Katholische Religionslehre/Kreuz

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Dieser Artikel, ein Bestandteil des ZUM-Wiki-Books Katholische Religionslehre, behandelt das Kreuz als theologisches Thema, das für den Oberstufenunterricht in Katholischer Religion geeignet ist.[1] Vorlage:ZBK

Die Fragen

Jesus von Nazaret ist der Held der Evangelien und die Erlöserfigur des Christentums. Seine Lebensgeschichten, die Evangelien, sind so zusammengestellt, dass sie von Anfang an auf den Kreuzestod Jesu hinauslaufen. [Matthäus 2,11.16-18; Lukas 2,34-35] Zwei zentrale christliche Glaubenstatsachen gehören also unmittelbar zusammen: „Jesus, unser Messias, ist am Kreuz gestorben“, und „Jesus hat uns erlöst“. Diese Sätze zwingen uns als vernunftbegabte Menschen, Fragen zu stellen; es sind vor allem folgende:

  • Warum musste Jesus am Kreuz sterben?
  • Hatte Gott, der Allmächtige, keine gewaltfreie Möglichkeit uns zu erlösen?
  • Welche Deutung ist dem Kreuzestod Jesu angemessen – „Opfer“ oder „Strafe“?

Das Faktum

7. April 30: Jesus wird als Opfer eines Justizmordes durch den römischen Statthalter Pontius Pilatus am Kreuz hingerichtet.
Die Verurteilung durch einen Römer ist gewiss, denn Juden hätten ihn nicht gekreuzigt, sondern gesteinigt. Das Verbrechen, das man ihm zur Last legte, Umsturz und Aufruhr, hat Jesus nicht begangen. Der Prokurator Pontius Pilatus wusste das, denn sonst hätte er nicht Jesus umgebracht und seine Leute laufen lassen.
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Die Römer sind nicht auf eigene Initiative tätig geworden, sondern jüdische Behörden klagten Jesus bei ihnen an. Die Evangelien berichten, dass alle beteiligten Autoritäten (der Hohe Rat der Juden, der römische Prokurator Pilatus, König Herodes) zögern, das Todesurteil gegen Jesus zu verhängen. Unter Druck willigt Pilatus in die Kreuzigung ein. (Markus 15,11-13)
Dies ist historisch plausibel: Die Beteiligten haben Angst vor Intrigen, Übergriffen und spontanen Gewaltausbrüchen. Pilatus wird sechs Jahre nach der Kreuzigung Jesu sein Amt aufgrund von Denunziationen verlieren; und dreißig Jahre später werden Aufstände ausbrechen, die den Untergang der Reichsprovinz Iudaia heraufbeschwören. Das begründet die Nervosität der Verantwortlichen.
Jesus, dem der Ruf eines Wunderheilers und Propheten vorauseilt, wollte kein politischer Führer sein. Doch trotzdem könnte alleine die Anwesenheit eines Propheten in der überfüllten Wallfahrtsstadt Jerusalem Unruhen auslösen; darum muss er verschwinden. Zugleich ist zu befürchten, dass sich der Hass der von Jesus begeisterten Menschen an dem abreagieren wird, der ihn tötet. Aus diesem Dilemma suchen alle Beteiligten ihren Ausweg.

