Katholische Religionslehre/Bibel

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Diese Seite behandelt die Bibel als Thema der Stufe 11. Zielsetzung ist vor allem,

  • Zugang zu einem ein nicht-fundamentalistischen Verständnis der Bibel zu ermöglichen
  • Erkenntnisse der geschichts- und sprachwissenschaftlichen Erforschung der Bibel darzustellen
  • und so weit das möglich ist, den Schülerinnen und Schülern Gegenheit geben, selbst Methoden der Bibelforschung auszuprobieren.

Die Entstehung der hebräischen Bibel

Im Religionsunterricht wird die biblische Geschichte im Allgemeinen in der Reihenfolge erzählt, in der sie in der Bibel berichtet wird:

  • Die Urzeit (Schöpfung, Sündenfall, Brudermord, Sintflut, Turmbau)
  • Die Väterzeit (Abraham und seine Söhne, Enkel und Urenkel)
  • Die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei unter Moses

In diese Geschichten der Tora (also der Bücher Genesis, Exodus, Numeri, Levitikus, Deuteronomium) ist das gesamte jüdische Gesetz eingearbeitet, von dem die Bücher ihren Namen haben: Tora = hebr. "Weisung". Als die Tora niedergeschrieben wurde, waren rund 700 Jahre seit der mutmaßlichen Moseszeit und rund 1000 Jahre seit der Abrahamszeit vergangen. In dieser langen Zeit ist das Material lange mündlich von Generation zu Generation weitergegeben worden. Doch die Tora enthält auch nicht die erste schriftliche Fassung der alten Geschichten und Gesetze, sondern ist vielfach überarbeitet worden. Daher und weil sie nicht neutrale Quelle, sondern Parteinahme für die Jahweh-Anhänger ist, kann die Tora als historische Quelle nicht dienen. Lediglich aus dem Vergleich der Geschichten mit anderen

Sehr viel älter sind einige Texte, die Prophetenworte enthalten und von den Schülern der Propheten aufgezeichnet wurden. Solche Texte sind in die Königsbücher aufgenommen worden und berichten über die Propheten Elija und Elischa, und sie sind als Buch Amos und Buch Hosea in die hebräische Bibel aufgenommen worden. Diese Propheten und Jesaia, der etwas später im Süden Israels lebte, gelten als Vertreter einer Jahweh-allein-Bewegung; sie wollten die Verehrung aller Götter außer Jahweh unterbunden wissen; sie sind die Schöpfer des Monotheismus, dem heute in Judentum, Christentum und Islam mehr als 2000 Millionen Menschen angehören.

Israel in prähistorischer Zeit

Die historische Forschung hat wohl geklärt, wo und wann in der Menschheitsgeschichte erstmalig die Landwirtschaft entstanden ist, nämlich im Osten der heutigen Türkei, am Oberlauf der Flüsse Euphrat und Tigris rund 10000 v. C. Die Landwirtschaft bot die Möglichkeit eine größere Zahl Menschen längerfristig an einem Ort zu ernähren, und die zum Nahrungserwrb nicht mehr benötigte Arbeitszeit konnte verwendet werden, die Götter und Ahnen angemessen zu ehren. So entstehen in Göbekli TepeWikipedia-logo.png die ersten monumentalen Kultbauten der Menschheit, die dem Totengedenken zugeordnet werden können.

Siedlungsgebiet Israels.jpg

In unmittelbarer Umgebung des prähistorischen Siedlungsgebietes des Volkes Israel befindet sich die Stadt Jericho am toten Meer, bei der eine Mauer aus der Zeit um 9000 v. C. gefunden wurde. In der Küstenzone Palästinas wurden in der zweiten Hälfte des zweiten vorchistlichen Jahrtausends Hafenstädte angelegt. Das Volk Israel lebte in den trockeneren und weniger fruchtbaren Gebirgsregionen zwischen Küstenebene und Jordansenke. Dort vollzog sich Jahrtausendelang ein Wechsel zwischen mehr nomadischer Lebensweise, wenn die Weiden für eine dauerhafte Beweidung zu trocken waren und einer eher seßhafte Lebensweise, wenn in bescheidenem Umfang Ackerbau und ortsfeste Kleinviehzucht betrieben werden konnte.

