Genie

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Das Genie: Was sagen die Lexika?

Genie

Begriff der literaturtheoretischen Diskussion des 18. Jh.s zur Bezeichnung des mit überragendem schöpferischem Vermögen begabten Dichters oder Künstlers. Er ist eng mit der Periode des Sturm und Drang verbunden, die man früher auch Geniezeit nannte, und richtete sich gegen die Vorstellungen der klassizistischen Regelpoetik und ihren engen Begriff der Naturnachahmung (Mimesis); die neuen Grundbegriffe der Poetik sind Erfindung, Originalität und Natur. (...) Autoren des Sturm und Drang wie Goethe... nahmen diese Gedanken auf .... Das G. erschien ihnen als exemplarische Verwirklichung des allein aus sich schaffenden autonomen Individuums, das kraft seiner Autonomie von vornherein aller Beschränkungen durch konventionelle poetologische Regeln und Normen enthoben war.

Volker Meid: Sachwörterbuch der deutschen Literatur, Reclam Stuttgart, CD-ROM-Ausgabe 2000, S. 415

Genie (franz.), bezeichnet sowohl den höchsten Grad von schöpferischer Begabung, die wirksam ist als originale Kraft der Auffassung (Intuition), der Kombination (Phantasie), der schöperischen Gestaltung und Darstellung, als auch den mit dieser Begabung Begnadeten. In der deutschen Dichtung und Philosophie des 18. Jh bis hin zur Romantik ist das G. der überragende Ausnahmemensch. Kant nennt den genialen Menschen einen „Günstling der Natur“, G. die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur nicht der Wissenschaft, sondern der (schönen) Kunst die Regel vorschreibt. (...)

Zu neuerer Zeit wurde bisweilen der Versuch unternommen, G. mit Irrsinn in Beziehung zu setzen (...), schon Platon spricht vom „göttlichen Wahnsinn“ der Dichter. Tatsächlich verfielen zahlreiche geniale Menschen dem Wahnsinn und wirklich hat der das G. zeitweilig überfallende Schaffensdrang Ähnlichkeit mit bestimmten originellen und gedanklich hochproduktiven Phasen aus den leichteren psychopathologischen Randgebieten (... Vorstadien der Schizophrenie).

Philosophisches Wörterbuch, Kröner, Stuttgart 1991, S. 240/1

Überlege und nenne

Namen von Männern und Frauen, die nach diesen Definitionen als Genie bezeichnet werden können.

Begründe deine Wahl.

Was sagt Immanuel Kant?

Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.

Was es auch mit dieser Definition für eine Bewandtnis habe, und ob sie bloß willkürlich, oder dem Begriffe, welchen man mit dem Worte Genie zu verbinden gewohnt ist, angemessen sei, oder nicht (welches in dem folgenden § erörtert werden soll): so kann man doch schon zum voraus beweisen, daß, nach der hier angenommenen Bedeutung des Worts, schöne Künste notwendig als Künste des Genies betrachtet werden müssen.

Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgendeiner Regel abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe, mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zustande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.

"Man sieht hieraus, daß Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2) Daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen. 3) Daß es, wie es sein Produkt zustande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel gebe; und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen (...). (Daher denn auch vermutlich das Wort Genie von genius, dem eigentümlichen einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen, schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Ideen herrührten, abgeleitet ist.) ...

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790): §46 Schöne Kunst ist Kunst des Genies

Wenn wir nach diesen Zergliederungen auf die (...) Erklärung dessen, was man Genie nennt, zurücksehen, so finden wir: erstlich, daß es ein Talent zur Kunst sei, nicht zur Wissenschaft, in welcher deutlich gekannte Regeln vorangehen und das Verfahren in derselben bestimmen müssen; zweitens, daß es, als Kunsttalent, einen bestimmten Begriff von dem Produkte, als Zweck, mithin Verstand, aber auch eine (wenn gleich unbestimmte) Vorstellung von dem Stoff, d. i. der Anschauung, zur Darstellung dieses Begriffs, mithin ein Verhältnis der Einbildungskraft zum Verstande voraussetze; daß es sich drittens nicht sowohl in der Ausführung des vorgesetzten Zwecks in Darstellung eines bestimmten Begriffs, als vielmehr im Vortrage, oder dem Ausdrucke ästhetischer Ideen, welche zu jener Absicht reichen Stoff enthalten, zeige, mithin die Einbildungskraft, in ihrer Freiheit von aller Anleitung der Regeln, dennoch als zweckmäßig zur Darstellung des gegebenen Begriffs vorstellig mache; daß endlich viertens die ungesuchte unabsichtliche subjektive Zweckmäßigkeit in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit des Verstandes eine solche Proportion und Stimmung dieser Vermögen voraussetze, als keine Befolgung von Regeln, es sei der Wissenschaft oder mechanischen Nachahmung, bewirken, sondern bloß die Natur des Subjekts hervorbringen kann.

