Am Kipp-Punkt: Unterschied zwischen den Versionen
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Das Sachbuch: '''Am | Das Sachbuch: '''Am Kipp-Punkt'''. Wo das Klima zu kollabieren droht - und wie wir uns noch retten können von B. v. Brackel u. T. Staud<ref>https://www.kiwi-verlag.de/buch/toralf-staud-benjamin-von-brackel-am-kipppunkt-9783462007909</ref> ist 2025 erschienen.<ref>https://www.kiwi-verlag.de/buch/toralf-staud-benjamin-von-brackel-am-kipppunkt-9783462007909</ref> | ||
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Genau davon war der Erdwissenschaftler, Seaver Wang in seiner Jugend überzeugt.'Ich habe nie daran gezweifelt, dass ein Wendepunkt existiert, über den der Planet eine Klippe hinabrutschen würde', schreibt er in einem Blogbeitrag des US-amerikanischen Breakthrough Institute, für das er arbeitet. 'Dass die Erde einen Klima-Kipppunkt überqueren und in einen sich selbst verstärkenden Wahnsinn hinabfallen würde – doch ich lag komplett falsch.' | Genau davon war der Erdwissenschaftler, Seaver Wang in seiner Jugend überzeugt.'Ich habe nie daran gezweifelt, dass ein Wendepunkt existiert, über den der Planet eine Klippe hinabrutschen würde', schreibt er in einem Blogbeitrag des US-amerikanischen Breakthrough Institute, für das er arbeitet. 'Dass die Erde einen Klima-Kipppunkt überqueren und in einen sich selbst verstärkenden Wahnsinn hinabfallen würde – doch ich lag komplett falsch.' | ||
Um die Frage zu beantworten, ob das Klimasystem als Ganzes abgleiten kann, muss man einige Dinge sortieren: Temperaturschwellen, Zeitskalen und Wirkungsketten. Denn die Kippprozesse unterschiedlicher Teile des Erdsystems drohen bei deutlich unterschiedlicher Erwärmung und laufen in sehr unterschiedlichem Tempo ab, wie in den vorherigen Kapiteln dieses Buches beschrieben. | Um die Frage zu beantworten, ob das Klimasystem als Ganzes abgleiten kann, muss man einige Dinge sortieren: Temperaturschwellen, Zeitskalen und Wirkungsketten. Denn die Kippprozesse unterschiedlicher Teile des Erdsystems drohen bei deutlich unterschiedlicher Erwärmung und laufen in sehr unterschiedlichem Tempo ab, wie in den vorherigen Kapiteln dieses Buches beschrieben. | ||
Zuerst die '''Temperatur''': Zu den Kippelementen, deren kritische Temperaturschwelle wohl bereits sehr nahe liegt, zählen die tropischen Korallenriffe, die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis sowie der Amazonas-Regenwald. Der Mensch hat das Klima im langjährigen Mittel inzwischen bereits um rund 1,3 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau aufgeheizt und müsste sich gewaltig anstrengen, um zumindest noch unter zwei Grad Celsius zu bleiben. Für die vier genannten Elemente jedoch schätzen einige Studien den Kipppunkt auf Temperaturspannen, die bereits in diesem Bereich liegen oder deren unteres Ende schon überschritten wurde. Auch der Subpolarwirbel und vielleicht sogar die atlantische Umweltzirkulation könnten schon bei einer Erwärmung von rund zwei Grad Celsius kippen, wobei hier die Ungewissheiten größer sind. | |||
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Auch | |||
Für andere Elemente im Erdsystem entgegen erwarten Klimaforscher einen möglichen Kipppunkt erst bei sehr viel höheren Temperaturen, etwa für das winterliche Meereis der Arktis oder den / Ostantarktischen Eisschild (die deshalb in diesem Buch keine Kapitel bekommen haben). | |||
Nun zu den '''Zeitskalen''': Wie lange es dauert, bis sich nach dem Überschreiten eines Punktes die Folgen entfalten – auch darin unterscheiden sich die verschiedenen Elemente im Erd- und Klimasystem stark. Im Falle der tropischen Korallenriffe würde alles sehr schnell gehen – sie könnten innerhalb nur eines Jahrzehnts großräumig verloren gehen; auch für den Subpolarwirbel wird ein ähnlich kurzer Zeitraum genannt. Beim Amazonas-Regenwald und dem borealen Nadelwäldern könnte es einige Jahrzehnte dauern. Für die gesamte AMOC schätzt die Forschung den Kippzeitraum auf fünfzig bis einige Hundert Jahre. Die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis schließlich drohen zwar als Erste ihre Kipppunkte zu überschreiten (oder haben das vielleicht sogar schon getan), doch ihre vollständige Auflösung würde sich dann unglaublich lange hinziehen, also über Jahrhunderte oder Jahrtausende. | |||
Wichtig ist schließlich auch, welche Teile des Erdsystems tatsächlich einen großen '''Einfluss aufs Klima''' haben, wenn sie denn kippen sollten. Also welche Elemente andere mitreißen könnten. Die tropischen Korallenriffe oder die Gebirgsgletscher können dies jedenfalls nicht, auch weil ihr Kollaps keine oder nur wenige zusätzliche Treibhausgase verursacht. Dies darf aber nicht als Verharmlosung missverstanden werden: Für Natur und Menschheit hätte ein Verlust dramatische Konsequenzen – an dieser Stelle jedoch geht es allein um die Folgen für das ''Klimasystem''. | |||