Der Hintergrund: Strafe und Opfer

Das Böse zerstört; es tut dem Leben Gewalt an. Wenn das Böse sich als Gewalttat eines einzelnen Schuldigen zeigt, fällt es auf, ist es nicht zu übersehen. Die Schuld ist aber auch Symptom eines Prozesses, der langfristig auf die Störung und Zerstörung des Lebens gerichtet ist, weil wir uns gegenseitig nachahmen. Wir teilen aggressive Emotionen, nehmen teil an der Steigerung des Hasses, der Verachtung, und wir sind beteiligt an Handlungen, die das Leben entwürdigen, für wertlos erklären und dann auch physisch vernichten, wir sind Teil der Eskalation, die uns über den Kopf wächst.
Wir Menschen würden die zerstörerischen Prozesse gerne stoppen, die stärker geworden sind als wir selbst. Dazu fallen uns zunächst mal zwei Möglichkeiten ein: Strafen und Opfern.
Die Strafe versucht den zu vernichten oder wenigstens aus der Gemeinschaft auszu¬schließen, der Gewalttaten begangen hat und dem man eine Ursächlichkeit für Prozesse der Vernichtung zurechnet.
Das Opfer besteht in der Vernichtung hochwertiger Wirtschaftsgüter zu Ehren der Transzendenz. Es bringt unmittelbar Macht, Reichtum, Verfügungsgewalt zum Ausdruck und stabilisiert einen status quo. Darum sind Opfer in der Religionsgeschichte so prominent. Offenbar beseitigen sie nicht die sichtbaren Gewaltursachen, die Schuldigen. Es geht viel mehr um Manipulation von Ursachen irdischer Vernichtungsprozesse, denen sich die Menschen unterlegen fühlen und die sie deshalb als übernatürlich erleben: Man möchte die beteiligten Götter und Geister umstimmen. Ein Tier und vor allem einen Menschen zu opfern bedeutet nicht an dessen Schuld zu glauben, im Gegenteil, es werden oft Opfergaben ausgesucht, die in besonderer Weise Unschuld symbolisieren – ein fehlerfreies Lamm (Exodus 12,5) -, aber es ist in Ordnung vor den Göttern, es muss sein.

Frühe Deutungsmuster:

Der stellvertretend Gestrafte

Wofür ist Jesus bestraft worden? – Als er starb, stand, so sagt es die Bibel, über seinem Kopf eine Inschrift in aramäischer, griechischer und lateinischer Sprache. Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum – abgekürzt „INRI“ –, so wird die Inschrift auf unseren Kreuzesdarstellungen wiedergegeben. In der Kirche Santa Croce di Jerusaleme wird eine Schrift gezeigt, die nur eine aramäische Fassung zeigt, bestehend aus den Buchstaben "J SCH U N Z R M M". Das liest sich so: Jeschu Nazara Melekem; übersetzt: Jesus Nazarener euer König.
Nach dem Bericht der Evangelien weigert sich Pilatus, die Inschrift dahingehend zu verändern, dass Jesus Anmaßung vorgeworfen wird – Schreib, er habe gesagt, er sei König. – (Johannes 19,21-22). Pilatus lässt Jesus als Repräsentanten eines Volkes kreuzigen, das in seinen Augen für Auflehnung und Widerstand steht. In dem, was die Evangelien aus den Prozessen vor dem Hohen Rat und vor dem Statthalter berichten, kommt mit keinem Wort zur Sprache, was man Jesus als Übergriff am ehesten hätte vorwerfen können: Sein provozierender Einzug in Jerusalem, seine Angriffe auf die religiösen Autoritäten oder die Tempelreinigung. Alle Verhandlungen kreisen darum, ob Jesus „König“, „Messias“ oder gar „Sohn Gottes“ zu sein beansprucht habe. Es ist also in keiner Weise die Gewaltbereitschaft Jesu, die ihn ans Kreuz bringt, sondern ausschließlich die Gewaltbereitschaft derer, die einen solchen gewaltverneinenden König nicht akzeptieren können. Die bestürzende und verstörende vollständige Weigerung Jesu sich zu verteidigen, auf Gewalt mit Gegengewalt zu antworten wird im Rückgriff auf ein Wort des Propheten Jesaia ausgedrückt: Wie ein Lamm verstummt, wenn man es schert, so tat er seinen Mund nicht auf. (Apostelgeschichte 8,32; vgl. Jesaia 53,7)

