Statist auf diplomatischer Bühne: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 4. Dezember 2008, 20:38 Uhr

Überblick und Wertung

Als Chefdolmetscher im deutschen Auswärtigen Amt in Weimarer Republik und NS-Zeit hat Paul SchmidtWikipedia-logo.png viele europäische Außenpolitiker aus nächster Nähe kennen gelernt, und nicht nur die.

Auffallend ist, wie deutlich dabei seine Vorliebe Aristide Briand und Stresemann gilt, den beiden Politikern, die gegen heftige innenpolitische Widerstände die außenpolitische Annäherung Deutschlands und Frankreichs voranbrachten und gegen Ende ihres Lebens (Stresemann starb 1929, Briand 1932) schon absehen konnten, dass trotz aller ihrer Mühen doch wieder eine Entfremdung zwischen den Ländern auftrat. Doch wurde ihnen erspart, mitzuerleben, wie ihr Lebenswerk von den Nazis zunichte gemacht wurde.

Dem Anspruch, das Bild, was die bloße Aktenlage hergibt, ganz wesentlich zu ergänzen und damit zu korrigieren, wird Schmidt voll gerecht. Stimmungen, die Offenheit der Situation, dies alles weiß er besser zu schildern, als ein Historiker es aufgrund intensivster Studien tun könnte. Dass sein Urteil abgewogen oder objektiv, gar historisch richtig wäre, braucht man nicht zu erwarten, obwohl Schmidt - das Buch wurde 1949 veröffentlicht, 2005 neu aufgelegt - mit erstaunlich weitem Horizont urteilt. Anders als bei anderer Memoirenliteratur braucht Schmidt nicht nachträglich seine Entscheidungen zu rechtfertigen, so entsteht ein atmosphärisch dichtes Bild, wie es ohne diese Lektüre nicht zu erlangen ist.

Zum Inhalt

Die Darstellung[1] beginnt mit seinen Fronterfahrungen während des ersten Weltkrieges bei der deutschen Frühjahrsoffensive 1918 und dem Einsatz als Aushilfe als Konferenzdolmetscher vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag, den er 24-jährig schon vor dem Universitätsexamen absolviert.

Dann schildert Schmidt den Weg über die Londoner Konferenz (1924) zu Dawes-Plan und Ruhrkampf[2] bis zum Vertrag von Locarno und die Rolle, die Aristide Briand und Gustav Stresemann dabei einnahmen, wie die Genfer Abrüstungsverhandlungen im Rahmen des Völkerbundes, an denen Heinrich Brüning teilnahm, ebenso wie Ribbentrops Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes bis hin zum grotesken Einsetzen einer französischen Marionettenregierung[3] im Oktober 1944 aus nächster Nähe, immer im Bemühen, seinem Anspruch gerecht zu werden "eine lebendige Beurteilung der Geschehnisse"[4] zu liefern.

Bemerkenswert sind dabei insbesondere die Bilder, die Schmidt von Neville Chamberlain (energisch, Hitler zum Zurückweichen drängend) sowie von Franco und Pétain vermittelt, die den Bündnisangeboten Hitlers nach seinem Sieg über Frankreich widerstanden (vgl. Hitlers Enttäuschungen 1940).

Da nach seiner Überzeugung Sachkenntnis für das Dolmetschen wichtiger ist als die Sprachbeherrschung[5] und ihm aufgrund der Übersetzungstechnik (bei der grundsätzlich geschlossene Redebeiträge im Zusammenhang wiedergegeben werden) ausführliche Aufzeichnungen zu all diesen Verhandlungen vorliegen, entsteht ein atmosphärisch dichtes, aber auch recht detailliertes Bild.

Bemerkenswerte Schilderungen

Weimarer Republik

London (1924) und Locarno (1925)

Als das Wesentliche der Londoner Konferenz (1924) sieht Schmidt an: "die grunsätzliche Abkehr von der Methode des Diktats über die Besiegten" und die Tatsache, dass die Verhandlungen auf der Basis der Gleichberechtigung stattfinden.

Die Erfolge von Locarno (1925) führt er darauf zurück, dass es Stresemann und Briand gelingt, gemeinsame Abmachungen zu treffen, ohne dass während der Verhandlungsphase schon etwas davon bekannt wird. Doch schon 1926 war die Stimmung in Genf wesentlich anders. Briand war als Ministerpräsident gestürzt worden, kam dennoch, musste die Tagung unterbrechen, um ein neues Kabinett zu bilden, hatte wegen seiner innenpolitischen Schwierigkeiten aber keinerlei Spielraum auf Wünsche der Deutschen einzugehen.

Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1926)

Dennoch kann die Politik erfolgreich fortgesetzt und Deutschland in den Völkerbund aufgenommen werden. Der Vorgang des ersten Auftretens der deutschen Delegation schildert Schmidt wie folgt:

Zitat
Der Beifall hatte eine wahre Orkanstärke erreicht. Von allen Seiten wurde geklatscht und Bravo gerufen. Nur mit Mühe konnten sich die drei deutschen Delegierten durch die herandrängende Masse der Völkerbundsvertreter den Weg zu den Plätzen bahnen. Alle wollten ihnen die Hände schütteln und ihnen persönlich zu diesem großen Ereignis Glück wünschen. Inzwischen tobte das Publikum auf den Tribünen, Tücherwinken, Hüteschwenken, "bravo Stresemann", Zurufe mit fremdländischen Akzentuierungen. Eine Szene, wie sie sich im Völkerbund noch nie abgespielt hatte, und wie ich sie selbst in einem so internationalen Kreise auch nie wieder erleben sollte.
Statist..., S.116

NS-Zeit

Sudentenkrise

"Unter diesen Umständen ist es das beste, wenn ich gleich wieder abreise." (S.397) Diese Worte hat Neville Chamberlain nach der Darstellung des deutschen Chefdolmetschers Paul Schmidt am 15.9.1938 Hitler entgegengehalten, als er den Eindruck gewann, Hitler wolle auf jeden Fall gegen die Tschechoslowakei vorgehen. Daraufhin sei Hitler zurückgezuckt.

