Echtzeit

Aus ZUM-Unterrichten
Version vom 1. September 2009, 06:59 Uhr von Main>Klaus Dautel (Die Seite wurde neu angelegt: „== Pnina Moed Kass== ==Worum geht's== Der deutsche Schüler Thomas W. (16) will für ein halbes Jahr in einem Kibbuz in Israel als Gärtner arbeiten, so jedenfa…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Pnina Moed Kass

Worum geht's

Der deutsche Schüler Thomas W. (16) will für ein halbes Jahr in einem Kibbuz in Israel als Gärtner arbeiten, so jedenfalls lautet seine Bewerbung, sein zweiter und eigentlicher Beweggrund ist aber der, nach der Vergangenheit seines verschollenen Großvaters zu forschen, von dem die Familie annimmt, dass er in Nazi-Verbrechen verwickelt war. Thomas wird auf dem Flughafen von der ihm zugeteilten Betreuerin Vera B. (19), einer jungen Jüdin aus Russland, abgeholt, im Kibbuz wartet der greise Baruch Ben Tov, ein ehemaliger KZ-Häftling, um Thomas in seine Gärtnergeschäfte einzuweisen. Gleichzeitig bereitet sich der junge Palästinenser Sameh L. auf (s)einen Selbstmordanschlag vor. Dieser ereignet sich dann im dem Bus, mit dem Vera und Thomas vom Flughafen zum Kibbuz unterwegs sind. Viele Menschen sterben, Vera und Thomas überleben schwer verletzt, ebenso der Selbstmordattentäter. An Thomas‘ Stelle führt nun der alte Ben Tov im Holocaust-Archiv Yad Vashem (www.yadvashem.org) die Nachforschungen nach dem Großvater durch.

Kommentar:

Ein Buch, das sehr intensiv wirkt, mehrere (Lebens-)Geschichten ineinander verwebt und die Geschehnisse von drei Tagen in Form von Dialogen und inneren Monologen wiedergibt.

Diese Lebensgeschichten reichen - wie im Falle des Ben Tov - bis in das Dritte Reich zurückreichen oder führen - wie bei Vera - nach Russland. Durch das erzählerische Verfahren der Dialoge und inneren Monologe entsteht eine Vielfalt von Stimmen, die von keiner übergeordneten Perspektive kommentiert werden: der Selbstmordattentäter, sein Anwerber, die Kibbuz-Bewohner und das Krankenhauspersonal kommen gleichwertig zu Wort, die Geschehnissen in den Palästinenser-Gebieten werden von einem amerikanischen Reporter im Stile einer CNN-Live-Schaltung vermittelt. Alles geschieht gleichzeitig und in „Echtzeit“. Diese perspektivische Neutralität, das Kaleidoskop von Stimmen, ermöglicht eine Innenschau in die Handlungsmotive der Selbstmordattentäter und bringt sie dem Leser nahe, ohne sie zu rechtfertigen. Aber auch die israelische Seite wird einsehbar, insbesondere aus der Perspektive eines jungen Soldaten. Das ist die Stärke des Romans. Die Kehrseite ist: Es sind zu viele Stimmen und Personen und Schicksale, alle bleiben dem Leser etwas schuldig, die Lebensgeschichten sind zu komplex, um sie zusammenzuführen oder ihre Leerstellen auszufüllen.

Die Behandlung im Unterricht könnte Gefahr laufen, sich einerseits mit zu vielen Handlungsdetails zu beschäftigen oder sich in der Aufarbeitung von Struktur und Erzählweise zu verlieren. Eine dritte Gefahr ist noch zu erwähnen, nämlich in der Meinungsvielfalt hängen zu bleiben nach dem Motto „Das muss jeder für sich selbst entscheiden.“ Auch wenn die politische Lage im ,Nahen Osten‘ ausgesprochen undurchsichtig und unerfreulich ist, sollte man sich dennoch nicht scheuen, über Alternativen zum militärischen und gewaltorientierten Konfliktlösungsverhalten nachzudenken und um eindeutige Positionen zu ringen.

Wenn man diesen Fallen entgeht, und das dürfte nicht leicht sein, dann bietet der Roman eine Fülle von Erkenntnissen. von Recherche- und Gesprächsanlässen. Empfehlung: ab Klasse 9, am besten in Absprache mit Religion, Ethik und/oder Gemeinschaftskunde.


Siehe auch