Das Sündopfer

Nachdem Amos und Hosea die Religion der Könige Israels hart angegriffen hatten und die Geschichte Israels, Exil und Rückkehr, der alternativen Religion der Propheten zum Durchbruch verholfen hatte, blieb im Frühjudentum bis zur Zerstörung des Tempels das Tieropfer doch in Gebrauch, auch in der Gestalt des Sündopfers, das der Entschuldung dient: Aaron darf nur so in das Heiligtum kommen: mit einem Jungstier und einem Widder für ein Sündopfer und Brandopfer. (Levitikus 16,3)
Der Versöhnungstag vollzog rituell die Übertragung aller Sünden des Volkes auf einen Ziegenbock, der anschließend zu Azazel, also in die Wüste geschickt wird:
Die politisch Verantwortlichen hätten gerne Jesus dem Volk als Sündopfer präsentiert. Dann wäre es irgendwie in Ordnung gewesen ihn hinzurichten. Der Hohe Priester Kaiaphas sagt, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. (Johannes 11,50). Jesus ist nicht wirklich die Ursache des Aufruhrs. Aber er ist anders als die anderen, von ihm geht eine Macht aus, die – auch wenn sie heilend in Erscheinung tritt - Ruhe und Ordnung stört.
Als Jesus stirbt, scheint der Sündopfermechanismus tatsächlich zu funktionieren: An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher waren sie Feinde gewesen. (Lukas 23,12). Die Hohenpriester antworten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. (Johannes 19,15) Noch am Abend wird die Hinrichtungsstätte aufgeräumt:
Weil Rüsttag war und die Körper während des Sabbats nicht am Kreuz bleiben sollten, baten die Juden Pilatus, man möge den Gekreuzigten die Beine zerschlagen und ihre Leichen dann abnehmen; denn dieser Sabbat war ein großer Feiertag. (Joh 19, 31) Rechtzeitig zum Fest bricht die große Einigkeit aus. Sogar Jesus bekommt ein vornehmes Grab; darüber versöhnen sich die, die einander zuvor spinnefeind gewesen waren.

Das Kreuz als Wendepunkt der Geschichte menschlicher Gewalt

Zu Pfingsten – 50 Tage nach der Folter und Hinrichtung Jesu - zerbricht eine kleine Schar von Jesusgetreuen den faulen Frieden:

Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst - ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. (Apostelgeschichte 2,22-23)

Jetzt steht alles in einem anderen Licht: Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?

Die Antwort des Petrus:

Lasst euch retten aus dieser verdorbenen Generation! (Apg 2, 37.40)

Solange im Umgang mit der Gewalt nur zwei Varianten der Gegengewalt ins Auge gefasst werden, Strafe und Opfer, muss man Folgendes in Kauf nehmen:

  • Zerstörung des Lebens um der Zerstörung willen (böse Gewalt) und Zerstörung des Lebens mit der Absicht der Zerstörung des Zerstörungsprozesses (gute Gewalt: Opfer oder Strafe) sehen einander zum Verwechseln ähnlich, und das gilt auch von allen begleitenden Emotionen und Kommunikationen. Gewalttäter können sich immer damit rechtfertigen nur Gegengewalt auszuüben, so stellen sie sich als Wohltäter dar, und sie finden damit gewöhnlich Anklang bei Gleichgesinnten.
  • Wenn im realen Leben gute und böse Gewalt so schwer zu unterscheiden sind, gibt es eine hohe psychologische Prämie darauf sich überhaupt rauszuhalten aus allem, sich fernzuhalten von Gewalt und Gegengewalt, allenfalls aus der Ferne zuzusehen.[2]
  • Es gibt keinerlei Impuls eigene Schuld einzugestehen. Denn das würde ja nur zur Folge haben, die Vernichtung des eigenen Lebens zu rechtfertigen.

Beide Strategien der Gegengewalt richten sich also vor allem gegen eine Ressource, der mehr als den anderen die Überwindung der zerstörerischen Prozesse wirklich zugetraut werden kann: Die klare Einsicht in den eigenen Anteil an Schuld und die geduldige Überwindung der Emotionen und Kommunikationen, die alle Menschen an Prozessen der Lebenszerstörung teilnehmen lassen. Und den Durchbruch zu dieser Ressource eröffnet uns Jesus bereits vor seinem grausamen Tod auf drei Weisen:

Jesus wusste, was im Menschen ist. (Johannes 2,25)

Er hat die Mechanismen der Verschleierung und Verdrängung insbesondere in seinen Gleichnissen exakt angesprochen: Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. (Mt 7,4-5) Natürlich durchkreuzt der Vergleich die Rationalität des Verhaltens, Schuld bei den an¬deren zu suchen; denn der belustigte Zuhörer Jesu fragt unweigerlich, ob ein Balken im Auge nicht stört und man ihn deshalb so schnell wie möglich los werden will.