Für etliche andere Kippelemente jedoch sieht das komplett anders aus. Sie würden teils ganz erheblich den Treibhauseffekt ankurbeln, wenn sie einmal über ihre kritische Schwelle hinaus sind, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. [...]" (S.212/13) | |||
====Positive Kipppunkte beim Klimaschutz==== | ====Positive Kipppunkte beim Klimaschutz==== | ||
=====Kapitel 16: Erneuerbare Energien: Das Solarwunder (S.225)===== | =====Kapitel 16: Erneuerbare Energien: Das Solarwunder (S.225)===== | ||
[...] Sharp, Solartaschenrechner und Dachanlagen - wie Japan die Photovoltaik zur Großtechnologie machte (S.231) | [...] Sharp, Solartaschenrechner und Dachanlagen - wie Japan die Photovoltaik zur Großtechnologie machte (S.231) | ||
"Am 1. April 2000 trat das deutsche {{wpde|Erneuerbare-Energien-Gesetz|EEG}} in Kraft, und die Photovoltaik hob ab. [...] Als das EEG in Kraft trat, waren bundesweit PV-Module mit einer Leistung von zusammen rund 100 Megawatt am Netz, – nach knapp vier Jahren wurde bereits die Schwelle von 1000 Megawatt geknackt, also einem Gigawatt installierter Leistung. Nur fünf Jahre später war mit zehn Gigawatt eine weitere Verzehnfachung erreicht. | |||
[...] | |||
Was sich in den vorigen vorherigen Jahrzehnten schon in den USA und in Japan gezeigt hatte, wirkte nun in viel größeren Dimensionen – ein / Mechanismus, der in der Innovationsforschung [...] Erstmals beschrieben 1936 [...] dass die Kosten für die Herstellung vieler technischer Geräte sinken, wenn größere Stückzahlen produziert werden, weil die Hersteller dazulernen und die Prozesse effizienter werden. Verbilligt sich ein Produkt, steigt die Nachfrage. Steigt die Nachfrage, wird mehr davon produziert. Wird mehr produziert, sinkt der Preis und so weiter – ein sich selbst beschleunigender Prozess. | |||
[...] | |||
Spätere Forschung zeigte, dass diese Lernkurve im Laufe der Weiterentwicklung einer Technologie oft konstant bleibt – sich also Kostensenkungen über Jahrzehnte fortsetzen. Bei der Photovoltaik strebt die Preiskurve seit inzwischen fünf Jahrzehnten stabil nach unten: Mit jeder Verdopplung der installierten Kapazität sanken die Preise der Zellen um rund ein Fünftel. | |||
Dank dieser sich selbst verstärkenden Spirale – angestoßen vom EEG – ergaben sich bis heute so starke Kostensenkungen, dass die Photovoltaik inzwischen billiger ist als fossile Energien." (S.237/38) | |||
=====Kapitel 17: Elektromobilität: Die E-Auto-Revolution (S.265)===== | =====Kapitel 17: Elektromobilität: Die E-Auto-Revolution (S.265)===== | ||
[...] Sind zehn bis zwanzig Prozent Marktanteil erreicht, so ein Klassiker der Innovationsforschung, wird die Ausbreitung unaufhaltbar. (S. 274) | [...] Sind zehn bis zwanzig Prozent Marktanteil erreicht, so ein Klassiker der Innovationsforschung, wird die Ausbreitung unaufhaltbar. (S. 274) | ||
''Leider hat sich diese Entwicklung im Bereich des Verkehrs nur in Norwegen so eingestellt, auch wenn es im riesigen Markt China schon Ansätze dazu gibt.'' | |||
''Dazu'' {{wpde|Tim Lenton}}: " 'Es ist überlebenswichtig, aus der Klimauntergangsstimmung herauszukommen. Sie ist entmutigend und lähmend.' Man solle sich stattdessen bewusst machen, dass 'wir mit dem wunderschönen komplexen System der Erde, aber auch unsere Gesellschaften und der Wirtschaft zusammenarbeiten können, um den Wandel zu beschleunigen, den wir dringend brauchen, um das Schlimmste der Klima- und Umweltkrise zu verhindern.' Ihm sei klar, dass der Klimaschutz 'extrem dringend' beschleunigt werden müsse. 'Aber ich weiß auch, dass es möglich ist – und das gibt mir, wie ich es nenne, plausiblen Grund zu Hoffnung.' " (S.302). | |||
=====Kapitel 18: Ernährung: Die zähe Fleischwende (S.305)===== | =====Kapitel 18: Ernährung: Die zähe Fleischwende (S.305)===== | ||
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"In sozialen Systemen nämlich sind die methodischen Schwierigkeiten beim Forschen ungleich größer als in der Natur. Bei einem See, zum Beispiel, der überdüngt ist und durch Algenwachstum irgendwann umkippt, kann man Nährstoffwerte und Temperatur messen, man kann Sensoren platzieren, Proben nehmen. Aber in einer Gesellschaft? Woher weiß man, welche Parameter man dort messen soll? [...] | "In sozialen Systemen nämlich sind die methodischen Schwierigkeiten beim Forschen ungleich größer als in der Natur. Bei einem See, zum Beispiel, der überdüngt ist und durch Algenwachstum irgendwann umkippt, kann man Nährstoffwerte und Temperatur messen, man kann Sensoren platzieren, Proben nehmen. Aber in einer Gesellschaft? Woher weiß man, welche Parameter man dort messen soll? [...] | ||
