne eben weiter einen Zweck zu denken, in den Ruhestunden zuweilen nach meiner Weise einige Kapitel, aus bloßem Bedürfnis, mich besser zu beschäftigen, als ich in meinen Umgebungen sonst wohl konnte. Hier entspann sich in einem Nachtquartiere wieder ein Komplott und sollte der Kürze wegen, und da unsere Bedeckung nicht sehr stark war, sogleich ausgeführt werden; ich habe aber die Beschaffenheit desselben nicht recht erfahren können. Diese Rekrutenabteilung bestand aus lauter preußischen Landeskindern und preußischen Deserteuren, die beständig vom Alten Fritz und Seidlitz und Schwerin sprachen und sich nichts Kleines dünkten. Aber weiß der Himmel, wie es war laut geworden: der kommandierende Offizier requirierte sogleich die ganze bewaffnete Bürgerschaft und die Bauern aus der Gegend, machte echt militärisch Miene, uns in der alten Kirche, wo wir lagen, zusammenzuschießen; und es ging alles wieder ganz ruhig bis an die Weser auf die Bremer Böcke. Hier half mir meine stoische Genügsamkeit und meine Humanität einen Streich machen, der mir in meiner Sphäre zu keiner kleinen Ehre gereichte. Gewinnsucht und Leidenschaft regiert, wie bekannt, die Welt. Damit wir nicht verhungerten, hatte ein Entrepreneur, ein Marketender im Großen, für keine kleine Summe sich anheischig gemacht, uns zu beköstigen. Man weiß, wie es geht. Wir wollten eben soviel als möglich essen, und er wollte so viel als möglich gewinnen, welches sich zusammen nicht wohl vertrug. Fast unsere ganze Löhnung ging auf die Menage; und der Klagen liefen bei dem Obersten von Hatzfeld, der den Transport kommandierte, viele ein. Der Mann hatte ein Gefühl für Recht und tat, was er konnte, den Speisewirt zur guten Behandlung zu nöti gen. Da Ermahnungen bei Gewinnsüchtigen gewöhnlich vergeblich sind, wurden wechselweise von dem Transport nach den Schiffen Deputierte gewählt, die auf dem Kochschiffe nach dem Recht sehen sollten. Indes es ging mit den Deputierten wie im englischen Parlament. Dort besticht man mit Guineen, Stellen und Pensionen, hier bestach man mit Wein, Schnaps und Kuchen; und so ging es denn, hier wie dort, nicht viel besser als vorher. Als die Reihe mein Schiff traf, wurde ich von der Rekrutenschaft einstimmig zum Deputierten erwählt. Auf dem Kochschiffe wollte man mich, wie gewöhnlich, höflich mit dem Weinglase empfangen und mit Konfekt in der Kajüte halten. Ich habe gefrühstückt, war mein Bescheid, und blieb bei den Kesseln stehen, um zu sehen, daß die gehörige Quantität Fleisch und Gemüse hinein kam. Als die Kähne kamen, um zu holen, drang ich darauf, daß die Menagekessel voll gegeben wurden. Wir werden nicht auskommen, sagte man. Wir werden wahrscheinlich auskommen, sagte ich, auf meine Gefahr; denn so viel hatte ich noch rechnen gelernt. Es blieb viel übrig, ich ließ zum zweitenmal holen und alle erhielten eine sehr gute Mahlzeit. Noch blieb viel übrig; doch nicht so viel, daß man noch einmal von vorn hätte anfangen können. Da kamen unsere Zwangswächter, die Dragoner, vom Ufer mit ihren Töpfen. Eine vorlaute schnippische Köchin wollte austeilen und von den armen Teufeln Weißpfennige dafür einnehmen. »Was soll das?« rief ich. »Das Essen ist unser, wir haben es bezahlt; die Leute müssen den Rest unentgeltlich haben.« Das Liebchen ward böse, und ich ergriff im Amtseifer den Schöpflöffel und teilte aus bis auf den Boden, ohne einen Heller zu nehmen oder nehmen zu lassen. Die alten Kerle drückten mir freundlich die Hand. »Wir sehen leider deutlich genug«, raunte mir einer zu, »wie Ihr betrogen werdet; können aber nicht helfen.