Ein Durchbruch gelang um 1000 vor Christus, zuerst im Norden Israels, der Gegend um den See Genezaret und das Quellgebiet des Jordan, und mit 200-jähriger Verspätung auch im Süden, der Gegend rund um Jerusalem, durch landwrtschaftliche Spzialisierung auf den Anbau von WeinWikipedia-logo.png und OlivenWikipedia-logo.png.

Landwirtschaftliche Spezialisierung setzt funktionierenden Handel voraus, damit andere lebensnotwendige Güter - und auch Luxusgüter - durch Tausch erworben werden können. Man benötigt Marktplätze, um den Austausch zu organisieren, und selbstverständlich wollten auch die Könige Israels nicht auf Paläste und Tempel verzichten, um ihren Reichtum zu demonstrieren und zu stabilisieren. Damit allerdings weckten sie den Argwohn der benachbarten Stadtstaaten und traten in Wettbewerb mit den führenden Mächten ihrer Zeit, einen Wettbewerb, in dem sie nicht dauerhaft bestehen konnten.[1]

Die Schöpfer des Monotheismus in Israel: Elia, Amos, Hosea

ElijaWikipedia-logo.png lebte zur Zeit des Königs AhabWikipedia-logo.png (1 Könige 16-20; 21), AmosWikipedia-logo.png und HoseaWikipedia-logo.png zu Zeiten des JerobeamWikipedia-logo.png, alle drei Gottesmänner lebten also im neunten und achten Jahrhundert vor Christus. Es sind die ersten biblischen Personen, von denen wir Dokumente aus ihrer eigenen Zeit besitzen, auch wenn die Geschichten vielfach bearbeitet, ergänzt und überformt wurden. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere und ihrer Darstellung kann man doch verschiedene Gemeinsamkeiten in ihrem Auftreten und in ihrer Botschaft ausmachen:

Das Wirtschaftswunder in Israel als Hintergrund

In Israel hat sich Reichtum angesammelt; Städte können erbaut werden, typischerweise auf den Bergen, wo Gipfelplateaus durch umfangreiche Planierarbeiten geschaffen werden. Nach dem Vorbild der Stadtstaaten Palästinas wollen auch Israels Könige in Palästen wohnen und sich der Hilfe der Götter durch Tempelbauten und Opferhandlungen versichern.

Die soziale Kritik der Propheten

Genau an dem neu gewonnen Reichtum Israels - nach dem Motto Früher hatten alle wenig; heute haben die Reichen die Armen abgehängt - üben die Propheten Kritik:

Zitat
Sie schreien zwar zu mir: Mein Gott! Wir, Israel, kennen dich doch. Aber Israel hat das Gute verworfen. Darum soll der Feind es verfolgen. Sie setzen Könige ein, aber gegen meinen Willen; sie wählen Fürsten, doch ich erkenne sie nicht an. Sie machen sich Götzen aus ihrem Silber und Gold - wohl damit es vernichtet wird. Samaria, dein Kalb ist verworfen. Mein Zorn ist entbrannt gegen sie; wie lange noch sind sie unfähig, sich zu läutern? Denn wer sind Israel und das Kalb? Ein Handwerker hat das Kalb gemacht, und es ist kein Gott. Ja, zersplittert soll es am Boden liegen, das Kalb von Samaria. [Hosea 8,2-6]
Zitat
Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Habt ihr mir etwa Schlachtopfer und Gaben dargebracht während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel? [Amos 5,21-25]

Der wahre Gott gegen die falsche Religion

Anstelle der falschen Religion, die aus aufwändigen Bauten, Kulthandlungen und Opfergaben besteht, fordert der wahre Gott Gerechtigkeit.