Und was ist mit der so genannten Repliziertbarkeit, also der Wiederholbarkeit, einem in den Naturwissenschaften essenziellen Prinzip? [...] Verhält sich wenigstens ein und dieselbe Gesellschaft in identischen Situationen ähnlich? Niemand weiß es. Auch weil es in einer Gesellschaft zu viele Variablen gibt und der Mensch in gewissen Maße frei und unberechenbar ist in dem, was er tut. Von ''agency'' spricht dir die Forschung, zu Deutsch etwa 'Handlungsmacht'. [...] 'Wir wissen, dass bei Menschen alles komplexer ist', sagt Donges, 'aber zu bestimmten Aspekten sind Vorhersagen möglich.' Wie Gruppen ( | Und was ist mit der so genannten Repliziertbarkeit, also der Wiederholbarkeit, einem in den Naturwissenschaften essenziellen Prinzip? [...] Verhält sich wenigstens ein und dieselbe Gesellschaft in identischen Situationen ähnlich? Niemand weiß es. Auch weil es in einer Gesellschaft zu viele Variablen gibt und der Mensch in gewissen Maße frei und unberechenbar ist in dem, was er tut. Von ''agency'' spricht dir die Forschung, zu Deutsch etwa 'Handlungsmacht'. [...] 'Wir wissen, dass bei Menschen alles komplexer ist', sagt Donges, 'aber zu bestimmten Aspekten sind Vorhersagen möglich.' Wie Gruppen (re)agieren oder ganze Gesellschaften, gilt in der Forschung sogar als einfacher prognostizierbar als das Verhalten einzelner Personen. Steigt beispielsweise in einem Land das Durchschnittseinkommen, nimmt meist auch der Fleischkonsum zu; ab einem bestimmten Wohlstandsniveau aber sinkt er oft auch wieder. Das ist klarer als eine Antwort auf die Frage, wann und warum ein einzelner Mensch weniger Fleisch isst. / Seine Forschungsgruppe untersucht zum Beispiel die Ausbreitung umweltschonender Formen von Landwirtschaft. Wann entscheidet sich ein Bauer für den Umstieg auf ökologischen Anbau? Wovon hängt ab, ob er langfristig dabei bleibt? Dazu führen sie Interviews, erheben Daten. [...] | ||
Ihre Erkenntnisse und die vieler anderer Forschenden bauen Donges und sein Team in ein Computermodell, dass die weltweite Agrarfläche in 60.000 Mosaiksteinchen zerlegt. Für jedes werden die Folgen unterschiedlichen Wirtschaftens etwa auf Bodenqualität und Ernten simuliert, wie dies benachbarte Akteure beeinflusst, und so weiter. Ihre Software kombiniert das so genannte ''agent-ased modelling'', also das Verhalten der menschlichen Verhalten menschlicher Akteure, mit naturwissenschaftlichem Modellen, über Klima und Landwirtschaft sowie ökonomischen Modellen. Die über allem schwebende Frage ist natürlich, ob und mit welchen Mitteln, mit welchen politischen und sonstigen Maßnahmen und Anreizen man Bauern zum Umstieg motivieren, ihnen einen entscheidenden, Stups geben und vielleicht im ganzen System einen Kipppunkt überschreiten kann.(S.313/14). | Ihre Erkenntnisse und die vieler anderer Forschenden bauen Donges und sein Team in ein Computermodell, dass die weltweite Agrarfläche in 60.000 Mosaiksteinchen zerlegt. Für jedes werden die Folgen unterschiedlichen Wirtschaftens etwa auf Bodenqualität und Ernten simuliert, wie dies benachbarte Akteure beeinflusst, und so weiter. Ihre Software kombiniert das so genannte ''agent-ased modelling'', also das Verhalten der menschlichen Verhalten menschlicher Akteure, mit naturwissenschaftlichem Modellen, über Klima und Landwirtschaft sowie ökonomischen Modellen. Die über allem schwebende Frage ist natürlich, ob und mit welchen Mitteln, mit welchen politischen und sonstigen Maßnahmen und Anreizen man Bauern zum Umstieg motivieren, ihnen einen entscheidenden, Stups geben und vielleicht im ganzen System einen Kipppunkt überschreiten kann.(S.313/14). | ||
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Aktuelle Version vom 20. September 2025, 16:39 Uhr
Das Sachbuch: Am Kipp-Punkt. Wo das Klima zu kollabieren droht - und wie wir uns noch retten können von B. v. Brackel u. T. Staud[1] ist 2025 erschienen.[2]
Klappentext
Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, Waldbrände - die Auswirkungen des immer extremeren Wetters sind auch hierzulande zunehmend spürbar. Aber all das ist erst der Anfang: Weil das 1,5-Grad-Limit nicht mehr zu halten ist und die Erderhitzung fortschreitet, drohen in naher Zukunft im Klimasystem mehrere sogenannte Kipppunkte überschritten zu werden. Die Folgen wären einschneidend, auch für Deutschland. Benjamin von Brackel und Toralf Staud liefern, was man über Kipppunkte wirklich wissen muss. Sie schildern die jahrzehntelange Erforschung der Kipppunkte, ihre möglichen Folgen und die Kontroversen der Fachwelt - eine der größten Detektivgeschichten unserer Zeit, deren Ausgang über nichts weniger entscheidet als über das Schicksal unserer Zivilisation. Die Autoren nehmen uns mit auf eine Weltreise zu den wichtigsten Kippelementen im Erdsystem: von den eisigen Landschaften der Pole über die Warmwasserheizung Europas bis zum Amazonas-Regenwald. Sie erklären, wie unsere Erde - und auch die Klimawissenschaft - funktioniert. Am Ende weiß man, welche Kipppunkte einem tatsächlich Sorge bereiten sollten und welche weniger. Nicht zuletzt zeigt das Buch positive Kipppunkte in Technologie und Gesellschaft auf. Diese könnten exponentielles Wachstum beim Klimaschutz ermöglichen und uns noch davor bewahren, in ein chaotisches Klima abzustürzen. Ein dramatisches Wettrennen gegen die Zeit.