Nach diesen Voraussetzungen ist Genie: die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen. Auf solche Weise ist das Produkt eines Genies (nach demjenigen, was in demselben dem Genie, nicht der möglichen Erlernung oder der Schule, zuzuschreiben ist) ein Beispiel nicht der Nachahmung (denn da würde das, was daran Genie ist und den Geist des Werks ausmacht, verlorengehen), sondern der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt, wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt. Weil aber das Genie ein Günstling der Natur ist, dergleichen man nur als seltene Erscheinung anzusehen hat; so bringt sein Beispiel für andere gute Köpfe eine Schule hervor, d. i. eine methodische Unterweisung nach Regeln, soweit man sie aus jenen Geistesprodukten und ihrer Eigentümlichkeit hat ziehen können: und für diese ist die schöne Kunst sofern Nachahmung, der die Natur durch ein Genie die Regel gab.

ebd., §49 Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen

Arbeite
Lies Kants Ausführungen durch, notiere die wesentlichen Merkmale des Genies und fasse dies in einem 100-Wörter-Text zusammen.

Der Stürmer und Dränger als Genie

Goethes Shakespeare

Werther

Faust


Der romantische Künstler als Genie

In diesem Textauszug aus dem Goethezeitportal.de werden fünf Merkmale künstlerischer Genialität genannt:

"Mit Herder und Kant teilt Wackenroder (*) die Vorstellung vom Genie als angeborene Gemütsgrundlage und von Gott erhaltenen Gabe: der Genius des Künstlers liegt in der Seele versteckt und verborgen, die Kunstbegeisterung kommt aus dem innersten der Seele. Synonym zum Begriff Geist verwendet er den Begriff Genius. Er differenziert zwischen dem forschenden Geist der Wissenschaften und dem bildenden Geist der Kunst; daran ist zu erkennen, dass Geist sowohl im Gefühl als auch in der Kunst zu finden ist. Als besonderen Merkmal seiner Künstlergenies, wie Raffael oder Dürer, führt Wackenroder wiederholt Enthusiasmus und Inspiration an. Das Genie zeichnet sich durch folgende … Begriffe aus: Empfindung, Gefühl, Herz, Gemüt, Seele und Geist."
(Quelle: www.goethezeitportal.de)

* gemeint ist Heinrich Wilhelm Wackenroder (1773 - 98), der bereits mit 22 Jahren Aufsätze über Kunst, Malerei und Musik verfasste. Die »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« werden zu einer Programmschrift der romantischen Kunstreligion.

Das Genie heute

In einem Artikel aus Der ZEIT wird dem romantischen Genie-Begriff widersprochen und eine etwas andere Merkmalsliste erstellt:"Genial!! Große Geister fallen nicht vom Himmel. Sieben Zutaten sind nötig, um Weltveränderer zu werden." - von Andreas Sentker in DIE ZEIT 14. Oktober 2011

"Für die heutige Wissenschaft, für Hirnforscher und Psychologen, Historiker und Soziologen ist das geborene Genie nur noch romantische Verklärung. Ihre Studien zeigen: Menschen, die wir als genial betrachten, haben manches mitgebracht, als sie zur Welt kamen. Intelligenz etwa, oder Temperament. Vieles andere mussten sie sich erkämpfen.
Die Analyse gibt Aufschluss darüber, welche Faktoren Menschen zu Genies werden ließen. Bildung, Kreativität, Inspiration, Intuition, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit und Glück sind sieben wesentliche Zutaten für jene, die sich anschicken, die Welt zu verändern – und sie sind alsamt eher irdischer Natur."
Der vollständige Artikel im Internet: Genie-Kult (Die ZEIT)

Vergleiche und entscheide

Empfindung und Gefühl oder Bildung und Beharrlichkeit?

  1. Worin ähneln sich die beiden oben aufgeführten Merkmalslisten?
  2. Was sind die hauptsächlichen Unterschiede?
  3. Halte deine Position in einigen Sätzen fest?
P.S.: Es lohnt sich, den ganzen ZEIT-Artikel zu lesen, weil darin auch einige aktuelle Namen genannt werden.