Gottesbegegnung in der Wüste

Der Ort der Gottesbegegnung ist nicht der Tempel, nicht die reiche Stadt, sondern die Wüste.

Zitat
Ich aber, ich bin der Herr, dein Gott, seit der Zeit in Ägypten; du sollst keinen anderen Gott kennen als mich. Es gibt keinen Retter außer mir. Ich habe dich in der Wüste auf die Weide geführt, im Land der glühenden Hitze. Als sie ihre Weide hatten, wurden sie satt. Als sie satt waren, wurde ihr Herz überheblich, darum vergaßen sie mich. [Hosea 13,4-6]

Hartes Prophetenschicksal

Gott bevorzugt seine Propheten nicht, sondern überlässt sie im Gegenteil schweren Selbstzweifeln:

Zitat
Elija geriet in Angst, machte sich auf und ging weg, um sein Leben zu retten. Er kam nach Beerscheba in Juda und ließ dort seinen Diener zurück. Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein. [1 Könige 18,3-5]

Amos muss auf Veranlassung des Königs das Land Israel verlassen und erhält Redeverbot [Amos 7,10-17].

Jerusalem als Ideal

Obwohl Juda mit der Hauptstadt Jerusalem viel rückständiger ist als Israel, wird es von den Propheten dem reicheren und fortschrittlicheren Israel als Ideal vor Augen gehalten.

Zitat
Der Herr brüllt vom Zion her, aus Jerusalem läßt er seine Stimme erschallen. [Amos 1,2]

Der Monotheismus wird politisch in Anspruch genommen: Hiskija und Joschija

Jeremiah und der Untergang Jerusalems 586 v. Chr.

Das Exil und die Entstehung der Tora

Historische Erforschung des Neuen Testamentes

Übersicht

Es gibt vier sprachwissenschaftliche Methoden, mit denen man den Text des Neuen Testamentes untersucht hat: Die Textkritik, die Literarkritik, die Formgeschichte und die Redaktionsgeschichte.

Bevor wir uns mit konkreten Bespielen auseinandersetzen, möchte ich in einer Tabelle das Ausgangsmaterial, die Ziele und die wichtigsten Ergebnisse der ersten drei Methoden tabellarisch einander gegenüberstellen.

Die Redaktionsgeschichte bezeichnet gleichsam die (vorläufige) Endfassung der historisch-kritischen Bibelforschung, und zwar aufgrund folgender Merkmale:

  • Die Kritik an der Auffassung des Neuen Testamentes als historischer Quelle wird übernommen.
  • Dies führt aber nicht zur Abwertung der redaktionellen Arbeit der Evangelisten, indem Texte als Gemeindebildung oder unecht diffamiert werden.
  • Statt dessen richtet sich der Blick auf die Kreativität der Redaktoren der Bibel, welche durch die theologisches und literarisches Genie die Wahrheit über Christus aus ihrer jeweiligen Blickrichtung her er- und auch gefunden haben.

Die Redaktionsgeschichte ist einfach unsere heutige Art, das Neue Testament auszulegen; Text-, Literar- und Form- oder Überlieferungskritik hingegen lassen sich als eine dramatische Geschichte erzählen, in der durch Unter- und Überschätzung der jeweiligen Methode, durch Versuch und Irrtum ein angemessener Umgang mit dem Neuen Testament im 19. und 20. Jahrhundert mühevoll erlernt wurde. Ich denke, die Kirche, die evangelische zuerst und später auch die katholische, kann sehr stolz darauf sein, ihre Heiligen Schriften den Wissenschaften ausgesetzt zu haben. Das Glauben ist dadurch vielleicht nicht leichter geworden (aber war es das je?); aber da wir nun einmal in einem Zeitalter der Wissenschaften leben, in welchem mehr als die Hälfte eines Jahrganges Universitätserfahrung machen,[2] kann eine zeitgenössische religiöse Verkündigung nur darauf aufbauen, dass sich auch die Zeugnisse der Religion der wissenschaftlichen Nachforschung stellen.