Inhalt
Prolog
Neue Welt
"Stellen Sie sich eine große, komplexe Maschine vor, in der unzählige Zahnräder und andere mechanische Teile fein austariert ineinandergreifen. Über Hebel wird die Maschine gesteuert. Nun ziehen Sie an einem davon, ganz langsam, gleichmäßig. Eines der Zahnräder wandert auf seiner Welle, ebenfalls langsam, gleichmäßig. Sonst passiert nichts. Irgendwann aber ist es so weit verschoben, dass ein anderes Zahnrad in Reichweite gerät. Sie greifen ineinander, das Getriebe knirscht, ruckelt – und ändert plötzlich die Drehrichtung. Genauso abrupt könnte sich auch unser Erdsystem umstellen. Es beginnt mit dem Eis: Von den Ozeanen rund um die Pole wird die weiße Decke gezogen; die Böden in den nördlichsten Breiten tauen auf, und in den Gebirgen kriechen die Gletscher in die Höhe zurück, wie ein scheues Tier. Überall knackt und knistert es, es tropft und rauscht. Die Erde taut. Dann kommt der Knall.
Der Reihe nach zerplatzen die Schelfeise der Antarktischen Halbinsel, dann jene der Westantarktis. Aufs Meer hinausragende Eisplatten von der Größe ganzer Länder, die jahrtausendelang am Festlandeis gehaftet haben, brechen ab, zersplittern, und eine Armada an Eisbergen treibt in den Südozean hinaus. Warmes Wasser dringt nun unter den entblößten Eisschild und höhlt ihn unaufhörlich aus.
Derweil, am anderen Ende der Welt, schrumpft der Grönländische Eispanzer
, und seine höchsten Lagen geraten in immer tiefere und wärmere Luftschichten, woraufhin er noch schneller schmilzt und ab einem gewissen Punkt unumkehrbar zerfließt. Bis der ganze Eisschild verschwunden ist, wird es Jahrhunderte oder Jahrtausende dauern, aber schon viel früher verändert sein Schmelzwasser etwas Entscheidendes im Ozean, nämlich die chemische Zusammensetzung. /
Im Nordatlantik richtet sich daraufhin eine mächtige Meeresströmung neu aus, die über Jahrtausende Wärme nach Europa befördert hat. Wie ein am Boden liegender Gartenschlauch, der bei zu starkem Wasserdruck sich schlängelnd verschiebt und anderswo zum Liegen kommt.
Und das hat einen paradoxen Effekt: Während der Großteil der Welt unter Hitze leidet, erleben Teile Europas einen Kälterückfall. Die Luft kühlt ab, um mehrere Grad. Im Winter ziehen Stürme auf, wie sie die Menschen seit Beginn der Zivilisationen nicht erlebt haben. Das arktische Meereis breitet sich wieder aus und berührt im Winter die Nordküste Schottlands und Norwegens; bisweilen gar die deutsche Nordseeküste. Es schneit wieder mehr.
Gleichzeitig erlebt die Südhalbkugel einen zusätzlichen Hitzeschub, schließlich hat die Erderwärmung ja nicht aufgehört – nur verteilt sich die Energie auf dem Planeten um und staut sich nun in der südlichen Hemisphäre. [...] (S.7/8)[3]
Einleitung: ein unverantwortbares Risiko
[...] Das erste Mal tauchte der Begriff Kipppunkt 1871 in einem Buch des britischen Autors James Burnley auf. Darin beschrieb er, wie in einer Gießerei in der Grafschaft Yorkshire in Nord England, ein Eisenbahnwagen, gefüllt, mit 'erstklassiger Kohle' zum Entladen zum Kippen gebracht wurde. Heute sind die Kipppunkte in aller Munde – aber nicht, um die Anfänge des Industriezeitalter zu beschreiben, sondern dessen letzte Konsequenz. (S.9)
Teil I: Die Entdeckung der Kippunkte (S.17 ff.)
Kapitel 1: Die Urkatastrophe (S.19)
[...] Vor 11.650 Jahren endete Jüngere Dryas
so plötzlich, wie sie gekommen war. In der Tongrube in Allerød konnten Hartz und Milthers diesen Schlusspunkt im Profil der Sedimentschichten an der Trennlinie zwischen der jüngeren Tonschicht und der vermoderten Torfschicht an der Oberfläche erkennen, die mit Überresten von Buchen- und Eichenstämmen durchsetzt war – ein Hinweis auf das Einsetzen der noch heute andauernden Warmzeit des Holozäns
, der Blütezeit der Menschheit.
