Tagelied

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Basiswissen

„Kaum ein literarisches Genre ist weltweit so verbreitet wie das Tagelied. Man kennt Beispiele aus dem Chinesischen und dem Persischen, dem Arabischen und dem Hebräischen, dem Indonesischen und dem Ketchua sowie aus allen europäischen Literaturen.“
Christian Kiening: „Poetik des Dritten“. In: Ders.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt am Main 2003. S. 157

Im Deutschen bezeichnet der Begriff Tagelied eine Untergattung des mittelhochdeutschen Minnesangs und gründet auf den mittelhochdeutschen Gattungsbezeichnungen tageliet oder tagewîse. Es beschreibt eine Grundsituation menschlicher Existenz: Den Abschied zweier Liebender nach einer heimlich verbrachten gemeinsamen Nacht aus Furcht, entdeckt zu werden. Inhaltliche Kennzeichen des mittelalterlichen Tagelieds sind, neben der frühmorgendlichen Abschiedssituation, relativ starre Vorgaben hinsichtlich der Figuren, des Orts und der Stimmung:

  1. Figuren: Die Liebenden weckt bei Tagesanbruch ein Wächter, der sie zur Trennung aufruft.
  2. Ort: nichtöffentlicher Raum (Schlafgemach der Dame oder Versteck).
  3. Stimmung: Trauer, Klage, Trennungsschmerz.

Die formale Struktur des mittelalterlichen Tagelieds folgt strengen, nach französisch-provencalischen Vorbildern ausgerichteten Regeln. Seine Poetik spiegelt die streng geordnete, hierarchische Gesellschaft des Mittelalters, die auf Traditionen gründet.

Beispiele

Als erstes überliefertes Tagelied gilt dieses von Dietmar von Aist (12. Jh):

»Slâfest du, friedel ziere?
man weckt uns leider schiere:
ein vogellîn sô wol getân
daz ist der linden an daz zwî gegân.«

»Ich was vil sanfte entslâfen:
nu rüefstu kint Wâfen.
liep âne leit mac niht gesîn.
swaz du gebiutst, daz leiste ich, friundin mîn.«

Diu frouwe begunde weinen.
»di rîtst und lâst mich eine.
wenne wilt du wider her zuo mir?
owê du füerst mîn fröide sament dir!« 

»Es dämmert an der Halde,
man weckt uns, Liebster, balde.
Ein Vöglein aus dem Neste schwang
sich auf der Linde Zweig empor und sang.«
»Noch lag ich sanft im Schlummer,
da weckte mich dein Kummer.
Lieb ohne Leid kann ja nicht sein.
Was du gebietest, tu ich, Liebste mein.«
Sie ließ die Tränen rinnen:
»Du reitest doch von hinnen.
Wann kommst du wieder her zu mir?
Ach, meine Freude nimmst du fort mit dir.«


www.minnesang.de

Literaturhinweise

R. Krohn/W. Wunderlich: ’Die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt…’, Unterrichtsvorschläge zum ‚Tagelied’ in der Sekundarstufe II.“ In: Der Deutschunterricht 36 (1984), S.95-108

Siehe auch