Methode Ausgangsmaterial Ziel Ergebnis
Textkritik Abschriften Stammbaum der Abschriften, Urschrift Hohe Zuverlässigkeit der Abschreiber des NT
Literarkritik Urschrift Quellen und Arbeitsweise der Evangelisten Evangelisten sind nicht Autoren, sondern Redaktoren, Zwei-Quellen-Theorie
Formgeschichte Einzelne Geschichten: Wunderberichte, Streitgespräche, Gleichnisse Klärung der mündlichen Überlieferung Nicht Augenzeugenberichte, sondern Legenden

Textkritik: Vom Buchdruck zurück zu den Urfassungen der griechischen Bibel

Vor der Erfindung des Buchdrucks mussten alle Bücher regelmäßig von Hand abgeschrieben werden. Für das Neue Testament spielen dabei zwei Schreibmaterialien eine zentrale Rolle: PapyrusWikipedia-logo.png und PergamentWikipedia-logo.png.

Papyrus wird aus einer Pflanze gewonnen und war in der Antike ein vergleichsweise billiges, aber auch nicht sehr haltbares Schreibmaterial, das sich - nur selten und oft in Briefmarkengröße - unter sehr günstigen Umgebungsbedingungen bis heute erhalten hat.

Pergament wird aus Ziegenleder gewonnen und lässt sich in einer Bibliothek sehr lange lagern: Die ältesten mehr oder weniger vollständigen Ausgaben des Neuen Testamentes stammen aus dem vierten Jahrhundert und liegen in Rom, London und an verschiedenen anderen Orten.

Bibelwissenschaftler versuchen nun, zu ermitteln, ob die vorhandenen Abschriften des Neuen Testamentes einen "Stammbaum" bilden, und sie versuchen, aus den Varianten in den Abschriften den Urtext zu rekonstruieren.

Beispiel

Lukas 24,50-52 lautet in der Einheitsübersetzung: Dann führte er sie hinaus in die Nähe von Betanien. Dort erhob er seine Hände und segnete sie. Und während er sie segnete, verließ er sie und wurde zum Himmel emporgehoben; sie aber fielen vor ihm nieder. Dann kehrten sie in großer Freude nach Jerusalem zurück. Übersetzt man dieselbe Stelle, wie sie im Codex SinaiticusWikipedia-logo.png geschrieben steht, einer der ältesten und zuverlässigsten Handschriften, würden die Worte und wurde zum Himmel emporgehoben aus dem Text auszuschneiden sein. [3] Der Text, den der Evangelist Lukas einst niederschrieb, lautet also vermutlich: Dann führte er sie hinaus in die Nähe von Betanien. Dort erhob er seine Hände und segnete sie. Und während er sie segnete, verließ er sie; sie aber fielen vor ihm nieder. Dann kehrten sie in großer Freude nach Jerusalem zurück. -

Auf den ersten Blick scheint das ein inhaltlich gewichtiger Eingriff eines Abschreibers in den Text des Neuen Testamentes zu sein, der eine ganze Bildtradition (Himmelfahrt Jesu) begründete. Tatsächlich hat sich ein unbekannter Abschreiber am Beginn der Apostelgeschichte orientiert und von dort die Szene von der Aufnahme Jesu in den Himmel übernommen.

Auf ähnliche Weise ist nachträglich ein Abschlusskapitel des Markusevangeliums [Markus 16, 9-20] angefügt worden, das aus Erscheinungsgeschichten des Auferstandenen zusammengesetzt ist, die in den anderen Evangelien vorkommen, im ursprünglichen Markusevangelium aber nicht.