Es wurde damals wieder feuchter und wärmer, Birken und Kiefern breiteten sich in Nordeuropa aus, und die Rentierherden zogen sich endgültig in den Norden zurück. Die Menschen mussten sich abermals an die kleinräumigere Lebensweise in Wäldern gewöhnen – oder weit nach Norden ausweichen, wo es nach wie vor eine offene Tundra gab.
Auch in der Region des Fruchtbaren Halbmonds
kehrten die Wälder zurück, die Wüste schrumpfte. Mehr Siedlungen entstanden, sie wuchsen zu Städten, und die Menschen blieben dort, manchmal für Tausende von Jahren oder sogar bis heute, wie in Jericho.
Wie schnell die Menschheit tatsächlich in die heutige Warmzeit befördert wurde, wie schnell also die die Jüngere Dryaszeit nicht nur begonnen, sondern auch geendet hatte, sollte sich erst viele Jahrzehnte später klären: Anfang der 1990er-Jahre. An einem der kältesten Orte der Welt. (S.30)
Kapitel 2 : Das Geheimnis im Eis (S.31)
Vor 14.500 Jahren wurde die Zirkulation des im Ozean gelösten Sauerstoffs unterbrochen. (S.49)
Im periodischen Abschnitten kam der Laurentidische Eisschild
ins Rutschen. "Daraufhin brachen unzählige Eisberge ab, und diese trieben hinaus in den Nordatlantik Richtung Europa. Als sie im Atlantik abschmolzen, sanken nicht nur die Felsfragmente, die unten an den Eisbergen klebten, zum Meeresgrund, sondern es mischte sich auch jede Menge Süßwasser in den salzigen Ozean. Genug, um das Wärmeförderband
für 750 Jahre komplett zu unterbrechen. Und für eine Abkühlung auf der gesamten Nordhalbkugel zu sorgen." (S.50)
Teil II: Negative Kipppunkte im Klimasystem (S.78ff.)
Eis
Kapitel 5: Arktisches Meereis, Gletscher, Permafrost: Die Erde taut auf (S.83)
[...] "Schon 2027 könnte das Gebiet rings um den Nordpol erstmals einen ganzen Tag lang eisfrei sein [...] Ob es tatsächlich schon 2027 soweit sein wird, weiß niemand; vielleicht passiert es auch erst im Jahr 2030, vielleicht 2040."(S.83)
"Auch die meisten Gebirgsgletscher in Europa werden bis Ende des Jahrhundert verschwunden sein" (S.85) "Die tickende Zeitbombe im Permafrost
: nicht der eine große Kipppunkt - sondern viele kleine (S.88)
Kapitel 6: Der Westantarktische Eisschild: Auf Talfahrt.(S.93)
Wikipedia
: "Entwässert wird Westantarktika vorrangig über Eisströme wie zum Beispiel Rutford
-, Bindschadler-
, Möller
- und Whillans-Eisstrom
in die großen Schelfeise. In die Amundsen-See strömen die Eismassen folgender Gletscher: Pine-Island-Gletscher, Thwaites-Gletscher, Haynes-Gletscher, Pope-Gletscher, Smith-Gletscher und Kohler-Gletscher. Besonders der Pine-Island- und der Thwaites-Gletscher werden in den letzten Jahren intensiv wissenschaftlich beobachtet, da ihre Fließgeschwindigkeit deutlich zugenommen hat und auch die Grundlinie [...], an der Meereswasser, Eis und Gesteinssockel zusammenstoßen, sich mit zunehmender Geschwindigkeit ins Landesinnere verlagert. Da der Großteil der Westantarktis eigentlich ein Meeresbecken ist, ist der Westantarktische Eisschild
inhärent instabil.[...]"
Kapitel 7: Der Grönländische Eisschild: Ein Riese wankt (S.113)
Wikipedia: Grönländischer Eisschild
Wasser
Kapitel 8: Die Atlantische Umweltzirkulation: Die schlafende Bestie (S.127)
Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC vereinfacht: Golfstrom
): dazu der Film: The Day After Tomorrow
(2004) " 'Weil wir aber Filme für ein paar Hundert Millionen Zuschauer machen, gelten die Gesetze von Hollywood.' " (S.129)
"Darauf abgebildet war der projizierte Punkt für ein Szenario mit mittleren Klimaschutz, in dem sich die Erde bis Ende des 21. Jahrhunderts um rund 2,7° erwärmen würde. Je nach Modellsimulation lag der Zeitpunkt für ein Kippen der AMOC zwischen den Jahren 2040 und 2090. 'Als ich das sah, war ich wirklich beunruhigt', erzählt van Westen. 'Es könnte schon innerhalb der nächsten 25 Jahre passieren!' (S.136) [...] 'Es gibt nun drei Studien mit verschiedenen Ansätzen und eigenen Schwächen, die aber alle darauf hindeuten, dass der Kipppunkt in diesem Jahrhundert erreicht werden könnte', sagt der Klimaforscher." (S.137).