Insgesamt stellt Schmidt Chamberlain weit energischer vor, als das heutige Bild von der Appeasement-Politik ihn erscheinen lässt.

Das britische Ultimatum 1939

Schmidt berichtet, Ribbentrop habe das britische Ultimatum am 3.9.1939 nicht selbst entgegennehmen wollen, sondern dies seinem Chefdolmetscher überlassen. Als Schmit Hitler das Ultimatum übersetzt habe, habe dieser zunächst versteinert dagesessen und dann Ribbentrop wütend gefragt "Was nun?", weil dieser ihm immer angekündigt hatte, Großbritannien werde keinen Krieg wagen. Göring habe seinerseits gesagt: "Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein!" Und über Goebbels sagt Schmidt: Er "sah buchstäblich aus wie der bewußte begossene Pudel". (S.464)

Hitlers große Enttäuschungen 1940

Paul Schmidt weist in seinen Memoiren darauf hin, dass Hitler nach seinem Sieg über Frankreich vier große Enttäuschungen erlebte: Franco und Marschall Pétain ließen sich nicht dafür gewinnen, ein Bündnis gegen England einzugehen. (Franco knüpfte seine angebliche Bereitschaft an so anspruchsvolle Bedingungen - Waffen- und Getreidelieferungen (S.501) -, dass Hitler sie kaum erfüllen konnte. Ribbentrop scheiterte bei dem Versuch, dem spanischen Außenminister nachträglich durch Druck den Deutschen passendere Bedingungen aufzudrängen. (S.503)) Die dritte Enttäuschung erlebte Hitler, als Mussolini ihn mit seinem Angriff auf Griechenland vor vollendete Tatsachen stellte (so wie Hitler es zuvor immer wieder Mussolini gegenüber getan hatte). Von Gesprächen zwischen Hitler und Mussolini bekam dieser übrigens nur von Hitler persönlich gekürzte Fassungen der Protokolle Paul Schmidts, die Schmidt freilich ebenfalls zu unterzeichnen hatte. (S.481)

Die vierte Enttäuschung, das "unendlich viel folgenschwerere Fiasko" (S.515) war nach Schmidt das Ergebnis der Gespräche mit Molotow. Schmidt ist der Überzeugung, dass Hitler aufgrund des Ausgangs dieser Gespräche sich für den Angriff auf die Sowjetunion entschloss (S.525) (und sieht sich darin durch die Memoiren des ehemaligen amerikanischen Außenministers Byrnes bestätigt). Auf die vagen Angebote Hitlers forderte Molotow so konkrete Zusagen zur freien Hand in Finnland und zu freiem Zugang zur Nordsee - und viele andere - ein, dass Hitler den drohenden Fliegeralarm (wegen britischer Bomber) zum Anlass nahm, das Gespräch abzubrechen. (S.524)

Gesetze im Leben der Völker

Paul Schmidt sieht unabhängig von jeder Regierungsform moralische und wirtschaftliche Gesetze das Leben der Völker bestimmen:

Zitat
Neben dem unerbittlichen Walten dieser moralischen Gesetze im Leben der Völker ist mir noch ein zweites während dieses Vierteljahrhunderts in den Konferenzsälen deutlich vor Augen getreten: die unwiderstehliche Macht der Wirtschaftsgesetze. [...] In dem Maße, wie die Völker und ihre politischen Führer in kurzsichtigem Egoismus von den Empfehlungen der unsentimentalen Wirtschaftssachverständigen abwichen und sich aus gefühlsmäßigen und politischen Gründen über die in unserem Zeitalter der Technik und des Verkehrs immer ausschlaggebender werdenden Gesetze des wirtschaftlichen Zusammenlebens hinwegsetzen, trieben sie die verelendeten Massen in die Arme der Fanatiker [...]
Statist auf diplomatischer Bühne, S.586f.

Anmerkungen

  1. Diesen Abschnitt habe ich im Wikipedia-Artikel zu Paul-Otto Schmid, genauso formuliert. (Fontane44)
  2. über den nach französischer Vorstellung offiziell nicht gesprochen werden sollte (vgl. S.45)
  3. Sie sollte, da Frankreich bereits weitestgehend besetzt war, in Sigmaringen ihren Sitz haben. (S.584)
  4. "Nur die persönliche Erfahrung gestattet eine lebendige Beurteilung der Geschehnisse" Paul Schmidt im Vorwort, S.8
  5. "Im Laufe der Jahre bin ich auf Grund meiner Erfahrungen immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß ein guter diplomatischer Dolmetscher drei Eigenschaften besitzen muss: er muss in allererster Linie, so paradox es auch klingen mag, schweigen können, zweitens muss er selbst in gewissem Ausmaß Sachverständiger in den Fragen sein, um die es sich bei seinen Übersetzungen handelt, und erst an dritter Stelle kommt eigenartigerweise die Beherrschung der Sprache." S.19/20

Bibliographische Angaben

Dr. Paul Schmidt: Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas. Von Stresemann und Briand bis Hitler, Chamberlain und Molotow, Bonn: Athenäum Verlag, 1949; neueste Aufl.: München: EVA, 2005. ISBN 3-434-50591-1