Merke
Keine andere Schrift der Antike ist so oft abgeschrieben worden wie die Bibel, von keinem anderen Dokument sind so viele Abschriften erhalten geblieben, und kein anderes Werk der Antike ist mit solcher Sorgfalt weitergegeben worden wie die Bibel.


Literarkritik: Die Arbeitsweise der Evangelisten

Die LiterarkritikWikipedia-logo.png erforscht die Arbeitsweise der Evangelisten. Das setzt voraus, dass die textkritische Arbeit gut gemacht worden ist, dass also der Urtext, den einst Markus, Matthäus und Lukas hinterlassen haben, einigermaßen zuverlässig vorliegt.

Beispiele für Literarische Arbeitsweise:

Wer seine Schultasche auskippt, wird darin verschiedenartige Druck- und Handschriften finden, denen auch unterschiedliche Arbeitsweisen zugrundeliegen:

  • Im Unterricht schreiben die Schülerinnen und Schüler mit, was der Lehrer sagt, oder sie schreiben ab, was an der Tafel steht. Mitschreiben hatte natürlich in einer Zeit eine größere Bedeutung als heute, in der es andere technische Dokumentationsmöglichkeiten noch nicht gab. Der Deutsche Bundestag beschäftigt immer noch professionelle Mitschreiber. [4]
  • Das Physikbuch ist ein Fachbuch, das wahrscheinlich von einem Team von Fachleuten - Physiker, Didaktiker, Pädagogen und Lehrer zum Beispiel - verfasst worden ist.
  • Vielleicht hast Du auch ein Unterhaltungsbuch im Ranzen, das von einem Autor verfasst worden ist, der mithilfe seiner Recherchen, vor allem aber mithilfe seiner Fantasie und seiner Schreibtechnik[5] eine spannende Geschichte geschrieben hat.
  • Schließlich kennen wir die Tageszeitung, Nachrichtenmagazine, Illustrierte und Fachzeitschriften. Sie beziehen ihre Informationen durch Agenturen, Reporter und Korrespondenten, aus deren Berichten Redakteure dann die fertige Zeitung zusammenstellen.[6]


Eine Methode der Literarkritik, die sich auf die ersten drei Evangelien des Mtthäus, Markus und Lukas anwenden lässt, ist der synoptische Vergleich. An einem Beispiel soll die Methode erklärt werden. In Lukas 8,36-39 wird das Ende einer dramatischen Exorzismusgeschichte geschildert:

Zitat
Und die es gesehen hatten, verkündeten ihnen, wie der Besessene gesund geworden war. Und die ganze Menge aus dem umliegenden Land der Gerasener bat ihn, von ihnen fortzugehen; denn es hatte sie große Furcht ergriffen. Und er stieg ins Boot und kehrte zurück. Aber der Mann, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, bat ihn, dass er bei ihm bleiben dürfe. Aber Jesus schickte ihn fort und sprach: Geh wieder heim und sage, wie große Dinge Gott an dir getan hat. Und er ging hin und verkündigte überall in der Stadt, wie große Dinge Jesus an ihm getan hatte.

Das ist offenbar nicht logisch: Denn der Geheilte im Land der Gerasener kann ja nicht mit Jesus gesprochen haben, nachdem der mit dem Boot auf die andere Seite des Sees gefahren ist. Wir fragen also: Finden wir diesen Bruch in der Geschichte auch in den anderen Evangelien? Bei Markus [5,16-20] lauten die parallelen Verse so:

Zitat
Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, was mit dem Besessenen geschehen war, und das von den Säuen. Und sie fingen an und baten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzugehen. Und als er in das Boot trat, bat ihn der Besessene, dass er bei ihm bleiben dürfe. Aber er ließ es ihm nicht zu, sondern sprach zu ihm: Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Wohltat dir der Herr getan und wie er sich deiner erbarmt hat. Und er ging hin und fing an, in den Zehn Städten auszurufen, welch große Wohltat ihm Jesus getan hatte; und jedermann verwunderte sich.