Kapitel 9: Der Subpolarwirbel: Die Achillessehne im Nordatlantik (S.151)
Nordatlantischer Subpolarwirbel
" 'Es kann innerhalb von zehn Jahren passieren.' " (Didier Swingedouw, Ozeanograf)
Luft
Kapitel 10: Der Jetstream: Die Wettermaschine (S.159)
Kapitel 11: Der westafrikanische Monsun: Der Regen kehrt zurück (S.171)
Westafrikanisches Monsunsystem
Natur
Kapitel 12: Tropische Korallenriffe: Das verblassende Weltwunder (S.183)
Kapitel 13: Amazonas Regenwald: Wenn die lebende Wasserpumpe versiegt (S.191)
Kapitel 14: Boreale Nadelwälder: Das CO2-Lager im hohen Norden (S.203)
Kapitel 15: Bringt uns eine Kippkaskade auf die Venus? (S.211)
Über die Auswirkung von Rückkopplungen in diesem Jahrhundert:
"Alles zusammen genommen – also die summierten Effekte von Veränderungen in Permafrost, Wäldern und Ozeanen – könne bis Ende des Jahrhunderts zu einer zusätzlichen Erwärmung von 0,47 °C führen, so die Autoren.
Rund ein halbes Grad mehr Temperaturanstieg, also über das hinaus, was die Menschheit direkt verursacht. Natürlich jedes Zehntelgrad hat wichtige Auswirkungen und kann das eine Zehntelgrad zu viel sein, das ein Element im Erdsystem zum Kippen bringt. Ja, ein halbes Grad mehr würde uns im Kampf gegen den Klimawandel gehörig zurückwerfen. Aber ein unaufhaltsames Abgleiten in eine 'Heißzeit'
? Eine Erde, die in eine Abwärtsspirale gerät und in einem kochend heißen Klima endet wie auf der Venus? Ist das nicht eher ein Versuch, Aufmerksamkeit zu erhaschen?
Zur Frage, ob das gesamte Klimasystem kippen kann, muss man mehrere Dinge sortieren: vor allem Temperaturen und Zeitskalen
Nun gilt das halbe Grad in der Studie nur für ein Zeitraum bis Ende des Jahrhunderts und auch nur für die Annahme, das es der Menschheit bis dahin gelingt, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Im Moment steuern wir – gemessen an den aktuellen Klimabeschlüssen der Regierungen der Welt – auf rund 2,7 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 zu. Und danach könnte es sogar noch / weiter nach oben gehen. Setzt das dann, zusammen mit den zusätzlichen Treibhausgasen, die aufgrund der Rückkopplungen diverser Kippelemente freigesetzt werden, eine Kettenreaktion in Gang, an deren Ende wir uns in einer Treibhauswelt wiederfinden?
Genau davon war der Erdwissenschaftler, Seaver Wang in seiner Jugend überzeugt.'Ich habe nie daran gezweifelt, dass ein Wendepunkt existiert, über den der Planet eine Klippe hinabrutschen würde', schreibt er in einem Blogbeitrag des US-amerikanischen Breakthrough Institute, für das er arbeitet. 'Dass die Erde einen Klima-Kipppunkt überqueren und in einen sich selbst verstärkenden Wahnsinn hinabfallen würde – doch ich lag komplett falsch.'
Um die Frage zu beantworten, ob das Klimasystem als Ganzes abgleiten kann, muss man einige Dinge sortieren: Temperaturschwellen, Zeitskalen und Wirkungsketten. Denn die Kippprozesse unterschiedlicher Teile des Erdsystems drohen bei deutlich unterschiedlicher Erwärmung und laufen in sehr unterschiedlichem Tempo ab, wie in den vorherigen Kapiteln dieses Buches beschrieben.
Zuerst die Temperatur: Zu den Kippelementen, deren kritische Temperaturschwelle wohl bereits sehr nahe liegt, zählen die tropischen Korallenriffe, die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis sowie der Amazonas-Regenwald. Der Mensch hat das Klima im langjährigen Mittel inzwischen bereits um rund 1,3 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau aufgeheizt und müsste sich gewaltig anstrengen, um zumindest noch unter zwei Grad Celsius zu bleiben. Für die vier genannten Elemente jedoch schätzen einige Studien den Kipppunkt auf Temperaturspannen, die bereits in diesem Bereich liegen oder deren unteres Ende schon überschritten wurde. Auch der Subpolarwirbel und vielleicht sogar die atlantische Umweltzirkulation könnten schon bei einer Erwärmung von rund zwei Grad Celsius kippen, wobei hier die Ungewissheiten größer sind.
Für andere Elemente im Erdsystem entgegen erwarten Klimaforscher einen möglichen Kipppunkt erst bei sehr viel höheren Temperaturen, etwa für das winterliche Meereis der Arktis oder den / Ostantarktischen Eisschild (die deshalb in diesem Buch keine Kapitel bekommen haben).
Nun zu den Zeitskalen: Wie lange es dauert, bis sich nach dem Überschreiten eines Punktes die Folgen entfalten – auch darin unterscheiden sich die verschiedenen Elemente im Erd- und Klimasystem stark. Im Falle der tropischen Korallenriffe würde alles sehr schnell gehen – sie könnten innerhalb nur eines Jahrzehnts großräumig verloren gehen; auch für den Subpolarwirbel wird ein ähnlich kurzer Zeitraum genannt. Beim Amazonas-Regenwald und dem borealen Nadelwäldern könnte es einige Jahrzehnte dauern. Für die gesamte AMOC schätzt die Forschung den Kippzeitraum auf fünfzig bis einige Hundert Jahre. Die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis schließlich drohen zwar als Erste ihre Kipppunkte zu überschreiten (oder haben das vielleicht sogar schon getan), doch ihre vollständige Auflösung würde sich dann unglaublich lange hinziehen, also über Jahrhunderte oder Jahrtausende.
