Atmosphäre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Unterschied zwischen den Versionen
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Der Detektiv erstarrte. Das Geheimnis war gelöst. Oberst Redl, der höchste Spionagechef der österreichischen Armee, war gleichzeitig gekaufter Spion des russischen Generalstabs. Er hatte nicht nur die Geheimnisse und Aufmarschpläne verkauft, sondern nun wurde schlagartig verständlich, wieso im letzten Jahr alle von ihm gesandten österreichischen Spione in Rußland regelmäßig verhaftet und verurteilt worden waren. Ein wildes Herumtelephonieren begann, bis man schließlich Konrad von Hötzendorf, den Chef des österreichischen Generalstabs, erreichte. Ein Augenzeuge dieser Szene hat mir erzählt, daß er nach den ersten Worten weiß wurde wie ein Tuch. Das Telephon lief weiter in die Hofburg, eine Beratung folgte der andern. Was nun beginnen? Die Polizei ihrerseits hatte inzwischen Vorsorge getroffen, daß Oberst Redl nicht entkommen konnte. Als er das Hotel Klomser wieder verlassen wollte und nur noch dem Portier einen Auftrag gab, trat unauffällig ein Detektiv an ihn heran, hielt ihm das Taschenmesser hin und fragte höflich: »Haben Herr Oberst nicht dieses Taschenmesser im Fiaker vergessen?« In dieser Sekunde wußte Redl, daß er verloren war. Wo er hintrat, sah er die wohlbekannten Gesichter der Geheimpolizisten, die ihn überwachten, und als er zurückkam ins Hotel, folgten ihm zwei Offiziere in sein Zimmer und legten ihm einen Revolver hin. Denn inzwischen war in der Hofburg beschlossen worden, diese für die österreichische Armee so schmachvolle Affäre in unauffälliger Weise zu beenden. Bis zwei Uhr nachts patrouillierten die beiden Offiziere vor Redls Zimmer im Hotel Klomser. Dann erst fiel innen der Revolverschuß. | Der Detektiv erstarrte. Das Geheimnis war gelöst. Oberst Redl, der höchste Spionagechef der österreichischen Armee, war gleichzeitig gekaufter Spion des russischen Generalstabs. Er hatte nicht nur die Geheimnisse und Aufmarschpläne verkauft, sondern nun wurde schlagartig verständlich, wieso im letzten Jahr alle von ihm gesandten österreichischen Spione in Rußland regelmäßig verhaftet und verurteilt worden waren. Ein wildes Herumtelephonieren begann, bis man schließlich Konrad von Hötzendorf, den Chef des österreichischen Generalstabs, erreichte. Ein Augenzeuge dieser Szene hat mir erzählt, daß er nach den ersten Worten weiß wurde wie ein Tuch. Das Telephon lief weiter in die Hofburg, eine Beratung folgte der andern. Was nun beginnen? Die Polizei ihrerseits hatte inzwischen Vorsorge getroffen, daß Oberst Redl nicht entkommen konnte. Als er das Hotel Klomser wieder verlassen wollte und nur noch dem Portier einen Auftrag gab, trat unauffällig ein Detektiv an ihn heran, hielt ihm das Taschenmesser hin und fragte höflich: »Haben Herr Oberst nicht dieses Taschenmesser im Fiaker vergessen?« In dieser Sekunde wußte Redl, daß er verloren war. Wo er hintrat, sah er die wohlbekannten Gesichter der Geheimpolizisten, die ihn überwachten, und als er zurückkam ins Hotel, folgten ihm zwei Offiziere in sein Zimmer und legten ihm einen Revolver hin. Denn inzwischen war in der Hofburg beschlossen worden, diese für die österreichische Armee so schmachvolle Affäre in unauffälliger Weise zu beenden. Bis zwei Uhr nachts patrouillierten die beiden Offiziere vor Redls Zimmer im Hotel Klomser. Dann erst fiel innen der Revolverschuß. | ||
Am nächsten Tage erschien, in den Abendblättern ein kurzer Nekrolog für den wohlverdienten Offizier Oberst Redl, der plötzlich gestorben sei. Aber zu viele Personen waren in die Verfolgung verstrickt gewesen, als daß man das Geheimnis hätte wahren können. Nach und nach erfuhr man überdies Einzelheiten, die psychologisch viel aufklärten. Oberst Redl war, ohne daß einer seiner Vorgesetzten oder Kameraden es wußte, homosexuell veranlagt gewesen und seit Jahren in den Händen von Erpressern, die ihn schließlich zu diesem verzweifelten Ausfluchtsmittel getrieben hatten. Ein Schauer des Entsetzens ging durch die Armee. Alle wußten, daß im Kriegsfall dieser eine Mensch das Leben von Hunderttausenden gekostet hätte und die Monarchie durch ihn an den Rand des Abgrunds geraten wäre; erst in dieser Stunde begriffen wir in Österreich, wie atemnahe wir im vergangenen Jahr dem Weltkrieg schon gewesen.|Stefan Zweig: "[ | Am nächsten Tage erschien, in den Abendblättern ein kurzer Nekrolog für den wohlverdienten Offizier Oberst Redl, der plötzlich gestorben sei. Aber zu viele Personen waren in die Verfolgung verstrickt gewesen, als daß man das Geheimnis hätte wahren können. Nach und nach erfuhr man überdies Einzelheiten, die psychologisch viel aufklärten. Oberst Redl war, ohne daß einer seiner Vorgesetzten oder Kameraden es wußte, homosexuell veranlagt gewesen und seit Jahren in den Händen von Erpressern, die ihn schließlich zu diesem verzweifelten Ausfluchtsmittel getrieben hatten. Ein Schauer des Entsetzens ging durch die Armee. Alle wußten, daß im Kriegsfall dieser eine Mensch das Leben von Hunderttausenden gekostet hätte und die Monarchie durch ihn an den Rand des Abgrunds geraten wäre; erst in dieser Stunde begriffen wir in Österreich, wie atemnahe wir im vergangenen Jahr dem Weltkrieg schon gewesen.|Stefan Zweig: "[https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/weltgest/chap009.html Die Welt von Gestern]"}} | ||
== Eine Filmvorführung in Frankreich == | == Eine Filmvorführung in Frankreich == |
Version vom 9. Februar 2022, 10:16 Uhr
Stefan Zweig hat in seiner Autobiographie "Die Welt von Gestern" drei Ereignisse vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschrieben, die seiner Meinung nach die Atmosphäre in dieser Zeit besonders kennzeichneten.