Da das Gespräch während des Einsteigens geführt wird, tritt das logische Problem des Lukasevangeliums nicht auf. Vergleichen wir zuletzt noch Matthäus [8,33-9,1]:

Zitat
Und die Hirten flohen und gingen hin in die Stadt und berichteten das alles und wie es den Besessenen ergangen war. Und siehe, da ging die ganze Stadt hinaus Jesus entgegen. Und als sie ihn sahen, baten sie ihn, dass er ihr Gebiet verlasse. Da stieg er in ein Boot und fuhr hinüber und kam in seine Stadt.

Auch hier gibt es keinen logischen Bruch, weil das Gespräch zwischen Jesus und dem Geheilten gar nicht vorkommt.

Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?

  • Schon die Tatsache, dass Berichte parallel überliefert sind, zeigt, dass wir es bei den Evangelisten nicht mit Autoren im modernen Sinn zu tun haben: Sie haben schriftliche Quellen verarbeitet und nach neuen Gesichtspunkten zusammengestellt, ähnlich, wie es Redakteure in einer Zeitschrift tun.
  • Markus und Lukas haben aus zwei Geschichten (Heilung und Berufungsgespräch) eine gemacht; dabei hat Markus mehr Wert gelegt, die Geschichte in eine logische Abfolge zu bringen, darum hat er in den Text eingegriffen und ihn sinnvoll verknüpft. Lukas, der 10 Jahre später sein Evangelium geschrieben hat, geht mit größerem Respekt an seine Quellen heran, die für ihn schon den Charakter einer heiligen Schrift haben, die unverändert weiter gegeben werden muss. Darum nimmt er lieber einen logischen Bruch in Kauf als den eingearbeiteten Text zu verändern. Matthäus schließlich hat seine Quellen anders zusammengestellt und bietet an dieser Stelle nur die Heilungsgeschichte und nicht die Berufungsgeschichte.


Merke
Evangelisten sind Redakteure, die aus schriftlichen Vorlagen ein Evangelium zusammengestellt haben. Evangelisten sind keine Autoren, keine Reporter; sie haben nicht die Augenzeugen interviewt und sind auch nicht selbst Augenzeugen gewesen; ihre Recherchearbeit bestand im Sammeln von schriftlich fixierten Nachrichten über Jesus.


Formgeschichte: Die der Verschriftlichung vorausgehende mündliche Tradition

Als Jesus starb, hinterließ er kein Wort in schriftlicher Form, sondern nur eine Gemeinschaft von Schülerinnen und Schülern, die durch die Erfahrung der Auferstehung Jesu herausgefordert wurden, Jesu Lehre weiterzugeben, das Reich Gottes zu proklamieren und aufzubauen. Sie erzählten also Geschichten über Jesus - besonders charakteristisch für die Evangelien sind die Heilungsberichte und die Streitgesprächsberichte - und sie erzählten weiter, was Jesus selbst gesagt hatte - dabei sind besonders markant die Gleichnisse Jesu.

Die Evangelien bestehen aus solchen kurzen Erzähleinheiten, die dazu einladen, sie im Gottesdienst eine nach der anderen vorzulesen und in einer Predigt auszulegen. FormgeschichteWikipedia-logo.png heißt die Wissenschaft, die sich mit diesen kurzen Erzähleinheiten befasst, um zu klären, wie sie gebildet und weitergegeben worden sind.



Vergleich: Mündlich weitergegebene Geschichten spielen auch in unserer Umwelt eine Rolle, und daraus können wir etwas über die wissenschaftliche Erforschung der Erzählstücke der Evangelien lernen.