Jesus als Arzt

Jesu irdisches Wirken lässt sich mehr als durch irgendeine andere Metapher als das eines Arztes verstehen nach dem programmatischen Wort: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten. (Markus 2,17) Es sind zwei Stellen aus dem Alten Testament, auf die Jesus zurückgreifen kann: Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt. (Exodus 15,26) und für den Zusammenhang zwischen Schuld und Therapie: Wer gegen seinen Schöpfer sündigt, muss die Hilfe des Arztes in Anspruch nehmen. (Sirach 38,15) Jesu therapeutische Leistung richtet sich also nicht nur und nicht zentral gegen körperliche Gebrechen, sondern gegen die Schuld. Jesu Selbstbeschreibung als Arzt steht in direktem Zusammenhang mit seinem Tod. Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen, verhöhnen ihn die Schriftgelehrten, als er am Kreuz hängt. (Mk 15,31) Und damit bestätigen sie Jesu eigene Voraussage: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! (Lk 4,23)

Aber Jesus braucht keine Heilung, weil er gesund ist. Weder seine Menschenliebe, noch sein Gottesverhältnis nehmen durch die ihm angetane Brutalität Schaden, er betet für seine Peiniger und behält sein Gottvertrauen in letzter Verlassenheit.

Jesus als Lamm

Während wir unsere Schuld zu verschweigen pflegen, weil wir die Strafe fürchten, verschweigt Jesus seine Unschuld. Er verzichtet darauf für sich zu sprechen und sich zu rechtfertigen, weil er daran glaubt, dass ihm selbst die Todesstrafe nichts anhaben kann: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, son¬dern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann. (Mt 10,28)

Das Symbol des Lammes enthält beide Aspekte dieses revolutionären Verhaltens: Als Symbol der Unschuld bringt es zum Ausdruck, dass auch noch der geringste Verdacht der Gegengewalt bei Jesus wegfällt; als klassisches Opfertier deutet es an, wie sich das grausame Geschehen mit unfehlbarer Gewissheit gerade an dem austobt, der die ihm zur Verfügung stehende Gewalt - mehr als zwölf Legionen Engel – nicht in Anspruch nimmt (Mt 26,53).

Zugang zur Therapie hat nur, wer sich einer wahrhaftigen Diagnose öffnet, nur wer seine Schuld geduldig erforscht und sich auch um Hilfe bemüht, hat eine Chance geheilt zu werden. Dass das ganze Thema unangenehm ist, dass der Bußfertige ausgenutzt und zum Opfer gemacht werden kann, bleibt wahr und bleibt schlimm, und alle Furcht ist menschlich und verständlich. Aber wahr ist auch, es gibt Schlimmeres: Keine Diagnose, keine Therapie, keine Rettung, und das Leben zerrinnt zwischen den Fin¬gern, es gibt keinen inneren und äußeren Frieden und man weiß nicht einmal warum, weil man es nicht wissen will und nicht zulassen kann.

Jesus, das Lamm, ist ein neuer Typ Held; der stoischen Raushaltekultur, die bei den Römern damals schick war, setzt Jesus eine Kultur des Freundschaftsdienstes, des liebenden Engagements entgegen, die rückhaltlosen, aber gewaltfreien Einsatz bedeutet: Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. (Joh 15,12-15)

Diese Kultur der Liebe hat schon in der Antike zahllose Menschen begeistert, sodass die polytheistischen Opferkulte und Orakel innerhalb weniger Jahrhunderte als leer und bedeutungslos empfunden und aufgegeben wurden. Und heute, da die Kirche an Macht und Einfluss verliert, weil man ihr das Zurückbleiben hinter der Vorbildlichkeit Jesu vorhält, das die Kirche selbst allerdings freimütig zugibt, gerade heute gewinnt das Vorbild Jesu an Einfluss. Das kann insbesondere daran abgelesen werden, dass die Perspektive der Opfer relevanter geworden ist als jemals zuvor in der Geschichte. Zahllose Hilfsorganisationen kümmern sich um Menschen in Not, und die Medien interessieren sich für Schicksale gerade auch derer, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen. Dass das im Reality-TV auch merkwürdige Auswüchse zeitigt, und dass die mediale Selbstdarstellung und Selbststilisierung als Opfer nicht in allen Fällen wahrhaftig und gerecht ist, muss dabei gar nicht bestritten werden. Trotzdem gilt: Die einzige Krone, die heute noch zählt, ist die Krone der Martyrer. (Klaus Berger) Demonstrationen von Macht und Reichtum, Gewalt und Grausamkeit nehmen uns nicht mehr für, sondern gegen die Mächtigen ein; wer sich gewaltfrei, aber mit dem Einsatz seines ganzen Lebens für seine Sache einsetzt – Ich nenne den Dalai Lama, Johannes Paul II, Mutter Teresa von Kalkutta, Martin Luther King, Mahatma Gandhi als herausragende Zeitgenossen. – kann darauf rechnen, von uns ernst genommen zu werden, gerade dann, wenn er oder sie einen offenen Umgang mit dem eigenen Versagen kultiviert.