« Als die belobte Kesselprinzessin es noch einmal wagte, mich zu stören, schlug ich sie im Ärger so heftig mit der Schöpfkelle auf die Hand, daß sie laut schreiend und drohend zum Prinzipal in die Kajüte sprang. Da man mich aber so fest entschlossen sah unterstand man sich nicht, mich weiter anzutasten. Ich bekam vom Ufer und von den Böcken eine Menge Dankadressen, mit der Versicherung, daß man noch nicht so gut und so reichlich gespeist habe; und diese Dankadressen hatten wohl wenigstens einen ebenso guten Grund als die im Parlamente. Man nehme es, wie man will, ich halte diesen Tag für einen der schönsten meines Lebens; und das Bewußtsein macht mich stolz, daß ich als erster Volksdeputierter, trotz jeder Versuchung, Schmeichelei oder Drohung, mit eben der beharrlichen Entschlossenheit würde gehandelt haben. Die Sache lief unter den Offizieren herum, und ein jeder machte seine Glossen darüber nach sei ner Sinnesweise. Die Reihe, Deputierter zu sein, kam nicht wieder an unsern Bock, also auch nicht wieder an mich.
So fuhren wir denn den ganzen Strom hinab von Minden bis zu Bremerlee, wo uns die englischen Transportschiffe erwarteten. In Minden auf der Wiese besichtigte uns der Makler Fawcet, und es gab von den Dragonerunteroffizieren und Gardisten einige freundliche Rippenstöße, weil wir nicht laut und voll und sonorisch genug: Es lebe der König! schrien. Da ich als ein kleiner Kerl im Ranzengliede, das heißt im mittelsten, stand, entging ich den Puffen, ohne eine Silbe zu sagen genötigt zu sein. Aber den Hut mußte ich wenigstens mitschwingen.
Seume: Mein Leben, S. 100-103
Die Atlantiküberquerung
In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern Verschläge in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war, und nun lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann; man denke die Menage. Wenn viere darin lagen, waren sie voll; und die beiden letzten mußten hineingezwängt werden. Das war bei warmem Wetter nicht kalt: es war für einen einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: »Umgewendet!« und es wurde umgeschichtet; hatten wir nun auf der andern Seite quantum satis [so lange wie möglich] ausgehalten, rief das nämliche der linke Flügelmann, und wir zwängten uns wieder in die vorherige Quetsche. Das war eine erbauliche, vertrauliche Lage, ungefähr wie im hohen Paradiese, wenn auf der Bühne des Volks Lieblingsstück gegeben wurde. Wir fuhren nicht durch den Kanal und die spanische See, weil damals noch die Spanier und Franzosen dort mit Flotten kreuzten und auf uns lauerten, sondern segelten um die Inseln nördlich an den Orkaden weg. Der Sturm trieb uns weit, weit nordwärts [...]; wir froren tief im Sommer, daß wir zitterten Tag und Nacht. Alles ging schlecht genug; wir brachten über einer Fahrt, die sonst gewöhnlich nur vier Wochen dauert, zweiundzwanzig zu. [...] den nämlichen Weg machten wir rückwärts in dreiundzwanzig Tagen; also machte ich eine der besten und eine der schlimmsten Fahrten mit.
Seume: Mein Leben, S.104, 108-09 und 127
Anmerkungen
Auslassungen und Zusätze zur Erläuterung sind innerhalb der Zitatblöcke durch eckige Klammern kenntlich gemacht.
Buchausgaben
- Peter Goldammer u. Heinz Pietzsch (Hrsg.): Seume. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Thüringer Volksverlag Weimar 1954, S.51-129 (Die obigen Seitenangaben folgen dieser Ausgabe.)
- Jörg Drews (Hrsg): Mein Leben. Nebst der Fortsetzung von C. J. Göschen u. C. A. H. Clodius. 2., überarb. Aufl. Stuttgart 2002 (= Reclams Universal Bibliothek, 1060) [1. Aufl. 1991].
- Johann Seume: Mein Leben, Elibron Classics, 2000