  • Vor Gericht wird ein Augenzeuge befragt, der Zeuge eines Handtaschendiebstahls geworden ist; er gibt an, dass er genau gesehen hat, wie der Angeklagte einer alten Dame die Tasche entrissen und deren Besitzerin unsanft weggestoßen hat, sodass diese stürzte und sich am Kopf verletzte. Der Anwalt des Angeklagten nimmt den Zeugen in die Mangel; er fragt ihn, wie er beurteilen könne, dass die Verletzung von dem Sturz herrührte, wo er genau gestanden hat, ob er kurzsichtig ist, alles, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen.
  • Völlig anders funktioniert ein Witz, beispielsweise:
    Der Pfarrer möchte Fritzchen davon überzeugen, dass es Gott gibt und sinnvoll ist, sonntags zur Kirche zu kommen, und erzählt ihm eine Geschichte: Ein Dachdecker ist vor ein paar Wochen vom Dach gefallen, aus 10 Metern Höhe; aber ein Schutzengel hat ihm geholfen, und er hat sich nichts gebrochen; was sagst Du dazu? - Das ist ein Zufall, Herr Pastor. Na schön, aber eine Woche später ist er von einem anderen Dach gestürzt, 12 Meter tief, und ist wieder unverletzt geblieben. - Da hat er eben ein Riesenschwein gehabt. - Er ist aber ein drittes Mal vom Dach gefallen, und sein Schutzengel hat ihn auch dieses Mal vor schweren Verletzungen bewahrt. - Das ist Übung, Herr Pastor.
    Offenbar ist eine solche Geschichte nicht der Augenzeugenbericht einer Unterhaltung, die wirklich stattgefunden hat - obwohl das natürlich nicht ausgeschlossen ist.
    Wir können aber andere Schlüsse ziehen: Menschen, die so etwas witzig finden, kennen sich offenbar im Christentum ein wenig aus; sie wissen, was ein Schutzengel ist, und vielleicht haben sie auch Erfahrung mit den Strategien der Pastöre, ihre Schäfchen vom Sinn der christlichen Botschaft zu überzeugen.


Definition
Geschichten, bei denen man nicht auf das Ereignis und auf den Augenzeugen schließen kann, wohl aber auf die Gruppe, in der eine solche Geschichte sinnvollerweise weitergegeben werden konnte, wollen wir LegendenWikipedia-logo.png nennen.[7]




Merke
Die Geschichten des Neuen Testamentes sind keine Augenzeugenberichte, sondern Legenden. Man kann erkennen, dass sie in einer Gemeinschaft entstanden sind, die bereits an den auferstandenen Jesus Christus glaubt.


Diskussion um Rudolf Bultmann

Quellennachweise

  1. Diese Darstellung folgt: Silbermann/ Finkelstein: Keine Posaunen vor Jericho. Die historische Wahrheit über die Bibel, dt. München 2002
  2. http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/BildungForschungKultur/Hochschulen/Aktuell,templateId=renderPrint.psml
  3. Textkritische Analysen des Neuen Testamentes findet man auf der Seite für neutastementliche Textkritik der Universität Münster.
  4. Einen Bericht über die Arbeit der Bundestagsstenografen findet man auf der Seite des Deutschen Bundestages, und die Berliner Zeitung veröffentlichte einen Erfahrungsbericht
  5. Man kann das Schreiben eines Romans teilweise lernen; siehe zum Beispiel: James Frey Wie man einen verdammt guten Roman schreibt, deutsch Köln 1993
  6. Über die Techniken des Zeitungmachens informiert die Broschüre von Joachim Blum und Hans-Jürgen Bucher: Die Zeitung: Ein Multimedium, Konstanz 1998
  7. Es böte sich an, von Mythen zu sprechen, aber der Ausdruck Legende ist präziser, weil er sich auf mündliche Traditionen bezieht, die in einer Umgebung aufkommen, die bereits den Umgang mit schriftlichen Texten kennt. Jesus hatte ja als Religionslehrer ein Lehrbuch, die Tora, die Propheten und die Schriften. Aus dieser hebräischen Bibel - allerdings in der griechischen Übersetzung - schöpften auch die ersten Christen, bevor sie sich selbst Basisschriften erschufen.