Wichtig ist schließlich auch, welche Teile des Erdsystems tatsächlich einen großen Einfluss aufs Klima haben, wenn sie denn kippen sollten. Also welche Elemente andere mitreißen könnten. Die tropischen Korallenriffe oder die Gebirgsgletscher können dies jedenfalls nicht, auch weil ihr Kollaps keine oder nur wenige zusätzliche Treibhausgase verursacht. Dies darf aber nicht als Verharmlosung missverstanden werden: Für Natur und Menschheit hätte ein Verlust dramatische Konsequenzen – an dieser Stelle jedoch geht es allein um die Folgen für das Klimasystem.
Für etliche andere Kippelemente jedoch sieht das komplett anders aus. Sie würden teils ganz erheblich den Treibhauseffekt ankurbeln, wenn sie einmal über ihre kritische Schwelle hinaus sind, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. [...]" (S.212/13)
Positive Kipppunkte beim Klimaschutz
Kapitel 16: Erneuerbare Energien: Das Solarwunder (S.225)
[...] Sharp, Solartaschenrechner und Dachanlagen - wie Japan die Photovoltaik zur Großtechnologie machte (S.231)
"Am 1. April 2000 trat das deutsche EEG
in Kraft, und die Photovoltaik hob ab. [...] Als das EEG in Kraft trat, waren bundesweit PV-Module mit einer Leistung von zusammen rund 100 Megawatt am Netz, – nach knapp vier Jahren wurde bereits die Schwelle von 1000 Megawatt geknackt, also einem Gigawatt installierter Leistung. Nur fünf Jahre später war mit zehn Gigawatt eine weitere Verzehnfachung erreicht.
Was sich in den vorigen vorherigen Jahrzehnten schon in den USA und in Japan gezeigt hatte, wirkte nun in viel größeren Dimensionen – ein / Mechanismus, der in der Innovationsforschung [...] Erstmals beschrieben 1936 [...] dass die Kosten für die Herstellung vieler technischer Geräte sinken, wenn größere Stückzahlen produziert werden, weil die Hersteller dazulernen und die Prozesse effizienter werden. Verbilligt sich ein Produkt, steigt die Nachfrage. Steigt die Nachfrage, wird mehr davon produziert. Wird mehr produziert, sinkt der Preis und so weiter – ein sich selbst beschleunigender Prozess.
Spätere Forschung zeigte, dass diese Lernkurve im Laufe der Weiterentwicklung einer Technologie oft konstant bleibt – sich also Kostensenkungen über Jahrzehnte fortsetzen. Bei der Photovoltaik strebt die Preiskurve seit inzwischen fünf Jahrzehnten stabil nach unten: Mit jeder Verdopplung der installierten Kapazität sanken die Preise der Zellen um rund ein Fünftel.
Dank dieser sich selbst verstärkenden Spirale – angestoßen vom EEG – ergaben sich bis heute so starke Kostensenkungen, dass die Photovoltaik inzwischen billiger ist als fossile Energien." (S.237/38)
Kapitel 17: Elektromobilität: Die E-Auto-Revolution (S.265)
[...] Sind zehn bis zwanzig Prozent Marktanteil erreicht, so ein Klassiker der Innovationsforschung, wird die Ausbreitung unaufhaltbar. (S. 274)
Leider hat sich diese Entwicklung im Bereich des Verkehrs nur in Norwegen so eingestellt, auch wenn es im riesigen Markt China schon Ansätze dazu gibt.
Dazu Tim Lenton
: " 'Es ist überlebenswichtig, aus der Klimauntergangsstimmung herauszukommen. Sie ist entmutigend und lähmend.' Man solle sich stattdessen bewusst machen, dass 'wir mit dem wunderschönen komplexen System der Erde, aber auch unsere Gesellschaften und der Wirtschaft zusammenarbeiten können, um den Wandel zu beschleunigen, den wir dringend brauchen, um das Schlimmste der Klima- und Umweltkrise zu verhindern.' Ihm sei klar, dass der Klimaschutz 'extrem dringend' beschleunigt werden müsse. 'Aber ich weiß auch, dass es möglich ist – und das gibt mir, wie ich es nenne, plausiblen Grund zu Hoffnung.' " (S.302).