Die Rolle Gottes

Bislang ist das Wort „Gott“ vermieden worden. Denn wenn dieses Wort fällt, dann ist durchaus noch nicht ausgemacht, wer oder was damit gemeint ist. Der antike My¬thos sah seine Funktion vor allem darin, zu bestätigen, zu rechtfertigen, was ohnedies geschieht. Die Bibel als Dokument einer Protestreligion ver¬weigert sich der Rechtfer¬tigung des Faktischen; sogar Moses und David, die im Rückblick als ideale Führer dar¬gestellt werden, hält man ihre Verfehlungen fast kleinkariert vor. Das Buch Ijob beschäftigt sich mit dem Leiden des Gerechten. Das Buch gehört zur Gruppe der Weisheitsbücher, denn das dargestellte Problem wird vor allem in Form von Dialogen, in klugen Erörterungen zwischen Ijob und seinen Freunden dargestellt. Auch Gott selbst tritt als Gesprächspartner auf. Aber das Buch bleibt an einer be¬stimm¬ten Grenze hängen: Ijob wird zwar dem Leiden preisgegeben, aber er muss nicht sterben, sondern wird am Ende des Buches wieder in seine irdischen Güter eingesetzt. Die wirklichen Toten der Geschichte, Ijobs Söhne und Töchter (Ijob 1,19), werden einfach durch andere Söhne und Töchter ersetzt. (Ijob 42,13) Hier konnte sie Deutung Christi nicht ansetzen. Im Bild des Lammes, das vor seinem Scherer ver¬stummt, (Jes 53,7; Apg 8, 32) wird eindrucksvoll der Kontrast zwischen Jesus und der Beredsamkeit des Ijobbuches symbolisiert: Als Antwort auf das Schweigen des Gekreuzigten reichen kluge Lehren nicht mehr aus. Zu beantworten bleibt die Wahrheitsfrage, ob der Gott, der Jesus, den unschuldig Hingerichteten, aus den Toten auferweckt hat (Colosser 2,12), wirklich existiert. Die Frage kann umgekehrt und so gestellt werden:
Wäre es nicht des Allgewaltigen Amt, seines geliebten Knechtes ungerechte Bestrafung und blasphemische Opferung zu verhindern?
Die Antwort kann man auf die Weise suchen, dass man sich fragt, wie Gott das hätte machen sollen; die Bibel spricht mindestens zwei Möglichkeiten an:
(1) Herodes freute sich sehr, als er Jesus sah; schon lange hatte er sich gewünscht, mit ihm zusammenzutreffen, denn er hatte von ihm gehört. Nun hoffte er, ein Wunder von ihm zu sehen. (Lukas 23,8) Man könnte sich leicht ein Zeichen vorstellen, das Herodes beeindruckt, den Messias aber nicht oder nur wenig kompromittiert hät¬te, wie damals in Nazaret, als ihm schon einmal die Hinrichtung drohte: Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg. (Lukas 4,16)
Die Bibel erzählt von der Errettung am Schilfmeer bis hin zu den Wundern Jesu viele Geschichten von Machttaten Gottes. Aber wenn man weiter liest, dann entdeckt man, dass die Geschichten nicht gut ausgehen: Der Errettung am Schilfmeer folgt der Tanz um das goldene Kalb (Exodus 32), der Gottesprobe des Elia auf dem Karmel (1 Kö¬ni¬ge 18) folgt die Flucht des Propheten in Wüste und Todessehnsucht (1 Kg 19). Der wunderbaren Brotvermehrung folgt der Weggang der Mehrheit der Jünger Jesu (Johannes 6). Das lässt nur einen Schluss zu: Das Wirken Gottes lässt sich nicht durch Machttaten nach dem Muster mensch¬licher Groß- und Gewalt¬taten er¬weisen. Denn solche Taten machen den Men¬schen zum Objekt der Überwäl¬ti¬gung. Die Bibel scheint dergleichen zu erzählen, um zu zeigen, dass es nicht funk¬tioniert. Ganz bei sich selbst ist die Bibel in den Ge¬schichten, die Gott auf der Seite der Opfer zeigen, der den Erniedrigten eine Stimme gibt.