Kapitel 18: Ernährung: Die zähe Fleischwende (S.305)
[...] Das ist die große Frage: Gibt es Kipppunkte auch bei gesellschaftlichen Entwicklungen? Und kann man sie bewusst ansteuern? (S.311)
"In sozialen Systemen nämlich sind die methodischen Schwierigkeiten beim Forschen ungleich größer als in der Natur. Bei einem See, zum Beispiel, der überdüngt ist und durch Algenwachstum irgendwann umkippt, kann man Nährstoffwerte und Temperatur messen, man kann Sensoren platzieren, Proben nehmen. Aber in einer Gesellschaft? Woher weiß man, welche Parameter man dort messen soll? [...] Und was ist mit der so genannten Repliziertbarkeit, also der Wiederholbarkeit, einem in den Naturwissenschaften essenziellen Prinzip? [...] Verhält sich wenigstens ein und dieselbe Gesellschaft in identischen Situationen ähnlich? Niemand weiß es. Auch weil es in einer Gesellschaft zu viele Variablen gibt und der Mensch in gewissen Maße frei und unberechenbar ist in dem, was er tut. Von agency spricht dir die Forschung, zu Deutsch etwa 'Handlungsmacht'. [...] 'Wir wissen, dass bei Menschen alles komplexer ist', sagt Donges, 'aber zu bestimmten Aspekten sind Vorhersagen möglich.' Wie Gruppen (re)agieren oder ganze Gesellschaften, gilt in der Forschung sogar als einfacher prognostizierbar als das Verhalten einzelner Personen. Steigt beispielsweise in einem Land das Durchschnittseinkommen, nimmt meist auch der Fleischkonsum zu; ab einem bestimmten Wohlstandsniveau aber sinkt er oft auch wieder. Das ist klarer als eine Antwort auf die Frage, wann und warum ein einzelner Mensch weniger Fleisch isst. / Seine Forschungsgruppe untersucht zum Beispiel die Ausbreitung umweltschonender Formen von Landwirtschaft. Wann entscheidet sich ein Bauer für den Umstieg auf ökologischen Anbau? Wovon hängt ab, ob er langfristig dabei bleibt? Dazu führen sie Interviews, erheben Daten. [...] Ihre Erkenntnisse und die vieler anderer Forschenden bauen Donges und sein Team in ein Computermodell, dass die weltweite Agrarfläche in 60.000 Mosaiksteinchen zerlegt. Für jedes werden die Folgen unterschiedlichen Wirtschaftens etwa auf Bodenqualität und Ernten simuliert, wie dies benachbarte Akteure beeinflusst, und so weiter. Ihre Software kombiniert das so genannte agent-ased modelling, also das Verhalten der menschlichen Verhalten menschlicher Akteure, mit naturwissenschaftlichem Modellen, über Klima und Landwirtschaft sowie ökonomischen Modellen. Die über allem schwebende Frage ist natürlich, ob und mit welchen Mitteln, mit welchen politischen und sonstigen Maßnahmen und Anreizen man Bauern zum Umstieg motivieren, ihnen einen entscheidenden, Stups geben und vielleicht im ganzen System einen Kipppunkt überschreiten kann.(S.313/14).
Ausblick: Am Kipppunkt (S.353ff.)
So verletzlich die Erde und das Klimasystem auch sein mögen – Gesellschaften sind noch viel anfälliger. Eine zunehmend instabile Erde könne 'negative soziale Kippprozesse' in Gang bringen, warnte 2024 ein Autorenteam um die Nachhaltigkeitsforscherin Victoria Spaiser von der University of Leeds in einer Studie. Sie zeigte auf, wie Klimaschocks auf Gesellschaften wirken können: Naturkatastrophen und Wetterextreme können zu Zwar zu Solidaritätswellen führen, aber wenn sie immer häufiger und schwerer werden, ist eine ebenso mögliche Folge die so genannte Anomie. Damit ist ein Zustand gemeint, indem ein soziales System seine ordnenden Normen verliert, Verrohung und Gewalt um sich greifen. Die Studie macht das an Beispielen konkret: Dürren führen zu Ernteeinbrüchen und einem Mangel an Lebensmitteln. Wiederholte Flut – und Sturmkatastrophen richten so hohe Schäden an, dass Finanzkrisen Folgen. Konflikte, politische Radikalisierung und soziale. Das Ergebnis wäre, dass Gesellschaften noch weniger zu Klimaschutz fähig wären, was wiederum den Klimawandel weiter anheizte. Schon um eine negative gesellschaftliche Absatzspirale zu verhindern, muss also Klimaschutz verstärkt, das Überschreiten von Kipppunkten unbedingt verhindert werden. Um das schaffen zu können, ist auch entscheidend, wie man über das Thema spricht. Unausweichliche Gefahren an die Wand zu malen, kann – das hat die Sozialpsychologie vielfach belegt – Abwehr und Resignation provozieren. Es verleitet dazu, scheinbar einfache Lösungen zu wählen, sich in Zynismus zurückzuziehen oder in Hedonismus: Genießen wir die Party, solange es noch geht. Und in der Tat verleitet der Begriff des Kipppunktes zu Missverständnissen: man könnte meinen, davor sei alles in Ordnung, aber dahinter warte die Apokalypse. Beides ist, wie gesagt, grundverkehrt: bereits unterhalb der kritischen Temperaturschwellen für / diverse Kippelemente hat der Klimawandel so dramatische Konsequenzen, dass er dringend gebremst werden müsste. Werden erste Punkte überschritten, dann bedeutet das zweifellos viel Leid und Wirren, und ja, viele Menschen werden sterben. Aber komplett ausradiert wird die Menschheit sicher nicht. Kipppunkte erhöhen die Risiken durch den Klimawandel noch einmal drastisch. Und inzwischen sind wir einigen von ihnen so nah, dass der Ausstoß an Treibhausgasen so schnell sinken müsste, wie es mit der derzeitigen Klimapolitik, einer eher gemächlichen Umstellung der Wirtschaft, Nicht mehr zu schaffen ist. Die einzig realistische Chance sei ein Exponentielles Wachstum beim Klimaschutz, heißt es im Global Tipping Points Report, und ein solches könne nur über das Ansteuern positiver Punkte noch gelingen.
Aber diese ereignen sich nicht von allein. Wir müssen sie schon aktiv anstoßen."(S.360/61)
Einzelnachweise
- ↑ https://www.kiwi-verlag.de/buch/toralf-staud-benjamin-von-brackel-am-kipppunkt-9783462007909
- ↑ https://www.kiwi-verlag.de/buch/toralf-staud-benjamin-von-brackel-am-kipppunkt-9783462007909
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