(2) Von da an begann Jesus, seinen Jüngern zu erklären, er müsse nach Jerusalem ge¬hen und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten vieles erleiden; er werde getötet werden, aber am dritten Tag werde er auferstehen. Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe; er sagte: Das soll Gott verhü¬ten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! (Mt 16,21-22) Petrus meint es gut mit Jesus, und er meint es gut mit sich selbst; denn die Jünger und die Kranken und Verlorenen brauchen Jesus, er könnte gut noch ein paar Jahre weiter the¬ra¬peu¬tisch tätig sein und die Jüngerschar führen. Warum muss er nach Jerusalem? Aber was hätte es bedeutet, wenn Jesus dem Ansinnen seines Apostels gefolgt wäre? Dass er sich in seiner irdischen Anwesenheit für unersetzlich erklärt hätte und den Jüngern nicht zutraute, alleine zu Recht zu kommen. Aber der von Jesus ausgehende Anstoß zu freiem Freundschaftsdienst auf der Basis der Wahrhaftigkeit, zu Offenheit für Schuld überwindende Therapie, zur Ver¬nei¬nung der Rechtfertigung von Opfern, muss von seinen Jüngern, also heute von uns weitergespielt werden; wir dürfen uns nicht an die Rockschöße der Allmacht klammern. Nachfolge Jesu geschah auch und geschieht – vielleicht mehr denn je. Das setzt allerdings voraus, dass Jesus nicht vergessen wird, und dazu bleibt die Kirche notwendig. Und dass man es ihren Mitgliedern nicht mehr durchgehen lässt, sich auf Jesus zu berufen, es aber mit der Liebe im Erstfall nicht allzu genau zu nehmen, ist ein hoffnungsvolles Zeichen.
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Angesichts der letzten Stunden im Leben Jesu geraten unsere Begriffe von Wahrheit, Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit, Gott in eine Bewegung, die uns bis ans Ende unserer Tage – als einzelne und als Menschheit – nicht mehr loslassen wird. Eine Szene der Evangelien gibt hier vielleicht den stärksten Anstoß: Und Jesus nahm Petrus, Jakobus und Johannes mit sich. Da ergriff ihn Furcht und Angst, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht! Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich, an ihm vorüber gehe. Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst. Und er ging zurück und fand sie schlafend. (Markus 14,33-36) Indem betont wird, dass die Szene sich vor schlafenden Zeugen abspielt, ist sie der historischen Verifizierbarkeit von vorneherein entzogen; es geht um eine Wahrheit, die nicht das sinnlich Erfahrbare betrifft: Das Unvermeidliche ist nicht zu akzeptieren. Jesus erklärt sich nicht einverstanden. Und das aus guten Gründen, denkt man alleine an die Rachephantasien, die der Tod des Erlösers in der Geschichte noch hervorrufen sollte. Er weist die Verantwortlichkeit dem Vater zu und dadurch von den Menschen weg: Sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23,34) Denn nur der Vater kann wissen und wollen und verwirklichen, dass das Kreuz, der furchtbare Tod, zum Sieg des Lebens wird.
Heute nimmt das Kreuz in vielen Wohnungen und an vielen Wegen einen zentralen Platz ein. Wenn wir „Gott“ sagen, meinen die meisten von uns ganz selbstverständlich den Gott, den der Gekreuzigte seinen „Vater“ nannte. Ein Beweis für die Wahrheit, der alle über¬zeugt, ist das nicht; aber was bedeutete eigentlich „Wahrheit“, wenn der Ursprung aller Wahrheit eine Lüge wäre?
Ein Beispiel ist uns gegeben, gegen die Spirale der Zerstö¬rung aufzustehen, uns an der Gerechtigkeit und Freiheit zu orientieren, die Jesus uns vorgelebt hat. Daraus et¬was zu machen liegt an uns.

  1. Die Argumentation folgt teilweise dem Buch: René Girard: Ich sah den Teufel vom Himmel fallen wie einen Blitz (1999), deutsch Wien 2002
  2. Der Beliebtheit dieses Motives hat Hans Blumenberg eine metaphorologische Studie gewidmet: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt 1986, wieder aufgelegt Frankfurt 2005